193 Wieder gelesen: Cusanus
Über Gott (3)
Vielleicht hängt es mit der Winter-und Weihnachtszeit zusammen, dass man wieder sich um Gott kümmert. Der Cusanus-Aufsatz (Blog Nummer 65) ist jetzt von mehreren Personen an einem Tag gleichzeitig angeklickt worden. Es geht darin um die dialektische Wahrnehmung unserer Welt. Cusanus ist kein Chaosdenker – dialektisches Denken ist etwas anderes als das Denken in Isosthenien. Er stellt jedoch ebenfalls überall Widersprüche und Inkommensurabilitäten fest.
Im Pluriversum der Weltanschauungen, Sprachen, Werte und Menschen muss es nach Cusanus permanent zu Gegensätzen kommen, die sich scheinbar gegeneinander ausschließen. Kann es, so fragt er nach seinem Besuch in Konstantinopel, eine Übereinstimmung zwischen Islam und Christentum geben? Ja, antwortet er überraschender Weise. Zwischen ost- und weströmischem Reich? Ja. – Zwischen den scholastischen Systemen des Nominalismus und Realismus? Ja! – Und so fort. Wir sind im Jahre 1438, kurz vor dem Untergang dieser Welthauptstadt und dem Ende des oströmischen Reiches.
Bei Cusanus fallen die Gegensätze sogar zusammen, und zwar im Unendlichen, in Gott. Ebenso wie sich zwei parallele Geraden der Mathematik im Unendlichen schneiden, so heben sich Grenzen und Abgrenzungen der logischen oder auch weltanschaulichen Kontradiktionen auf, verschmelzen miteinander, werden deckungsgleich.
Alles in unserer Welt und unüberschaubaren Vielheit, die sich immer weiter entwickelt bis ins positive, bis ins negative Unendliche hinein, ist voller Gegensätzlichkeit.
Um die Wahrheit der Gegensätze, auch in ihrer Isosthenie, begreifen zu können, muss man mystisch werden, das heißt „über alle Vernunft und Erkenntnis hinausgehen“ und sich einem wissenden Unwissen beugen. “Sich selber verlassend muss man sich der Dunkelheit anvertrauen“, verlangt Cusanus. Dort, in dieser Dunkelheit, die sogar der platonischen Sonne entgegengesetzt scheint, fallen die Gegensätze zusammen (coincidentia oppositorum), und dort ist Gott. Nicht also im platonischen oder aristotelischen Licht der Gelehrten und Wissenden, sondern im Wissen der Nichtwissenheit (docta ignoriantia) erfahren wir Gott.
Das Zusammenfallen der Gegensätze von Sein und Nicht-Sein ist bei Cusanus eine „dichte Dunkelheit des Unmöglichen“. Aber diese Unmöglichkeit ist eine Notwendigkeit, sogar eine „wahre Notwendigkeit“. Und sie bildet keinen Widerspruch zur Unmöglichkeit, sondern sie ist wahr, möglich, sogar notwendig. Ein Lehrsatz aus der Mathematik besagt, dass im Unendlichen die Grenzen sich aufheben und zusammenfallen. Wenn wir zum Beispiel ein Quadrat zum Fünfeck, Sechseck und so weiter werden lassen bis zum n-Eck, so dass n immer größer wird, dann nähert sich das n-Eck immer mehr dem Kreis, und wenn n unendlich ist, fällt es damit zusammen.
So ist es mit den Gegensätzen, die sich wie alles in unserer Welt aus einer Einheit heraus entwickelt haben. In Gott ist anfänglich alles in Einheit zusammen g e f a l t e t , was in unserer Welt schließlich in Vielheit und Verschiedenheit auseinander gefaltet, „entfaltet“ wird. In Gott ist alles noch eins (die heilige 1 bei Platon und Pythagoras), erst nach dem Hervorgehen aus der Einheit treten die Dinge auseinander und zueinander in Gegensätzen. Als Beispiel nennt Cusanus die Zahl 1, aus welcher sich schließlich alle Zahlen nach 1 heraus entwickeln (und nicht aus 0, denn aus Nichts wird Nichts, nihil ex nihilo).
Cusanus schreibt: “Wenn der Geist nicht mehr mit dem Erkenntnisstreben beschäftigt ist, dann steht er im Schatten des Nichtwissens, also in der Dunkelheit. Aber hier ist Gott, den man sucht”. Die Dunkelheit sei bereits ein Zeichen dafür, dass der Sonnen-Sucher im Sinne von Platons Höhlengleichnis auf dem richtigen Weg sei.
Nach Cusanus kann diese mystische Dunkelheit dann gefunden werden, wenn man vom Gottesbegriff alle Eigenschaften abzieht, ihn also nicht positiv zu bestimmen, zu definieren, zu erklären sucht. Auf diese Weise begegnet der Suchende zwar „eher einem Nichts als einem Etwas“. Dennoch sei man weiter als mit einer positiven Bestimmung (Affirmation) Gottes:
„Wenn man Gott auf dem Weg der Bejahung seiner Eigenschaften sucht, findet man ihn nur gemäß menschlicher Vorstellung und (somit) verhüllt, keineswegs unverhüllt“. Eine solche Gottes-Definition ist dem menschlichen Urteilsvermögen, mithin jener Relativität der Erkenntnis ausgeliefert, die immer wieder nur ein Ergebnis hat: Gott als eine alte und falsche Vorstellung oder auch Definition ist tot (und dabei werden meist neue Götter in die Welt gesetzt).
Nun gibt es aber auch hier den Zusammenfall der Gegensätze. Cusanus beruft sich auf Dionysius Areopagita: der Weg der Bejahung wie der Verneinung Gottes im Sinne einer negativen Theologie führe schließlich zur völligen „Vereinigung und Deckung“ – mithin zurück wieder zu einer “allereinfachsten Einheit“.
Gott steht dann sowohl über jeder negativen wie affirmativen Theologie, über jeder Vielheit mit ihren Gegensätzen und Wahrheiten, die er gleichwohl hat entstehen, sich hat “entfalten” lassen.