216 Über Imperfektion
Die Kathedrale in Batalha (Portugal)/Antwort auf meinen Tweet von 9.Mai 2016(Twitter)
Mit der postmodernen Imperfektion meine ich Folgendes:
Dass man die Perfektion auch bis zu einem krank machenden Perfektionismus übertreiben kann, der nach Freud seine Ursache nicht zuletzt in der Zwangs-Neurose hat. Perfektionismus kann lähmen, so stark, dass gar nichts mehr geht oder zustande kommt.
Die unvollendet-ruinösen Kapellen an der gotischen Kathedrale in Batalha sind mir deshalb in ihrer Unvollkommenheit so sympathisch. Man begnügte sich im 16.Jahrhundert mit einer prächtigen und doch so unvollkommenen gotischen Kirche. Ganz undenkbar in Deutschland. Eher hätte man wohl noch den fertigen Teil wieder abgerissen, als ein solches Zeichen von Schwäche zugelassen.
Das war und ist die Moderne: das Streben nach Vollkommenheit, Perfektion, Vollendung. Das ist auch manchmal der deutsche Charakter. Dazu gehören nicht zuletzt Disziplin und Selbst-Kasteiung, also Lustfeindlichkeit. Die preußisch-protstantische Kastration.(Entschuldigung)
Aber auch jetzt entwickelt sich wieder eine Isostenie. Das Gute, in diesem Fall die Perfektion, enthält in sich das Schlechte manchmal bis zur Gleichwertigkeit. Unser Maschinenbau, das abstrakte Denken der Deutschen, die effiziente Staatsbürokratie. Wie werden wir infolge dieser Tüchtigkeiten doch von so vielen Ländern der Welt bewundert, beneidet. Ja, tüchtig sein und sogar Todesmaschinen (Gaskammern) in der Nähe von Stuttgart erfinden und diese dann unter den Nazis in Ausschwitz ausprobieren lassen. Das ist die Kehrseite der Medaille. Das gehört auch dazu. Perfekte Autos wie Daimler und Porsche, gute Maschinen von Bosch und interessante Gedanken von Hegel bis zur Waldorf-Pädagogik zu entwickeln gehören dazu. Aber das andere, die Schattenseite, auch.
Im Guten kann auch das Schlechte gleichzeitig sich entwickeln.
Was tun? – Großzügig und geduldig bleiben im Umgang mit dem Perfekten wie Unperfekten. Nicht alles mitmachen aus Pflichttreue. An die gotische Kathedrale von Batalhia denken, die gerade wegen ihrer Imperfektion, ihrer Unvollkommenheit ganz besonders schön und wertvoll ist. Und sie taugt gerade nicht zu einem romantischen Traum, der sich an Ruinen aufgeilt.
Wo gibt es etwas Ähnliches in unserer Nähe? Geht zur Stuttgarter Staatsgalerie! Betrachtet dort die herausgefallenen Steine an der Mauer zur Bundesstraße 14, diese beiden großen Löcher, die in die Auto-Tiefgarage hineingebaut sind. Sie brechen die Perfektion dieser schönen, der römischen Antike nachempfundenen Wand. Die Tür in der Mitte, das seltsame offene Tor, ist im altägyptischen Stil gebaut. Dort führte diese Tür jedoch in die Unterwelt, ins Reich der Toten. Ein bewusst inszenierter wunderbarer Joke des englischen Baumeisters James Sterling mit ironischem Lächeln.
Alles an diesem Stuttgarter Gebäude ist dergestalt aufgeladen mit Erinnerungen und Zitaten. Postmoderne Kunst eben für die Wissenden und Suchenden. Die das Interpretieren lieben wie das Leben. Weil das Leben Interpretation braucht. Weil die Interpretation näher an das Leben heran führt und sich von Oberflächen nicht ablenken, blenden oder verführen lässt.
Für Claudius Homolka, dem Architekten, welchem ich mein Wissen über amerikanische Architektur und die Stuttgarter Staatsgalerie verdanke.
Googeln: Homolka/Urmetzer, Opus Mixtum – Die Neue Staatsgalerie in Stuttgart (erschienen erstmals in der NZ)