135 Über Solipsismus (3)
Der Solipsismus hat eine lange Tradition. In der Antike, vor allem in Rom, war er in Form der stoischen Philosophie die führende intellektuelle Schule der Zeit.
Der Stoiker ist, so in einer leicht karikierenden Beschreibung von Lukian, „die Tugend selbst“. „Er ist, kann und weiß alles allein: Er ist allein weise, allein schön, allein gerecht tapfer klug, ein Redner, Gesetzgeber, König allein“ und so fort. Er will auf niemanden anderen angewiesen sein als auf sich selbst.
Das Christentum ist dergestalt seit seinem Beginn im römischen Weltreich eine direkte Antithese dazu: Gerade das Zusammenhalten, die Nächstenliebe und das Miteinander unter Gleichberechtigten (auch Frauen, auch Sklaven dürfen Menschen sein) fördert und propagiert das Christentum bis in die Gegenwart hinein.
Weitere Vorstufen des gegenwärtigen Solipsismus gibt es im französischen Existenzialismus, insbesondere bei Camus, der ebenfalls Einsamkeit und Fremdheit, das Alleinsein, das Alleinsein-Müssen, Alleine-Sterben immer wieder betont.
Im positiven Sinne unterstützt der Solipsismus demgegenüber sehr den Individualismus, wie ihn die liberalen Parteien der Gegenwart als Freiheit des Einzelnen gegen das Allgemeine und Kollektive auf ihre Fahnen geschrieben haben.
Während in diesem Zusammenhang – die Nähe zu den negativen Dialektikern wie Horkheimer, Marcuse oder Adorno ist offensichtlich – auch das Nein-sagen-Können, Nein-sagen-Dürfen als ein wesentliches Kriterium des Individualismus mit angesehen wird, unterscheidet sich der Existenzialismus davon dadurch, dass das Alleinsein eher negativ als Fremdheit der Menschen untereinander, als Qual und Last angesehen wird.
Eine weitere Vorstufe des Solipsismus ist in der Vorkriegs-Philosophie bei Ludwig Wittgenstein zu finden, der ebenfalls das Alleinsein in der Sprache, in der Lebensform, auch das Andersartigsein immer wieder betont hat mit allen sozialen Konsequenzen, die bis in die aktuellen Multi-Kulti-Diskussionen hinein reichen (wie kompatibel sind christliche und muslimische Sprachspiele und Lebensformen überhaupt). Auch ethnologische und ethnografische Forschungen unter den Naturvölkern unterstützen den Solipsismus: Jeder lebt und denkt und spricht in seiner eigenen Welt, das ist auch immer wieder: in einer anderen Welt.
Gegenwärtig ist der Solipsismus mit seinem ausgeprägten Individualismus, ja Subjektivismus sehr in der postmodernen Philosophie präsent. Lyotard etwa mochte z.B. die so aufmüpfigen und individuellen Sophisten in der griechischen Polis ganz besonders gern, nicht die Dogmatiker im Sinne von Platon, Aristoteles oder anderen. Man wehrte sich sehr heftig in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts gegen den allgemein auferzwungenen Kollektivismus, wie ihn der Sozialismus und die so genannten kommunistischen Staaten eingeführt hatten, zum Beispiel in der Landwirtschaftslehre mit ihren Verstaatlichungen. Das Jahr 1989 und die Implosion dieser Staatsmodelle standen bevor, ohne jedoch überzeugende neue Alternativen anbieten zu können. Gegenwärtig (2021) dominiert seitdem und weiterhin ein aggressiver Ökonomismus, der Fremdheit und Fremdbestimmung noch mehr unterstützt. Die Allmacht von Geld und materiellem Denken hat sich zumindest vorläufig durchgesetzt.
Die vielen mit Kopfhörern zugestöpselten jüngeren Zeitgenossen – was bedeuten sie nichts anderes als das solipsistische Abgewendetsein von ihren Mitmenschen? Lasst mich in Ruhe. Ihr interessiert mich nicht. Ich interessiere mich nur für mich selbst. Und meinen materiellen Erfolg, muss man wohl noch hinzufügen. Kein Blick, keine Neugierde, geschweige denn Kontakt oder Kommunikation werden gewünscht, werden möglich.
Ich denke, diese verstöpselten Menschen der Gegenwart in den Bahnen, Cafés und auf den Straßen oder Plätzen unserer Städte künden tatsächlich, um einen Begriff von Jean Baudrillard zu benutzen, von der Ekstase des Solipsismus, wie er schon damit beginnt, obszön zu werden.
Als Lebensform wird er m.E., um auf meine beiden letzten Blogeinträge über „Solipsismus und Glück“ zurück zu kommen, zukünftig im Zusammenleben mit Robotern und menschlichen Klonen noch aktueller werden. Bei Menschen, die schon jetzt nicht mehr aus ihren selbst gewählten Gefängnissen heraus können, ist er die herrschende Philosophie der Resignation, vielleicht auch der Verzweiflung.
Demnächst: Philosophische Schulen und die Suche nach Sinn im antiken Rom.