291 Novellen zur Zeit (1)
An diesem Abend
Der Sommer war traurig, voller Nachdenklichkeit und Sorge. Wir hatten ein Abendessen geplant im Garten unseres Landhauses und dann ist es zu dieser hässlichen Auseinandersetzung gekommen. Ich weiß nicht, warum du dich mit ihr und ihnen nicht verstehst. Warum ihr beide immer so aufeinander los geht und heftig werden müsst. Als wenn eine Eifersucht im Spiel wäre, wo sie doch, wie wenn es deine Rivalin wäre, fest gebunden scheint an ihn und seine Geliebte. – Sind vielleicht die Kinder ein Hinderungsgrund? Mag sein. Sie sind nicht einfach und in einem Alter, wo alles geht. Du wirst sie vermissen, denke ich, wo sie doch zu dir gehören. Aber dass du so zusammen gebrochen bist an diesem Abend hat mich erschreckt, ja erschüttert, zumal ich dich noch nie in dieser Art erlebt habe und deine warnenden Worte doch voller Glanz, Wärme und Eindringlichkeit waren.
Du hattest dein schönes rotes Kleid an und verführerisch wie immer wolltest du die Nacht aufleuchten lassen in uns allen. Doch was ist es für eine Nacht geworden! Der Sommer war fast vorbei, und eine Traurigkeit, ja Schwermut legte sich plötzlich auf mich, die mich zu erdrücken schien. Alles war wieder so vergeblich und abgründig und fremd geworden! – Was sind Lebensabschnittsgefährten, was heißt Nebenbeziehung? Was ist mit virtueller Beziehung gemeint? Stimmt es, dass ein einziger Mensch nicht alle Belange in einer Zweierbeziehung abdecken kann? Dass wir auch andere Einflüsse, Menschen und Lebensverhältnisse einfordern dürfen, dass sie nicht immer und für alles gerade stehen oder verfügbar sein müssen?
Du hast mit einer Antwort gezögert, als ich dich nach deinem Mann fragte, was er mache, wo er lebt, wie fühlt er sich in seinem neuen Job. Sein Sohn hat mit einer jugendlichen Freundin gerade ein Kind bekommen. O.k., die Mutter hat nichts mehr von ihrer Tochter wissen wollen, hat sie verstoßen wegen einer neuen Beziehung, die sie kennen und lieben gelernt hat und diese jetzt im Gefängnis heiraten wird. Sich dazu mit einer Frau zu verbinden fällt leicht, umso leichter wird auch der Hass auf den Ehemann sein, weil er sie bei dem Prozess im Stich gelassen hat.
Ich erinnere mich noch gut an das Fest mit ihr damals, wo eine russisch sprechende Frau sogar von zwei Männern gleichzeitig geliebt, umworben und uns auch so vorgestellt worden ist. Mit dem einen Geliebten hatte sie eine zehnjährige Tochter, mit dem anderen war gerade ein kleiner Junge unterwegs. Dass auch die beiden Männer miteinander verbunden waren, war mir nicht so klar. Neuartig wirkte es jedoch auf mich, zumal auch keine Eifersucht im Spiel zu stehen schien. Ebenso seltsam war, dass alles von allen an diesem Abend mit einer großen Gleichmut und Unaufgeregtheit ertragen worden ist. Selbst ich habe mich nicht mehr gewundert.
Dann tönte wieder diese traurige Musik aus dem Lautsprecher der Musikanlage(1). Wir hielten inne in unseren Gesprächen und warteten. Yvonne war angekommen und sie war noch schöner als je zuvor. Wegen eines jungen Geliebten, der sie nur lange genug hatte umwerben müssen, hatte sie ihren Mann verlassen, dessen Kontakte mit L. mir immer schon seltsam genug vorgekommen sind. Ich blickte sie an und unsere Augen trafen sich einen Augenblick lang, wie wenn es etwas zu sagen, etwas zu besprechen geben würde. Ich erinnere mich noch sehr gut daran. Auch sie hatte sich fein gemacht mit ihrem langen Kleid, das ich noch nicht kannte. Sie führte uns ins Haus, setzte sich an den Flügel und spielte diese Komposition von dir mit einer Akkuratesse und Leichtigkeit, wie ich sie noch nie vorher gehört hatte(2). Wir applaudierten stürmisch.
Doch was für eine Schwermut, was für eine tänzerische Kraft steckte in dieser Musik! Vielleicht hat sie gerade an diesem Abend zu meiner Stimmung in diesem Augenblick genau gepasst. Wie wir alle gefangen sind in einem Bann, der uns aufrecht hält und nährt und mit einer grausamen Härte den Weg weist. Der uns mit seiner schweren Leichtigkeit dazu aufruft, weg zu gehen, weg zu fahren, weg zu laufen wer weiß wohin. Laufen, springen, fliege davon, blick‘ nicht zurück, heißt es doch auch in einem deiner Gedichte.
Wir schauten auf den Vulkan in dem großen Bild von Régis Frank, das du hinter dem Klavierflügel an der Wand hast aufhängen lassen. Der Vulkan leuchtete in die Nacht, und wie vor einem Ausbruch glänzte die ganze Vegetation, die Umgebung, die Erde. Alles, was schön war um uns herum auf diesem Fest und in dieser Nacht, leuchtete plötzlich wie in einer Verzauberung auf. Auch deine Worte, die du an uns wieder gerichtet hast – wie schön, geschmeidig und kunstvoll waren sie, als wenn sie alles hätten verbergen wollen und können, was an diesem Abend und in dieser Nacht nicht hatte ausgesprochen werden können.
1 Lana del Rey, Summertime Sadness
2 La Follia – Tanzmusik für Klavier