344 Wieder gelesen: Über Worte
Irgendwie produziert der Geist ebenso viele überflüssige Worte wie die Natur zur Fortpflanzung Samenzellen. In der Masse der Möglichkeiten befindet sich eine einzige besonders tüchtige Samen-Zelle, die zur Erhaltung der Art nur notwendig ist. Alles andere ist Abfall, Überschuss, Müll.
Ebenso geht es mit den Worten. In der Unmenge von Büchern, Blogs, Zeitungen und Zeitschriften, die gegenwärtig immer noch produziert werden (ich gehöre auch dazu), finden sich nur einige wenige Sätze und Worte, die für uns und unser Wohlergehen wirklich notwendig, lebensnotwendig, überlebensnotwendig sein können, wie ich glaube. Die dazu da sind, unseren Lebensweg zu gestalten, uns Hinweise geben wollen, wie wir unser Leben leben, die Liebe lieben und Gestaltungen gestalten sollen. Und dabei sind es doch immer nur sehr wenige Worte, die uns leiten.
Zu Beginn des abendländischen Denkens, in der griechischen Antike, gab es einen eng umrissenen Codex von Themen und Fragestellungen, also auch Sätzen und Worten, die von jedem Schreibenden, Denkenden und Intellektuellen abgehandelt, verstanden, diskutiert werden mussten (siehe auch die Nr.12 im Blog, mein Inhaltsverzeichnis der Schriften von Xenokrates, dem direkten Nachfolger Platons in der Akademie). Diese Themenstellungen, diese Problemlösungsversuche sind bis heute gültig geblieben. Selbst wenn eine metastasierende Form von Wissenschafts-Disziplinen und Wortfindungs-Maschinerien diese Theorien, diese Philosophien als nicht mehr relevant, nicht mehr aktuell, nicht mehr wahr hinstellen will.
Was gibt es für zahlreiche Wort-Anhäufungen in den so genannten Dissertationen! Was muss ein Mensch alles zu wissen vorgeben, damit er als Wissen-Schaftler klar benannt werden darf! Ein Mensch, der Wissen schafft, der Wissen herstellt, doch wozu? Im Zeitalter von Wikipedia, von zahlreichen Wikipedien, die sich bilden werden, scheint diese Art von Wissen vollkommen überflüssig.
Doch was mache ich? Schreibe ich nicht auch viele, zu viele Worte, die vielleicht am Wesentlichen vorbei gehen? Wirft man mir nicht bereits vor, in dieser Blog-Form zu langatmig, redundant, „metastasierend“ zu sein?Warum, mit welchem Ziel und für wen schreibe ich, werdet ihr mich fragen?
Gut, ich berufe mich immer wieder auf Michel de Montaigne, der in der Renaissance das Altertum, die antiken Fragestellungen neu entdeckt und vorgestellt hat und immer wieder auch Originalzitate in seine Essays eingebaut hat (auch er war ein Anhänger der skeptischen Schule). Der aber auch sein persönliches Umfeld, seine Umgebung, Politik und Gesellschaft nicht aus dem Auge verloren hat. Der sich mit lapidaren Begebenheiten ebenso beschäftigen konnte wie mit platonischen Ideen. Die wenigen Worte, die in der Antike auf Papyrusrollen diktiert, dann „gezeichnet“ wurden (muss man wohl sagen), haben ausgereicht, ein philosophisches System zu bilden, das bis in die Gegenwart weiter wirkt. Zum Beispiel was die Theorie der Staatenbildung, die Vorstellungen von Liebe, Lust, Pflicht, Verantwortung und Glück oder auch von Wahrheit betrifft.
Sie haben ausgereicht, einige Staatsverfassungen zu studieren und vorzuschlagen, wie man darin glücklich leben können wird mit einer Herrschaft der Reichen, einer Herrschaft des autoritären Diktators, der Herrschaft des Volkes, was damals nur die Männer bildeten. Frauen hatten nichts im „Parlament“ zu suchen ähnlich heute in gewissen arabischen Staaten.
Wenige Worte nur haben wie in den religiösen Schriften festlegen können, nach welchen Zielen und Werten man sein Leben leben soll, leben kann. Manche dieser Vorschläge zu einer Staatsverfassung gelten bis heute in Form unserer Recht-Sprechung und den Gesetzen. Nicht zuletzt haben sie das Überleben des riesigen römischen Reiches begründet: Es war der Glaube an die Nützlichkeit von Gesetzen, an die Nützlichkeit des Einhaltens von Gesetzen, also von Worten. Diesen nur verdanken die Römer trotz einer großen Unübersichtlichkeit und manchmal chaotischen Vielfalt in den Bereichen wie Moral, Religion, Philosophie oder Bevölkerungspolitik und Ethnien ihr Überleben.
Es gab und gibt tatsächlich Menschen, die meine Artikel und Bücher nur wegen dem Stil, nur wegen meiner Sprache lesen. Ich bin einverstanden, freue mich darüber (Hallo MG!). Auch dass man „wildert“, einmal hier, einmal dort aufschlägt, sich an einer Stelle fest beißt und dann wieder das Buch oder die Seite weglegt.
Doch lege ich zu viel Wert auf das gestaltete Wort? Zu wenig auf den „Sinn“? Dass ich bei meinen Lesern keine Lebensspur spuren will, das habe ich schon oft genug betont. Dass ich das Paradoxe, Widersprüchliche, Pluriverse schätze, welches doch so sehr auch in die Verwirrung, die Ratlosigkeit einen treiben kann, das habe ich auch immer wieder angedeutet. Wer auf die Schönheit der Worte achtet, der achtet auf ihre Schönheit, nicht auf ihren Sinn, der zu Handlungen aufrufen will. Wer auf den packenden, spannenden Stil, wer auf die Gefühle achtet, welche die Worte verursachen, der achtet auf seine Gefühle und nicht auf den Sinn, der in den Worten liegt.
Nur der Sinn leitet jedoch unser Handeln, leitet unsere Entscheidungen, die vielleicht durch ein kluges Abwägen verschiedener Seiten gesteuert werden können. Doch mein „Sinn“ will gerade nicht lenken, nicht steuern. Das überlasse ich lieber den Medien und Maschinen der Zukunft und eurem Glauben daran, dass alles gut werden wird trotz der vielfältigen Finsternisse der Zukunft in unserer Zeit (Achtung Stabreim!).
Schreiben wir also nicht zu viele Worte. Jetzt sind es gerade 875. Alle diese zahlreichen Dissertationen, Abhandlungen, Gutachten, Prognosen – was bleibt davon? An was erinnern wir uns? Doch nur an sehr wenig.
Nur an einige wenige Sätze, Worte.
Worte wie diese jetzt? – Ist mir wirklich egal.
Doch warum schreibe, erfinde, finde ich alle diese Worte?(seufz)
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Statistik (meist gelesen im Blog, mittlerweile veraltet): 45 Vom Denken (über Eurozentrismus) 42 Jean Baudrillard (II, Über Pornografie) 100 Über Karlheinz Stockhausen (Neue Musik) 25 Satyricon (Luxus und Laster im antiken Rom) 24 Achim Kubinski (Mein Beginn mit den französischen Philosophen) 130 Über die Sinnfrage