218 Über Isosthenien (2)
Ich will ein sehr aktuelles Beispiel geben für eine sich gegenwärtig entwickelnde politische Isosthenie und wie man im antiken Rom im Sinne der akademischen Schule, also der Skeptiker, damit umgegangen wäre.
Es geht um die Flüchtlingsfrage. Sollen diese Menschen, die gegenwärtig in einem traurigen Exodus, aus Syrien und anderen selbstmörderischen Staaten her kommend, durch Europa ziehen um eine Bleibe zu finden, soll man sie willkommen heißen oder die Grenzen vor ihnen schließen? Die Waage der Isosthenie hat sich mittlerweile in der Öffentlichkeit in zwei fast gleichwertige Lager gespalten. Die einen sind für die Flüchtlinge, die anderen sind dagegen.
Ich will die in der Diskussion immer meist überzeugenden conträren Argumente – dies jeweils voraus gesetzt und als wahr angenommen – nicht an dieser Stelle aufzählen. Es geht mir nur darum, wie man sich in einer solchen Patt-Situation als Individuum (und nicht als Staatsmann) verhalten soll.
Sextus Empiricus, Systematiker und Sprachrohr der spätrömischen philosophischen Schule der Skeptiker, empfiehlt a) die Entscheidungslosigkeit, das Sich-Enthalten und Nicht-Einmischen.(1) Also keine Entscheidung treffen, weder dafür noch dagegen, sich der Meinung und Festlegung enthalten und abwarten.
Nun geht das selbst im täglichen Alltagsleben nicht, wo immer wieder Entscheidungen getroffen werden, ob wir wollen oder nicht. Denn sonst werden wir entschieden; aus der aktiven Position wird also eine passive, erleidende. Das schildert Sextus in seiner immer währenden Auseinandersetzung mit der stoischen Dogmatik ebenso. Wir sind quasi gezwungen, Stellung zu nehmen. Wir können nicht unschlüssig vor der Waage der Isosthenie stehen bleiben, um schließlich wie Buridans Esel zu verhungern, weil wir bei der Auswahl zwischen zwei Heuhaufen uns nicht zu entscheiden wüssten (2).
Stattdessen plädiert Sextus b) für das Sich-Einfügen in die Tradition, in Zeit und Gesellschaft. Auch in Riten, Gepflogenheiten und Übereinkünfte, selbst wenn sie heterogen sind. Was sagt meine ganz persönliche, individuelle Tradition zu diesem Problem, diesem Tatbestand, meine eigene Erfahrung und die allgemeine Lebensgeschichte meiner Kultur, meiner Gesellschaft?
Als dritten und ebenso wichtigen Punkt nennt Sextus c) die allgemeinen Gesetze, an die man sich zu halten habe und die man achten soll. Was vernünftig ist. Wer will schon mit dem Gesetzt in Konflikt kommen.
Ich denke außerdem, dass das Isosthenie-Problem weniger die sogenannten Entscheider, die Menschen der Praxis betrifft. Dass eher die Menschen der Theorie, des Nachdenkens über wahr und falsch, auch die des Argumentierens betroffen sind.
Dass intellektuelle Entscheidungen sehr wohl abgegrenzt werden müssen auch vom emotionalen Wissen des Körpers: Dass ich genau weiß und gelernt habe, wie ich eigene Schmerzen zum Beispiel verhindern kann und so fort.
Doch schon bildet sich wieder eine neue Isosthenie in dieser Waage des Abwägens und der Entscheidungslosigkeit: Das Gegenteil zu dem jetzt gerade Geschriebenen kann ebenso wahr und ebenso lebensnotwendig sein.
Willkommen also in der bunten Welt von Chaos, Widerspruch, Heterogenität und Vielfalt!
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1 Auch Epikur, der Begründer einer Philosophie der Freude und des guten Lebens, hat das Sich-nicht-Einmischen empfohlen. Lebe im Verborgenen, lautet einer seiner Hauptsätze. Meide vor allem die Politik. Versammele einen Kreis gleichgesinnter Freunde um dich herum in schöner Umgebung, weit ab vom Alltagsgetöse dieser Welt. Epikur empfiehlt die Freude und gerade nicht die Lust als Lebenselixier.
Trivial ausgedrückt: Gespräche unter Freunden sind bedeutend anstrebenswerter als sexuelle Handlungen. Epikurs Antithese war in Athen Aristipp, welcher ein Leben für die Lust propagierte. Von Antisthenes hingegen ist der Satz überliefert: Lieber wahnsinnig werden als Lust zu empfinden.
2 Es gibt in der Verhaltenstheorie eine dem oben vorgetragenen Gedankengang conträre Erfahrung. In einem Experiment mit Affen konnten diese im Lustzentrum ihres Gehirns sowohl den Bereich für die sexuelle Lust (Arterhaltung) als auch den Belohnungsbereich für die Ernährung, die Lust am Essen, selbständig und frei stimulieren (Selbsterhaltung). Mit dem Ergebnis (angeblich), dass sich alle Tiere für die Arterhaltung entschieden haben und schließlich sogar den Hungertod eher in Kauf genommen hätten, als auf die sexuelle Lust zu verzichten.