234 Über Romantik
Mein neues künstlerisches Thema, welches auch die Musik betrifft (Arbeitstitel „Mendelssohn-Fragmente“), wird die romantische Sehnsucht sein. Es steht entgegen gesetzt vielleicht zu dem, was Marianne Pape gegenwärtig plant mit ihren Samenkörnern, dem Zeugen, Wachsen, Weiterführen von Leben in seiner ganzen Kraft, Schönheit und Vielfalt. Ich meine damit die Sehnsucht nach der Befriedigung eines Wunsches, eines Begehrens, das jedoch niemals an ein Ende kommen, das niemals befriedigt werden kann. Wie wenn diese Sehnsucht und mit ihr all unsere Träume nur Illusionen, eine Fata Morgana quasi wären.
Warum? – Sehnsucht und Befriedigung sind Ableitungen des Lebens. Sie wollen immer wieder mehr, suchen neue Befriedigung, Steigerung und immer wieder neue Steigerung. Jede Befriedigung schließt dergestalt notwendig Unvollkommenheit und Imperfektion ein, die zum Leben gehören wie das Gegenteil auch. Nicht unbedingt jetzt im Sinne eines Scheiterns, sondern im Sinne eines nicht an ein Ende-kommen-Können (Vgl. im Blog die Nr. 231 über Schottland und die Nr. 216 über Imperfektion).
Das Leben ist dergestalt eine Ruine, ein Auf und Ab, Kommen und Gehen, ave atque vale, ein zu Ende-Führen, Anfangen, Abbrechen und wieder Neu- Beginnen. Ein Kreis, aus dem wir vergeblich heraus zu springen versuchen. In einem Kreis sind Anfang und Ende nämlich gleich.
In der Ruine spiegelt sich dergestalt Leben und Leiden mit seinen Quellen, Wurzeln und Zielen, seinem Finale. Es gibt den Anfang und es gibt das Ende. Es gibt die Vervollkommnung und es gibt Abstieg, Zusammenbruch, Verschwinden. Und es gibt das in der Mitte Abbrechen, welches das freiwillige Nicht-Vollenden bedeutet. Nicht das Ende, sondern nur das Abbrechen irgendwo in der Mitte, auch am Anfang oder kurz vor dem Ende. In der Ruine spiegelt sich also das Leben in seiner Dynamik, Abwechslung, Begrenzt- und Unvollkommenheit.
Wir sind damit beim Thema Romantik angekommen. Das Thema der Romantiker war die Sehnsucht, das Träumen. Und eben das war genug. Das ist das Neue, das Erstaunliche. Nicht die Erfüllung von Sehnsucht und Traum, sondern sogar das Wissen um die Unmöglichkeit, diese Träume zu realisieren in ihrer Vollkommenheit oder eine Sehnsucht immer und schnell befriedigen zu können. Also begnügte man sich mit dem halb Fertigen, dem Abbrechen, der Ruine. Die Ruine ist dergestalt zum eigentlichen Wahrzeichen der Romantik geworden.
Als weiteres Zeichen für die Sehnsucht haben die Romantiker die “Blaue Blume” im Traum, in der Poesie ge/erfunden und gesucht, wohl wissend, dass sie diese niemals finden werden können. Es gibt keine “Blaue Blume“, ebenso wie es den Märchen-Prinzen und seine Märchen-Prinzessin nicht gibt.
Auch meine, auch allgemein unsere Sehnsucht sucht eine solche Blaue Blume; ich kann mich fast nicht ernst nehmen mit dieser trivialen Formulierung. Sie richtet sich auf so vieles: auf Glück, Liebe, Erfolg, Gesundheit, Jugend… “das Land der Unbeschwertheit, Klugheit, des Sprechenkönnens und der Leidenschaft”…heißt es in einem meiner Rimbaud-Fragmente(1). Vielleicht hatte man sogar Angst vor einem Realwerden von Sehnsucht und Traum. Man wollte den Zusammenprall mit der Realität, der Wirklichkeit, der eigenen Existenz vermeiden. Auch in Philosophie und Politik gehen Theorie und Praxis (oder auch Wollen und Können im alltäglichen Leben) oft weit auseinander. Ganz zu schweigen von dem, was die Psychologen sagen.
Sehr schnell haben die Romantiker dann auch erkannt: Ich bin eine Ruine, ich selbst bin diese Ruine der Sehnsucht, des Verfalls, der Unvollkommenheit und der Traumwelten. Das Ich stellt sich mit dem Selbst und seiner Rationalität („Vernunft”) unbarmherzig dem Träumen in den Weg. Sigmund Freud hat im Anschluss an Nietzsche dieses Ich dann sehr schnell und intensiv entdeckt, analysiert in seiner ambivalenten Vielfalt und Chaotik.
Eine große und einflussreiche Weltkultur lehnt außerdem ganz antagonistisch jede Sehnsucht und das Träumen vollkommen ab: der Buddhismus. Schopenhauer als sein philosophischer erster Vertreter im Abendland definiert deshalb ebenfalls das Begehren als bestimmende Ursache von Leiden; jedes Begehren bildet ein weiteres Begehren, jede Befriedigung sucht neue Befriedigung, neue Anregung und Steigerung. Nietzsche, der Schopenhauer-Schüler, formulierte in seinem Zarathustra sogar: Jede Lust will Ewigkeit, tiefe, tiefe Ewigkeit. Das Wissen um die Negativität des Begehrens führte schließlich in der Kunst-und Kulturgeschichte Mitte des 19.Jahrhunderts zu einem kalt-nüchternen Realismus, der in seinem übertriebenen Extremum sogar als Naturalismus benannt worden ist.
Und wo stehen wir jetzt? – Ich denke, wir stehen jetzt wieder überall: In der Realität und Hyperrealität (Baudrillard), in der Flucht vor der Realität, in der Hoffnung, der Esoterik, in Enttäuschung und Frustration, Sublimation und Ersatz, im Traum. Im Traum von einen gelingenden Leben mit Menschen, die wir verstehen und umgekehrt. Die uns akzeptieren in unserer Eigenart und die wir akzeptieren in ihrer Eigenart. Denn das ist meines Erachtens eine der wichtigsten Voraussetzungen für ein gelingendes Leben, eine gelingende menschliche Beziehung: Dass man das Gegenüber in seiner Eigenart und Eigentümlichkeit akzeptiert, toleriert, schon sehr früh auch ertragen lernt. Dass man sich dessen bewusst bleiben muss, dass diese Differenz, die es auszuhalten gilt, interessant, informativ, spannend ist und lebendig werden lässt, lebendig hält. Und dass gerade sie keine Ruine verursacht oder hinterlässt.
In der Verlobungszeit vor der Hochzeit mit meiner jetzigen Ehefrau habe ich mir bei Auseinandersetzungen immer wieder gesagt: Ich muss diese Frau kennenlernen, wenn sie unausstehlich ist. Wenn ich sie dann immer noch liebe und aushalte, werde ich sie heiraten. – So ist es gekommen. Und unausstehlicher als vor der Heirat ist meine Frau, sind wir beide nie mehr wieder geworden.
1 Reinhold Urmetzer, Prosagedichte 2015 (Rimbaud-Fragmente)