342 Wieder gelesen: Über Handlungstheorie
Wie richtig handeln, um glücklich leben zu können?
Der nachfolgende wissenschaftstheoretisch ausgerichtete Aufsatz, den ich bereits vor einigen Jahren geschrieben habe, ist wieder angeklickt worden. Also habe ich ihn noch einmal durchgelesen, einige Stellen stilistisch verbessert, wie ich es immer mache, wenn weiter zurückliegende Aufsätze plötzlich noch einmal Interesse finden.
Handlungstheoretische Überlegungen gehen mir immer wieder durch den Kopf. Wie kommen Menschen zu ihren Entscheidungen, zu ihren Handlungen? In dem allgemeinen Durcheinander der Gegenwart von Argumentation, Streit, Widerstreit, Gegensinn und dogmatischen Überzeugungen kann man nur noch ratlos werden und fatalistisch dem Schicksal vertrauen, dass es seinen Weg so oder so finden wird.
Ich denke, dass vor einer jeden Handlung ein Ziel vor Augen steht, das selbstbestimmt (intrinsisch) oder fremdbestimmt (extrinsisch) ist. Im Anschluss an diese bewusste oder meist auch unbewusste Zielbestimmung schmieden wir unsere Pläne, gehen wir mit mehr oder weniger großer Energie an die Realisierung unserer Aufgabe, wobei es dabei schnell und intuitiv zu einem heftigen oder auch weniger starken Energieaufwand kommt.
Wenn die Entscheidung gefallen ist und wenn das Ziel erreicht ist, dann stellen sich Momente von Glück ein. Glück ist also immer nur ein momentaner Zustand. Glück kann nie ein permanenter Zustand sein, denn selbst an das größte Glück gewöhnen wir uns, es wird gewöhnlich oder gar zum Unglück.
Den nachfolgenden Aufsatz habe ich geschrieben, bevor eine Corona Krise bei mir zumindest überhaupt denkbar war. Er beschäftigt sich also nicht damit. Aber auch diese Krise mit ihren Entscheidungsschwächen, mit ihren chaotischen Handlungsanweisungen (chaotisch weil von Tag zu Tag und Ort zu Ort immer wieder anders) ist bald zu Ende: Je mehr ein Impfstoff zum Einsatz kommen wird und wirkt, je weniger mit Zahlen, Daten, „Fakten“ Hiobsbotschaften in die Welt gesetzt werden, umso ruhiger wird es auch wieder in unserem Land. Wir werden wieder frei atmen, uns bewegen, uns besuchen können.
Der Aufsatz lebt gleichwohl von einer Paradoxie: Dass wir eigentlich nur sehr wenige Worte brauchen zum Leben und Lebendigsein, während ich im Gegensatz dazu so viele Worte darüber verliere. Aber Paradoxien bestimmen unser Leben, Denken und Handeln auch. Nicht zuletzt sind sie das Salz in der Suppe der Argumentation. Siehe Oscar Wilde und seine Sprüche, die noch immer lesenswert sind.
***
Es bedarf eigentlich nur weniger Worte, dass wir so erfolgreich immer wieder gesteuert werden können. Ein einfaches Beispiel ist die lapidare Handlungsanweisung des Arztes: Sie sollten mehr Sport treiben. – Wann kommen wir schon zu freien und einfachen ja oder nein Entscheidungen? Manche denken lange darüber nach, andere fällen ihre Entscheidung schnell, spontan und aus dem Gefühl heraus. Für beide Vorgehensweisen gibt es gute Gründe, gute Theorien, die diese Entscheidungsfindung jeweils unterstützen.
Ich denke, dass es in jedem Fall mit Worten zu tun hat. Mit einigen wenigen Worten, die in unserem Gedächtnis bleiben. Diese Worte sind oft Allgemeinbegriffe. Über die Wahrheit der Allgemeinbegriffe habe ich schon öfter geschrieben. Manche Menschen sprechen ihnen jede Wahrheit ab, andere glauben an ihre Überzeitlichkeit. Auch jetzt befinden wir uns in dieser überzeitlichen Welt der allgemeinen Begriffe, die Platon Ideen genannt hat. “Ideen” aber in einem anderen Sinn, als es unser Wortschatz bereit hält. Ideen sind nach Platon geistige Gebilde, die in unserem Kopf, im Denken, Wissen existieren. Besser und mit Platons Worten gesagt, die mit unserem Verstand, unserem Geist am überzeitlichen Himmel der Ideen gefunden, entdeckt, wieder entdeckt werden können. Sie existieren ewig, sind quasi genetisch einprogrammiert in unsere Strukturen des Gehirns. Dies wäre eine Theorie auch mancher Psycho- oder Sozio-Linguisten, die von Noam Chomsky z.B. aufgestellt worden ist. Überzeitliche Ideen haben also nichts mit spontanen Einfällen zu tun, was man gemeinhin unter “Idee” im normalen Sprachgebrauch versteht.
Daraus folgt: Wir brauchen, um richtig und glücklich und gut zu handeln, nicht Tausende von Büchern, von Wikipedien zu studieren, sondern es genügt, sich auf einige wenige Begriffe fest zu legen und diese im Unterbewusstsein zu speichern. Bei existenziellen und (wichtig!) emotionalen Erlebnissen, insbesondere in unserer Kindheit und Jugend, seien sie nun positiver, seien sie auch negativer Art, werden solche Begriffe, die wie Handlungsanweisungen funktionieren, automatisch im Unterbewusstsein, der Erinnerungs-Festplatte unserer Seele, gespeichert. Fortan steuern sie eher emotional unsere Handlungen, meist ohne dass wir es wissen. Irgend wann einmal wird man sie sogar genau in unserem Gehirn lokalisieren und manipulieren können.
Ein solcher Begriff wäre zum Beispiel Liebe. Was verstehe ich, das heißt mein Körper und mein Geist, unter Liebe, wie soll Liebe sein, Liebe und Begehren, Liebe und Lust, was ist der Unterschied? Ein weiterer Begriff wäre Gott: Wer lenkt mein Handeln, meine Entscheidungen, ich selbst oder ein anderer, oder werde ich durch diesen anderen, durch dieses andere gelenkt? Ich bin davon überzeugt. Ebenso wie ich davon überzeugt bin, dass wir nur sehr selten Herren unseres Handelns sein können, sein dürfen.Ein dritter überzeitlicher Begriff wäre auch der Begriff von Glück, Glückseligkeit, Ziel meines Lebens; welche Ziele habe ich, um glücklich zu leben?
Ziele ergeben sich meistens aus den Umständen direkt, sie verlangen Handlungsanweisungen und sie sind oft schon längere Zeit vorgegeben. Doch wer gibt mir (und wem genau in mir) diese Handlungsanweisungen? Freudianisch gesprochen: unser Ich, unser Es, unser Über-Ich? Oder, wie die Theoretiker der Transaktionsanalyse, die ich sehr schätze, sagen, unser Kindheits-Ich, unser Erwachsenen-Ich, unser Eltern-Ich?
Es gibt in den Sozialwissenschaften tatsächlich einen Forschungszweig, der unsere Handlungen, der selbst die Entscheidungsfindung zu unseren Handlungen digitalisieren, d.h. auch vorausberechenbar, prognostizierbar, steuerbar machen kann. Das heißt sie auch den Computern und dieser ganzen Welt von Steuerung (“Systemsteuerung”), Indoktrination und Anonymität ausliefert.
Wie immer bei so eminent wichtigen und neuen Forschungsergebnissen gibt es bereits ein Manifest der Warnung von Wissenschaftlern. Ebenso wie man vor der Atombombe gewarnt hat, wie man vor der Biotechnologie und dem Klonen gewarnt hat, so warnen jetzt führende Wissenschaftler und Nobelpreisträger der Welt vor einer Total-Digitalisierung, vor allem vor einer Roboterisierung am Beispiel der militärischen Kriegsführung. Ganz aktuell ist gegenwärtig der Einsatz von vollautomatischen und sich selbst steuernden Drohnen. Auch wenn alles schon vielleicht wieder zu spät ist. Was helfen diese Proklamationen, Manifeste, gut gemeinten Ratschläge, wenn mittlerweile diese Technologie bereits in Händen von Manipulateuren, von autoritären Herrschern, Geldmachern oder Halb-Kriminellen gelangt ist? Wie schon bei der Atombombe und der Biotechnologie hätte man sofort mit der Forschung in diesem Bereich aufhören, alle diese neuen Waffen verbieten müssen, aber – zu spät!
Also bewegt sich unser so labiler Ameisenhaufen, in dem wir uns befinden, nur immer wieder von Katastrophe zu Katastrophe, pendelt und taumelt und fällt hin und her.
*
Und jetzt? Wo stehen wir jetzt? Ich gehöre einer der wenigen deutschsprachigen Generationen an, die keine Waffe in die Hand nehmen, keinen Krieg hat überstehen müssen. Im Gegensatz zu meinen Eltern und Vorfahren. Meine Mutter hat im 2.Weltkrieg zwei Brüder verloren, mein Vater Mutter und Bruder. Mein Großvater kämpfte noch in den Schützengräben von Verdun und Reims. Jetzt sind wir mitten in einer spannend-verwirrenden Phase von Veränderung, Aufbruch und Fortschritt. An den Türen klopfen jedoch bereits wieder die Vorboten einer neuen Katastrophe in heftigen Fluchtwellen an.
Wie kam die Vergangenheit mit solchen Isosthenien zurecht? Dass auf das Gute das Schlechte folgen muss, sich bereits im Guten das Schlechte bildet und immer wieder umgekehrt und so fort? Und dass beides inkompatibel miteinander ist, unvereinbar nebeneinander bestehen bleibt, das Gute wie das Schlechte?
Die Kunst des antiken Griechenlands antwortete darauf mit reichlich desillusionierenden Theateraufführungen: Resignation und Kapitulation. Anerkenne, Du MenschenTier, in deinem Leben deine Schwäche und Begrenztheit! Ertrage stoisch das Schicksal, das dir die allmächtigen Götter auferlegt haben. Du bist nie Herr deiner selbst. Das Ich, das später die Renaissance erst zu voller Größe zu entwickeln versuchen wird, ist eine Fiktion.
Die Politik erprobte jedoch demgegenüber im Jahrhunderte langen Zeitalter vor allem der römischen Militärdiktatur mit wechselndem Erfolg den Widerstand des Ich gegen Welt und das allmächtige Schicksal. Setzte sich zur Wehr in Form einer lange Zeit erfolgreichen Eroberungspolitik, die nicht zuletzt bevölkerungspolitisch immer wieder auch ein Aderlass war. Bis hin sogar zu der Tatsache, dass Sparta und später auch Rom wegen mangelnder Nachkommenschaft vom Aussterben bedroht waren. Manche nennen das auch Kindermangel infolge von Homosexualität. Aristipps Philosophie der Lust habe auch in Rom obsiegt mit erheblichen Kollateralschäden.
Das antike griechische Theater mit seinen Tragödien hat sehr schön immer auch die Ohnmacht des Menschen dargestellt, seine Zerrissenheit zwischen Können und Versagen, Schuld und Unschuld, Leben und Tod. Und damit der Zuschauer nicht zu deprimiert nach Hause ging, musste zum Abschluss eines langen Theatertages, der ganz zu Beginn in Griechenland immer auch ein Gottesdienst war, nach zwei gezeigten Tragödien immer auch eine Komödie folgen. Liebe, geschweige denn Lust spielten in den antiken Tragödien bekanntermaßen nur eine eher untergeordnete Rolle. Mit einer Ausnahme: Die große Dionysos-Tragödie des Euripides (“Die Bakchen”), in dem der frevelhafte Umgang mit Lust, einer tödlichen Lust, die zum Wahnsinn führt, machtvoll mahnend im Mittelpunkt steht. Ein wunderbares Theaterstück und als ein zu interpretierender Mythos, eine “Erzählung” würde Lyotard sagen, wirksam wie eine Lektion der Bibel. Selbst heute noch, die wir doch alle so sehr dem Gott Dionysos opfern wollen, opfern müssen auf unseren wie auch immer gestalteten Altären. Seufz.
Im weniger gebildeten Römerreich beschränkte man sich neben den militärischen Tugenden und Fertigkeiten mehr auf Ablenkung von der existenziellen Problematik durch Essen und Trinken, Sex und sinnliches Wohlleben. Vergnügen, Theater, Sportereignisse, blutrünstige Zirkusspiele – Brot und Spiele, panem et circenses, das reichte, um nicht auf schlechte Gedanken zu kommen. Bis in unsere Gegenwart hinein nützt dies als Ablenkung von der ewigen Frage: wie richtig handeln, um glücklich zu leben und das Sterbenmüssen vergessen, verdrängen zu können. Für das unmittelbare leibliche Wohl sorgten in jeder nur denkbaren Hinsicht und Abhängigkeit die überall in großer Anzahl vorhanden Sklaven in Rom, sofern man Geld hatte.
Wie sehr diese zur Lebenserleichterung, zu Luxus, sexuellen Präferenzen , zu Dekadenz und Wohlleben beigetragen haben, das kann man sich heute gar nicht mehr so richtig vorstellen. Dass dieses richtige Handeln mit Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit zu tun hat, nicht zuletzt also auch mit Gott, denn eben dies sind einige seiner wichtigsten Attribute (Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit) – das hat schon Platon in seinen Verfassungs-Modellen für einen gerechten Staat zu zeigen versucht. In welchem seiner Meinung nach glücklich gelebt werden kann bis auf den heutigen Tag (1).
(wird fortgesetzt)
—————————————————
1 Platon, Der Staat; Gesetze