Den Garten bestellen

Ein Interview mit Reinhold Urmetzer

Frage: Wann ist Ihrer Meinung nach das letzte Mal eine Ästhetik im deutschsprachigen Raum erschienen?

Antwort: Ich denke, das liegt schon einige Jährchen zurück. Unserer Zeit ist es im Augenblick nicht danach, Ästhetiken zu konzipieren, geschweige denn sie zu studieren.

Obwohl doch gerade gegenwärtig so viel Wert auf Gestaltung und Design gelegt wird.

Gestaltung und Design sind nur Ableitungen zweiten Grades. Mit Ästhetik in meinem Sinn haben sie weniger zu tun. Eher schon mit Merkantilismus und Geldverdienen.

Sie kümmern sich also um eine aussterbende philosophische Gattung?

Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Die Fähigkeit zu philosophischem Denken geht jedenfalls erschreckend zurück.

Ist Ihre „Ästhetik“ in drei Büchern –Photobuch“, „Kunstbuch“, „Musikbuch“ – ein Lehrbuch, wie man gute Kunst, vielleicht sogar „schöne Kunst“ machen soll?

Das „soll“ gefällt mir in Ihrer Frage am wenigsten. Es sind keine normativen Bücher. Meine ästhetischen Maximen oder Vorstellungen wird man deshalb auch nur implizit, das heißt indirekt erkennen. Die Art des Schreibens, die Struktur der Bücher entfalten zwar meine Vorstellungen von einer zeitgemäßen Kunst und Kunstvermittlung. Es gibt aber nur sehr wenig Sätze, die mit „Du musst, Du darfst, Du sollst…“ beginnen.

Könnte man sagen, Sie dekonstruieren die traditionelle Definition von Ästhetik, also die Lehre von Sinn und Zweck der Kunst, die Lehre von der sinnlichen Erkenntnis, vom Schönen?

In einem gewissen Sinne ja. Das Prinzip der Heterogenität durchzieht alle drei Bände. Heterogenität, das bedeutet die Vielfalt unserer Sprachspiele, Lebensformen, unseres Denkens angesichts einer immer schneller sich ausbreitenden Weltkultur samt ihrer Dissonanzen. Wir sind in einem neuen alten Zeitalter der Entdeckungen, Begegnungen, des Aufbruchs. Das bedeutet auch ein Zeitalter der Konfrontation und Konfusion.

Man hat Ihnen vorgeworfen, Ihre Theorie wäre eine Kapitulation vor der Ästhetik des multikulturellen Zusammenlebens.

Ich weiß nicht, ob man in meinem Fall überhaupt von einer Theorie sprechen kann. Manche Philosophen würden eher von einer „Erzählung“, neumodisch von einem „Narrativ“, einer Fiktion sprechen, auch wenn dies nicht ganz korrekt ist. „Multi-Kulti“ klingt mittlerweile ziemlich abwertend und negativ. Ich rede lieber vom Pluriversum. Jeder lebt in seiner eigenen Welt, das ist auch in einer anderen Welt.

Wie es Biotope in der Naturwelt gibt, so scheint es auch „Soziotope“ in der menschlichen Gesellschaft und ihren Lebensformen zu geben. Sie stehen sich fremd und voller Nichtverstehen oder Nichtverstehenwollen gegenüber. Manchmal bekämpfen sie sich sogar bis zur Ausrottung. Im Soziotop kennen wir uns aus, verstehen uns vielleicht sogar. Aber die Schnittmenge mit den anderen Bereichen der Lebenswelt wird immer geringer.

Was interessiert Sie so sehr daran?

Das Fremde im Bekannten interessiert mich. Ich denke, selbst die nächste Nähe ist immer noch Fremdheit genug auch im Falle von Verstehen oder sogar Übereinstimmung. Das Heterogene ist das Fremde, das Fremde ist das Faszinierende, aber gleichzeitig macht es uns Angst. In meiner Ästhetik suche oder betrachte ich bewusst das größte Fremde, nämlich die Gegensätzlichkeit.

Das klingt nach Dialektik. Ist dieser Ansatz der neo-marxistischen Tradition der 70er Jahre verpflichtet? Als Schüler von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas haben Sie sich ja lange mit der Frankfurter Schule beschäftigt.

Ich denke eher, er liegt in der Tradition des Existenzialismus begründet, auch wenn der Ansatz das Ich und seine Freiheit, seine Möglichkeit zur Selbstbestimmung und Selbstverantwortung weniger betont; eher im Gegenteil.

Nämlich?

Die Kapitulation wird betont. Das Fremde als das unverständliche Fremde zu akzeptieren. Auch zu tolerieren, sofern es nicht meine Lebenskreise stört. Ich sage „stört“ und nicht „berührt“. Denn hier haben wir die Schnittstelle unserer gegenwärtigen sozialen Auseinandersetzungen und politischen Krisen, auch des so genannten Zusammenpralls der Kulturen.

In Ihren drei Büchern gibt es immer wieder „fremde“, das heißt auch eher hermetische Stellen, die nur sehr schwer zugänglich oder entschlüsselbar sind. Sind dies Beispiele für das ganz Andere, für das „fremde Denken“? Auch im Sinne eines „wilden Denkens“ von Lévi-Strauss?

Eher das Denken des Fremden oder Wilden, nicht das fremde oder wilde Denken. Denn mit einiger Anstrengung wird man diese Stellen doch auch entschlüsseln können. Überhaupt geht es mir bei der „Überkomplexität“ mancher Stellen, wie ich sie lieber benennen würde, um das Denken. Philosophie ist nach Aristoteles das „Denken des Denkens“, das „Denken denken“. Dies setzt auch das Denken zu üben voraus.

Unsere Alltagssprache wird immer banaler. Sehen Sie sich den Zeitungsjargon an oder die Sprache anderer Medien. Hypotaktische Satzbildungen, also ein Nebensatz im Nebensatz, können oft schon gar nicht mehr verstanden werden, man bemüht sich nicht mehr darum, also werden solche Sätze oder Sprachen auch gar nicht mehr produziert von den Schreibern.

Wie können dann die zahlreichen und wertvollen Dokumente des Denkens der Vergangenheit überhaupt noch verstanden, auch überliefert werden?

Es gibt überzeitliche Probleme, mit denen sich andere Zeiten und Zeitalter bereits ebenfalls auseinandergesetzt haben, und es gibt auch überzeitliche Lösungsversuche, die heute noch diskutabel sind. Nur werden die nicht mehr verstanden. Wir brauchen Übersetzungen auch im Sinne von Interpretationen.  Also sind wir solchen klugen Menschen  ausgeliefert, etwa Hegel und Marx, Thomas von Aquin oder Heidegger. Sie alle haben ihren eigenen Blick auf die Vergangenheit, ihre eigene Interpretation. Deshalb bin ich dafür, dass man sich den Originalen, den Quellen wieder zuwendet, das heißt mittlerweile auch dem Original-Marx oder Original-Heidegger. Sich mit dieser Art von „Überkomplexität“ auseinanderzusetzen kann m.E. sehr fruchtbar und nutzbringend sein. Und nicht nur als eine Übung im Denken oder Sprachenverstehen.

Ein guter Beginn ist übrigens die „Rechtsphilosophie“ von Hegel.

Hegel spricht aber nicht hermetisch.

An manchen Stellen schon. Beißen Sie sich doch einmal durch seine „Logik“ hindurch. Danach sehen sie die Welt mit anderen Augen.

Man wirft den postmodernen Schriftstellern vor, sie wilderten in einem Steinbruch der Unübersichtlichkeiten, sie zitierten aus der Vergangenheit, mischten Gattungen und Stile durcheinander, ein Sammelsurium der Gegensätzlichkeiten, der Beliebigkeiten, der Unterschiedlichkeiten käme dabei heraus, ein Chaos also.

Für mich ist das Chaos positiv. Man muss nur richtig  w ä h l e n . Im Chaos stecken viele positive Ansätze, die nutzbar gemacht werden können oder auch müssen. Im Chaos steckt natürlich auch Gefährliches, Zerstörerisches, Sprengkraft. Auf jeden Fall ist Chaos ein Zustand der Unsicherheit.

Gibt es auch in Ihrem Werk „Zustände der Unsicherheit“?

Natürlich. Der Schluss etwa im „Kunstbuch“, ein Vortrag, den ich im Stuttgarter Parlamentsgebäude gehalten habe für die Partei der Grünen anlässlich einer Ausstellungseröffnung von Karin Geschke. Rein formal geht es um die Theorie des kommunikativen Handelns bei Jürgen Habermas. Aber unmerklich wandelt sich der ganze Vortrag fast semi-dadaistisch in eine intelligente und fordernde Sprachlosigkeit. Die beiden Abgeordneten Rezzo Schlauch und Fritz Kuhn waren damals durchaus befremdet, wie ich ihren Äußerungen entnehmen konnte. Es gab wirklich nichts mehr zu verstehen. Die beste Reaktion auf diese Art Sprache und Sprechen ist immer noch das Lachen, wie ich es auch immer wieder erleben darf. Aber auch das Gegenteil ist der Fall – aggressive Vorwürfe, Zwischenbemerkungen, das erregte aus dem Raum gehen und so fort. Ich nehme und akzeptiere dies jedoch als eine natürliche Reaktion auf eine bewusst von mir eingesetzte Provokation in Kauf.

Seltsamerweise können Frauen mit dieser meiner Art von Denken bedeutend besser umgehen als Männer. Männer möchten alles immer rational und sofort verstehen. Frauen akzeptieren eher Brüche, Emotionalitäten – etwa wenn die Sprache ins Poetische abgleitet oder den absurden Witz.

Wie sind Sie überhaupt auf diese Idee gekommen? Hängt es mit Sprachkritik zusammen oder sind es Sprachspielereien?

Weder noch. In der Berliner Tageszeitung, einem in den 80er Jahren sehr experimentierfreudigen Organ der deutschsprachigen Intelligenz, habe ich angefangen, meine Artikel nach und nach immer mehr zu zersetzen bis hin zur völligen Unverständlichkeit. Höhepunkte waren dabei Interviews, die voller Witz und Spott die ganze Gattung parodierten. An Ostern habe ich etwa mit dem Romanisten und Lyotard-Assistenten Jean Pierre Dubost über „Gespenster“ philosophiert – seitdem gibt es in der Republik den Begriff der „Gespensterdebatte“.

Ins gleiche Interview hat Dubost die arabische Sprache und Schrift eingeführt, ich weiß bis heute noch nicht, was diese Textstelle bedeutet hat. Nachgemacht wurde dieser Trick gleichwohl alsbald in der Werbung: mit unverständlichen Schriftzeichen, etwa aus dem Japanischen, Aufmerksamkeit zu erregen und so fort.

Ihre Ästhetik enthält aber nicht nur hermetische, sondern auch literarische Exkurse. Mischen Sie nicht dadurch die philosophische Sprache unzulässig? Sie setzen sie der Mehrdeutigkeit und immer wieder auch anderen Interpretation aus.

Was heißt „unzulässig“? – Hat Sartre nicht auch „mehrdeutige“ Werke und Dramen geschrieben, um seine Ideen umzusetzen?

Ihre literarischen Texte beschäftigen sich sehr sprach-realistisch und weniger spielerisch mit unserer Gesellschaft.

Ich habe diese Textstellen „Nachtlichter“ genannt. Insgesamt sind es fünf Beiträge. Sie gehen alle von einer zukünftigen Form der Gesellschaft aus, die im Sinne einer allumfassenden technokratischen Steuerung gefangen bleibt im eigenen Netz von Eindimensionalität und Entfremdung.

Im Sinne Herbert Marcuses?

Das kann man so sagen. Nur dass ich nicht an Marcuses Befreiungs-Vorstellungen glauben konnte und kann.

Ihr „Photobuch“ enthält keine Photographien, das „Kunstbuch“ keine Kunst und auch das „Musikbuch“ keine Musik. Was sollen dann diese Titel?

Die Titel legen eine Spur im weitesten Sinne. Im „Photobuch“ geht es um Photographie, um die Wahrheit oder besser auch Unwahrheit von Photographie allgemein, auch um Strömungen innerhalb der Kunstphotographie, etwa die inszenierte Photographie oder die Konzept-Photographie, die auch topologische Photographie genannt wird.

Im „Kunstbuch“ geht es um Malerei, meist um die Malerei des abstrakten Expressionismus, wie er bis in die 80er Jahre vorherrschend bei uns war. Die so genannte „wilde Malerei“ etwa der italienischen „Transavantguardia“ zähle ich auch noch dazu. Es geht aber immer auch dabei um Interpretation, wie sehe ich, wie verstehe ich Kunst, was kann ich von ihr erwarten, was erwartet sie von mir. Wer kann mir beim Verstehen von Kunst helfen und wie. Dass die Antwort eine negative sein wird, das können Sie sich denken, wenn Sie das Buch gelesen haben werden.

Im „Musikbuch“ geht es ebenso um das Verstehen von Musik, auch um die Problematik gegenwärtiger klassischer moderner Musik und Musikkultur,  jetzt, am Ende der avantgardistischen Verführungen oder auch Blendungen. Denn Avantgarde, Vorhut im Sinne von Fortschritt, kann ja genauso gut auch zur Arrièregarde, also zur Nachhut werden.

Immer wieder werden jedoch meine themenbezogenen Überlegungen unterbrochen durch literarische Exkurse, durch witzige, lustige, parodistische Einschübe, Stilkopien oder Ausweitungen, die ein unterhaltendes Element bei der Textgestaltung ausmachen. Sie sehen also, dass diese Art von „Ästhetik“ nicht ohne das unterhaltende Element auskommt, dass eine trocken-belehrende Rationalität gerade nicht angestrebt wird.

Warum arbeiten Sie vorwiegend mit der Gattung „Rede“?

Es hat sich so entwickelt im Laufe der Jahre. Konkret wurde ich immer wieder von Künstlerinnen und Künstlern gebeten, über ihre Kunst nachzudenken und zu schreiben. Also habe ich mir beim Schreiben immer ein Publikum vorgestellt. Seine Reaktionsweisen, seine Fragen, Verständnisschwierigkeiten oder auch Einwände haben mich inspiriert, auch zu weiterführenden Gedanken und zum nächsten Werk. Logisch war dann die Sammlung dieser Reden zu einem Ganzen, das gleichwohl schillern sollte wie ein Kaleidoskop.

Es sind aber auch ernste, fast ausweglose Texte dabei.

Ja, etwa der „Gegenliebe“-Text im „Musikbuch“. Die existenzialistische Grundfärbung wird eigentlich selten nur verlassen.

Hatten Sie Vorbilder für Ihre Ideen?

Einerseits die antike Rhetorik. Ihre Mischung von docere et delectare. Ich bin ein großer Anhänger der spätrömischen Antike, habe fast alle Werke, die aufzutreiben waren, gelesen und studiert. An zweiter Stelle hat mich Sextus Empirikus beeinflusst. Ich bin immer wieder fasziniert von seiner Methode der logischen oder besser gesagt rhetorischen  I s o s t h e n i e .

Das heißt These und Gegenthese so gut zu beweisen, dass ein Patt entsteht mit der Empfehlung des Philosophen-Mediziners, sich keine Gedanken um die Wahrheit zu machen, sondern sich einzufügen in die eigene begrenzte und umgrenzende Welt von Wissen und Glauben. Da haben wir auch wieder das Thema Kapitulation. Oder wie Voltaire in „Candide“ schreibt: Allein es gilt, seinen Garten zu bestellen.

Und wenn man keinen Garten hat?

Dann muss man auch dies bleiben lassen.

Hat die Beschäftigung mit so abstrakten Dingen wie Kunsttheorie oder Sprachphilosophie auch konkrete Auswirkungen auf Ihr tägliches Leben?

Ich schaue mir schon seit etlichen Jahren keine politischen Nachrichten mehr im Fernsehen an. Auch in den Tageszeitungen überfliege ich meist nur die Überschriften.

Vielen Dank für das Gespräch!


Das Interview führte Marina Chistiakowa

© 2013 Edition Weissenburg