5 Über Sprechen- und Verstehen-Können
Ich habe auf Twitter von der “widernatürlichen E-Kommunikation” gesprochen. Ich bin immer noch(2014) sehr im Zweifel, was ich von den neuen Kommunikations-Geräten halten soll. Obwohl ich selber immer mehr darauf zurück greife. Als Telefonersatz mag diese Art von Kontakt/Begegnung/Beziehung manchmal gut und manchmal schlecht sein. Aber immer mehr sehe ich mich als Anhängsel der Maschine, als ein Sklave unter der Herrschaft der Dinge, wie Baudrillard sagt.
Vielleicht hat man früher ebenso skeptisch reagiert, als die ersten gedruckten Bücher auftauchten und man nur die Papyrus-Rollen gewöhnt war. Immerhin hat der Buchdruck eine weltbewegende und weltzerstörerische Revolution in die Wege geleitet – die Reformation und die Religionskriege in Europa. Ähnlich scheinen mir jetzt auch die neuen elektronischen Geräte Revolutionen, Migrationen und Aufstands-Bewegungen zu verstärken. Ganz zu schweigen von ästhetischen Performances wie Flashmob oder Facebook-Parties und dem Nerd-Phänomen.
Dennoch bleibt ein zweifelndes Gefühl – nicht nur bei mir, sondern auch bei vielen täglich SMS oder E-Mails nutzenden Zeitgenossen. Regeln zur Nutzung dieser Kommunikations – Kanäle bilden sich erst; gegenwärtig scheint noch die reine Willkür zu herrschen. Auf Briefe hatte man in der Regel immer zu antworten, vor allem wenn sie handgeschrieben, also persönlich waren. Auf eine SMS reagieren manche sofort, manche innerhalb eines Tages, andere überhaupt nicht. Diese Zeitgenossen sind wahrscheinlich so zugemüllt von Chat-Botschaften, dass sie in ihrem geistigen Account, um nicht von Delirium sprechen zu müssen, wichtige von unwichtigen Nachrichten gar nicht mehr unterscheiden können.
Dann gibt es auch die immer größer werdende Fraktion der Neo-Analphabeten, die sich scheuen eine gestaltete Sprache zu verwenden oder schon gar nicht mehr Sätze mit eingeschobenen Nebensätzen verstehen, geschweige denn produzieren können. Die eine durchaus kreative Kunstsprache der Abkürzungen verwenden, auch wenn Nicht-Eingeweihte dieser neuen Hermetik nicht folgen können. Doch diese Sprache ist aus der Not, nicht aus einem übermächtigen Können heraus entstanden.
Wie soll man also sprechen, kommunizieren, damit man verstanden werden kann? Was heißt verstehen, wann verstehe ich richtig, wie sieht Verständigung jenseits einer Fremdsprache aus? Oder besitzt jeder Mensch eine eigene, ganz individuell gefärbte (Fremd-)Sprache? Verkümmert die Sprache, dann verkümmert das Denken; es verkümmert der Mensch(ich wiederhole mich). Andere werden dann das Denken, Schreiben (und Sprechen-Können?) übernehmen und schon sind wir in der Technokratie der Zukunft angekommen, der Fremdsteuerung und Manipulation mittels Maschinen, die uns beherrschen und ohne dass wir es wissen, wissen wollen, wissen könnten. Im Gegenteil – wir müssen glücklich und zufrieden sein. Alles andere wäre ein bedenklicher Fehler im Steuerungs- und Überwachungs-System.
Doch noch einmal, wie kommunizieren? Wie sprechen, schreiben, denken, dass man verstanden wird? Was heißt verstehen? Verstanden werden? Geht das überhaupt oder bleiben wir nicht immer nur Fremde, die sich wie die Tiere zwar mit Artverwandten beschäftigen, unterhalten können – Künstler mit Künstlern, Arbeiter mit Arbeitern, Fußballer, Ärzte, Verkäuferinnen? Welcher Arbeiter am Band versteht auch nur einen einzigen Conceptart-Künstler und dessen ausgefallene Ideen? Interessiert sich dafür?
Jeder lebt in seiner eigenen Welt, umgeben von Fremdheit und Fremden, spricht seine eigene und für andere manchmal unverständliche Sprache. Oder gibt es nicht doch eine universelle Sprache, die jeder versteht? – Ich glaube schon. Nur existiert sie jenseits der Worte. Auch die Tiere können sich untereinander verständigen. Nur nicht die Elefanten mit den Schlangen, die Spinnen mit den Vögeln etc. Selbst Pflanzen kommunizieren vielleicht miteinander, wie manchmal berichtet wird. Aber jeder bleibt an seine (Fremd-)Sprache gebunden. Selbst die Dinge verständigen sich untereinander, sagt Baudrillard, um schließlich ganz die Macht über den Menschen zu erlangen. Sind wir nicht bereits abhängig von den Dingen? Wie steht’s mit Zahnpasta, Pille, Zucker und Salz und Smartphone und (Entschuldigung) dem täglichen Bier?
Einige Menschen scheinen meine Sprache, etwa die meiner Bücher, gar nicht zu verstehen. Bei meinen Vorträgen haben sich Abwehrhaltungen gebildet (vor allem von Seiten der Männer), die heftig waren und die ich gleichwohl auch bewusst als Provokation eingeplant hatte. Einverstanden, meine Bücher sind manchmal schwierig. Aber manche Zeitgenossen lassen sich auch davon faszinieren. Es reicht, nur eine Seite am Tag darin zu lesen, zu blättern, zu suchen. Der folgende Satz: “Manche heben etwas auf, wenn sie gebrochen sind“(aus meinem Band mit gesammelten Prosagedichten) ist leicht und schwer zugleich. Leicht verständlich in seiner Form (Grammatik), aber schwer und dennoch faszinierend in seinem Sinn. Wie kann das gehen, dass man etwas aufhebt, wenn man gebrochen ist? Wie kann man als Mensch “gebrochen” sein? Oder gar “zerbrochen” wie ein Ding und dann hebt man auch noch etwas auf? Was will man aufheben? Sich selbst vielleicht? Oder macht man es nur in seiner Erinnerung?
Maurice Blanchot ist ein solcher Meister der Doppeldeutigkeit oder gar Dreifachbedeutung. Ihm habe ich ein ganzes Buch gewidmet: “Landschaft mit Martyrium der hl.Katharina“. Ein junges Paar begegnet sich auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela. Beide reden über das Reden und das Nichtverstehen-Können. Dass sie sich näher kennen lernen wollen, es kommt auch zur körperlichen Begegnung, und dass sie sich dennoch immer unnahbar fremd bleiben werden. “Mache, dass ich zu dir sprechen kann” ist ihr recht arrogant wirkendes Anliegen. Oder (aus meinem neuen Buch über “Liebe und Lust”): “Um sich nicht voreinander verstecken zu müssen, wählten sie eine neue Sprache. Aber verstehen konnten sie sich nicht.” – Was für eine Art von Liebe mag das wohl sein!?
In all diesen Sätzen steckt eine Mehrdeutigkeit, die ihren Sinn öffnet für Phantasie, Wissen, Ratlosigkeit, Kreativität. Und dies ist das Gegenteil von Primitivität oder Eindimensionalität. Außerdem will diese Art des Denkens das Denken erzwingen und es wird Maschinen, vorläufig zumindest, noch große Probleme bereiten.
Hier ein letztes Beispiel von gestalteter Sprache, aus meiner “Ästhetik Band 1“, zugegeben wieder ein recht schwieriges Werk und voller Hermetik, die sich aus dem Gegenstand heraus, der Bildbetrachtung einer Skulptur von Maria Grazia Sacchitelli nämlich, auch ergeben hat:
“In Sprache und Schrift zu wohnen bedeutet nach meinen architexturalen Vorstellungen von Sprache ein Labyrinth. Die Wege darin sind verwickelt-verworren und es gibt kein Entrinnen. Man geht nur immer wieder von Umweg zu Umweg, der rote Faden ist verloren und die Sprache als Versuch einer ‘Verräumlichung’, einer Verteilung im Raum findet ihre Grenze immer wieder am Wächter des Ausganges, dem Minotaurus. Er beherrscht jedoch nicht den Raum der Sprache, sondern befindet sich – wie wir – immer nur auf dem Weg zu einer Annäherung an Sprache. Denn die Unendlichkeit des Denkens bedeutet, dass dieses immer nur in der Sprache oder Schrift einen Weg der Annäherung finden wird. Auch meine Worte schreiben einen Weg in diese Dunkelheit und gelegentliche Verworrenheit ein, beschreiben diesen Versuch einer Spurung der Spur fast wie ein Landschafts-Architekt. Also befinden wir uns in einem gespurten Labyrinth, aus dem wir vielleicht gar nicht herausfinden wollen – der Leser, der Bildbetrachter und ich”(aus: “Ästhetik Band 1“/ Photobuch, Zwölf Sinaitafeln Kap.4 Juda).
Über-Komplexität im Schreiben und Denken, wie es manche französische Autoren praktizieren, ist wohl ein Manierismus, vielleicht auch ein Endzeit-Phänomen (das Ende des Schreibens, der Schrift, des Buches). Auf jeden Fall ist es nicht die Kapitulation vor der Dummheit und Sprachlosigkeit der Gegenwart, selbst wenn eine “unverständliche” Hermetik dabei entsteht. Oder sollten wir lieber auf dem Niveau kurzer Hauptsätze und bildreicher Schlagworte stehen bleiben, darin leben wie in einer Seifen-Oper?
Ich denke auch, dass die Zeichentheorie etwa von Charles Morris weiter helfen kann in unserem Kommunikations-Dilemma der Reduzierung und Sprach-Verkürzung. Wir verständigen uns über Zeichen, nehmen wir dies einmal an. Jedes Zeichen hat drei Dimensionen: die Inhalts-, die Form- und die Verwendungsdimension oder auch Verwendungsebene. Inhalt ist das, was gesagt wird. Form das, wie es gesagt wird, und Verwendung ist die Ebene, wo, in welchem Zusammenhang es gesagt wird.
In der menschlichen Kommunikation sind alle drei Ebenen wichtig. Um den Inhalt einer Botschaft zu verstehen ist die pragmatische Ebene der Verwendung m.E. jedoch ganz besonders wichtig. Ein Satz kann besser verstanden werden, wenn er gesprochen wird. Besser bedeutet: sein Wahrheitsgehalt kann besser erfasst werden. Erfasst bedeutet nicht nur die rationale, sondern auch die sinnliche, die Gefühlsebene. Wir erweitern unser Wissen im Gespräch sehr stark durch Gefühlsreaktionen, auch Gesten etc. Das heißt, man kann auch etwas verstehen, ohne dass darüber gesprochen wird, gesprochen wurde oder werden muss.
All dies kommt in der elektronischen Kommunikation mittels SMS oder E-Mails zu kurz. Denn natürlich ist Kommunikation nur, wenn sich Menschen als Menschen austauschen und zwar auf natürlichem Weg, das heißt idealiter im Spiegel eines Gegenüber. Jemanden sehen, fühlen, beobachten, hören erweitert und erleichtert eine Begegnung ungemein. Kommunikation lebt darüber hinaus außerdem sehr vom direkten Feedback. Feedback ist der lebensnotwendige Sauerstoff jeder direkten Kommunikation – sprachlich, gestisch, emotional. Ohne Feedback ist eine Kommunikation tot.
Gewiss gab es immer schon die Diskrepanz zwischen Schrift (Buch) und menschlichem Gegenüber. Was ist das doch für ein großer Unterschied, den Satz “Ich liebe dich” zu lesen, zu sprechen, zu hören oder zu fühlen! Mittlerweile hat sich aber die elektronische Schrift übermächtig in das persönliche Gespräch, in die Beziehungen der Menschen hinein gedrängt, ja scheint sie sogar ganz beherrschen zu wollen. Ich denke nur an die Restaurant-Besuche, wo an vielen Tischen immer ein unsichtbarer Geselle (manchmal nenne ich es auch das Baby) am Essen teilnimmt, es auch stört. Mit dem Ergebnis, dass trotz intensiver Chat- oder Mail- Kontakte, welche Gemeinschaft, Leben und Lebendigkeit simulieren, auch suggerieren wollen, bei der persönlichen Begegnung eine große Unsicherheit, Befangenheit und Sprachlosigkeit sich entwickeln kann, die ihresgleichen sucht.
Das Sprechen und Sprechen-Können geht verloren; es wird zu einer Last, zu einer großen Unfähigkeit, ja Unmöglichkeit. Stand zu Beginn des menschlichen abstrakten Denkens, sagen wir im alten Griechenland, noch ganz das Hören, das Sich-merken-Können und die visuelle Beobachtung an erster Stelle (nur die wenigsten konnten lesen, sie mussten also genau und konzentriert zuhören können), so entwickelt sich mittlerweile eine Sprachlosigkeit, die sich auch nicht mehr erinnern kann oder will. Man hat ja seinen “secret sharer” (Joseph Conrad) immer dabei.
Der Pop-Artist Andy Warhol propagierte in den 60er Jahren in einem seiner künstlichen und gestellt-konstruierten Interviews: “Ich möchte eine Maschine sein“. Und eben solche Maschinen werden es auch bald sein, die uns mittels elektronischer Geräte begegnen, die “Ich liebe dich” sagen und Sex machen oder gedankenlos irgendwelchen Befehlen oder modischen Einflüsterungen gehorchen werden. Diese Mensch-Maschinen sind tot , unlebendig, und wenig geeignet für eine Begegnung, eine Beziehung. Sich auf einige wenige Buchstaben-Zeichen zu beschränken reduziert das Gespräch auf die Ebene einer toten Maschine oder lebendiger Leichen. Kommunikation mit toten Maschinen wäre also tote Kommunikation. Dieser Syllogismus mag im Sinne der abstrakten Logik nicht ganz korrekt sein, aber Ihr werdet wohl verstehen, was ich damit sagen will.
Stimmen wir also an dieser Stelle jetzt und mittels eben einer solchen Maschine den Totengesang lebendiger Leichen an! Was für eine Nacht, was für eine Begegnung, Beziehung erwartet uns! Was für eine schöne neue Welt! Maschinen werden auch unsere sexuellen Bedürfnisse bald befriedigen können. Ganz ungeahnte neue Masturbationstechniken werden entstehen! Nachkommenschaft wird eh in speziellen Sozialinstituten geklont oder gezüchtet. Es lebe der Solipsismus! Allein sein in dieser Welt, allein und zusammen mit unseren Maschinen-Freunden wie Siri und in einer Trunkenheit, die uns Abschied nehmen lässt vom Du, vom Wir und letztlich auch vom Ich.
Verschwunden werden wir sein als ein zum Ding verdinglichtes Ding im Internet der Dinge wie die Steine von Carnac, von denen auch niemand mehr weiß woher und wohin und wozu…(Seufz) Ich habe mich jetzt schon wieder in die Poesie oder auch Sprachspielerei gestürzt und sollte doch in einem diskursiven Text einigermaßen rational bleiben oder? Doch die Sprache geht auch bei mir oft ihre eigenen Wege, macht sich davon, ohne dass ich sie aufhalten oder ihr einen Weg, ein Ziel, eine Eindeutigkeit vorschreiben könnte. Also bin ich bereits schon von ihr beherrscht wie von einer Maschine (Seufz).