345 Über Seneca – Warum ich ein Römer bin(1)
Was lange währt…
Ja, ich habe lange Zeit einen großen Bogen um Seneca gemacht.
Ich habe ihm nicht getraut. Einerseits war er ein enger Berater und Coach des Kaisers Nero, später andererseits auch ein Liebling der neuen Christen-Gemeinschaft im Untergrund. Das waren Neros Staatsfeinde, die der Kaiser reihenweise hinrichten ließ. Zum Beispiel in Form seiner berüchtigten Nero Fackeln.
Sie stützen sich in Ihrem ablehnenden Urteil auf die Geschichtsschreibung.
Über Wahrheit und Wissenschaftlichkeit der Geschichtsschreibung habe ich oft genug schon geschrieben. Je nach Blick, Brille und Interesse wird immer schon Geschichte geschrieben. Es hängt mit den beiden römischen Historikern Tacitus und Sueton zusammen, denen man einfach glauben und vertrauen muss. Auch wenn sie mehr als eine Generation nach Neros Zeit gewirkt haben(1).
Selbst wenn deren Werke im Laufe der Jahrhunderte gefälscht, zensiert, gekürzt worden sind?
Natürlich! So geht es doch immer in der Geschichtsschreibung. Was ist Wahrheit? Wie kann man historische Fakten überzeugend belegen? In der Geschichtsschreibung, d.h. auch aus der Vergangenheit heraus betrachtet, ist das relativ schwierig. Selbst gegenwärtig werden schon Tatsachen, etwa was den Holocaust von Auschwitz betrifft, infrage gestellt. Geschichte ist eine Geisteswissenschaft. Das bedeutet, sie bedient sich hermeneutischer Methoden vor allem der Interpretation und Deutung von Texten. Das macht die Sache kompliziert und subjektiv.
Tacitus und Sueton lehnen Seneca in ihren Werken ab: Er selber trinke Wein, während er anderen Wasser empfehle. Diese seine Zeit am Kaiserhof Neros wird ihm immer wieder zur Last gelegt.
Cassius Dio geht sogar noch einen Schritt weiter und stellt ihn trotz all seiner unbezweifelbaren Verdienste um das römische Reich als einen fast schon Mitschuldigen an den neronischen Exzessen und Obszönitäten dar. Weil er nichts dagegen unternommen hat und eine Zeitlang aus eigensinnigen Interessen heraus im Strom des despotischen jungen Kaisers mit geschwommen ist, denke ich.
Und doch sind Sie jetzt zu einem großen Fan von Seneca geworden.
Das kann man schon sagen. Nicht nur weil er ein typischer Philosoph des Alterns, des Altwerdens ist, der mit seiner existenziellen Thematik, wie man leben, wie man sterben soll, bis in die Gegenwart hinein aktuell geblieben ist.
Er hat viele Philosophen der späteren Jahrhunderte beeinflusst.
Ganz besonders meine Lieblingsschriftsteller, etwa Michel de Montaigne, Blaise Pascal oder auch die französischen Existenzialisten.
Wenn man Senecas Lucilius-Briefe heute liest, auch wenn sie von den nachfolgenden Jahrhunderten zensiert, bearbeitet und geschönt sein mögen, versteht man sehr gut, warum das Christentum ihn einige Jahrzehnte nach der Zeitenwende quasi als einen der Ihresgleichen bejubelt und begrüßt hat.
Hat es diesen Lucilius als Brief-Adressaten überhaupt gegeben?
Ich denke schon. Auch wenn diese Briefe zum Teil fiktiv sind. Es lassen sich aber auch direkte Briefe Senecas an Lucilius nachweisen(2).
Sie haben sich auch persönlich von Senecas neuer Gattung beeinflussen lassen. Sie schreiben in ihrem Blog ebenfalls Briefe an Lucilius; 12 Beispiele habe ich gezählt.
Stimmt. Und diesen Lucilius gibt es tatsächlich in meinem Umfeld. Nur ist wenigstens die Hälfte von dem, was ich geschrieben habe, Fiktion und hat wenig mit ihm zu tun. Es gibt aber auch Textstellen, die sich direkt an ihn wenden und mit ihm sprechen. Ich habe mich mit ihm immer wieder sehr intensiv über lebenspraktische Dinge ausgetauscht. Eine richtige Freundschaft und Liebe hat sich daraus entwickelt.
Auch der römische Lucilius war viel jünger als sein philosophischer Mentor.
Wie es überhaupt auch einige weitere Parallelen in meinem, sagen wir besser allgemein auch in unserem Leben mit Seneca gibt. Mit 60 Jahren musste er seinen Dienst am Kaiserhof von Nero aufgeben, eher freiwillig, weil ihm alles zu viel wurde, ein tiefer Bruch. Im Blogeintrag Nr.161 habe ich eine Seneca-Rede vor Nero in der Tacitus-Version dokumentiert. Man sieht darin eindrücklich, was für eine extrem stilisierte und kunstvolle Rede die Intellektuellen dieser Zeit beherrschen mussten, selbst Nero.
Seneca hat sich dann aus Rom zurückgezogen.
Ja, auf sein Nomentum-Weingut nordöstlich von Rom zum Denken und Schreiben. Ihm blieben ja nur noch vier Jahre bis zu seinem von Nero erzwungenen Freitod.
„Muße “ ist sein neuer Lebenssinn. Wer weiß überhaupt heute noch, was das ist? Auf jeden Fall eine Alternative zum Hamsterrad-Kapitalismus.
Ich rede lieber vom Ökonomismus, alles ist nur noch der Ökonomie, dem Geld und Geldverdienen unterworfen. Aber was Muße bedeutet, das wissen tatsächlich nur noch wenige Leute heute. Leider.
Ist Seneca in seinem Landgut vom überzeugten Stoiker jetzt zum Epikureer geworden?
Nicht unbedingt. Lebe im Verborgenen, das proklamieren zwar die Epikureer. Seneca war dennoch überwiegend ein Stoiker. Er hat aber dann und wann, typisch postmodern, würde man heute sagen, die Seiten und Lager gemischt und gewechselt. Anscheinend war Lucilius jedoch tatsächlich ein überzeugter Epikureer, das heißt mehr dem individuellen Wohlleben verpflichtet als der allgemeinen Moral oder Politik.
Seneca hat nicht nur philosophische Essays und Briefe geschrieben, sondern sogar Theaterstücke verfasst. Eine Karikatur etwa auf Kaiser Tiberius mit dem Titel: „Wie Kaiser Tiberius zum Kürbis wurde“.
Die Intellektuellen seiner Zeit, nennen wir sie einmal „Geistesmenschen“, was eine Karriere beim Militär nicht ausschloss, mussten zumindest in ihrer Jugend alle auch Poesie und Theaterstücke schreiben lernen. Jedenfalls haben sich viele an der Imitation griechischer Dramen versucht, selbst Augustus oder Caesar, mit mäßigem Erfolg. In seinem erzwungenen Ruhestand hat Seneca kein Theaterstück mehr geschrieben, sondern nur noch meist an den Lucilius-Briefen gearbeitet.
Dann hat man in Rom eine angebliche Verschwörung aufgedeckt und auch Seneca als Mitverschwörer belastet. Mit dem Ergebnis, dass Nero seinen früheren Lehrer und Lebens-Freund zum Tode verurteilt hat. Ein angeblich mildes Urteil, weil er die Todesart selbst bestimmen konnte: Sterben durch Nahrungsverweigerung, durch Gift, sich ins Schwert stürzen oder erstechen. Seneca wählte zusammen mit seiner Frau den Tod durch das Aufschneiden der Pulsadern.
War Seneca an dieser Verschwörung beteiligt?
Ich denke schon. Er war sogar als Nachfolger von Nero für die Staatsspitze vorgesehen. Ganz ohne sein Wissen hätte das nicht geschehen können. Jedenfalls hat er sich dann in typisch stoischer Manier ins Bad gesetzt und die Pulsadern aufgeschnitten, dabei auch noch philosophiert. Ich habe diese filmreife Inszenierung im Blogeintrag Nr.162 dokumentiert. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus, auf dessen Glaubwürdigkeit wir uns halt eben verlassen müssen, berichtet darüber.
Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob dieses heroische Sterben tatsächlich so stattgefunden hat, wie es Tacitus beschreibt.
Ebenso ist es auch Petronius gegangen, einem weiteren Coach und Berater von Nero. Er war der Minister für guten Geschmack, also auch für Kunst und Lebensgenuss. Er musste sich ebenfalls das Leben nehmen. Im frühen Blogeintrag Nr.25 habe ich über seinen „Satyricon“-Roman, ein karikaturartig überspitztes Sittengemälde des antiken Rom und einer der ersten Romane der Zeit überhaupt, geschrieben.
Was wissen wir vom kaiserlichen Rom in der Zeit Neros?
Nicht sehr viel. Die christliche Geschichtsschreibung, das heißt auch Zensur im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte, hat aus Nero ein Monster gemacht. Dieser kam nach der Ermordung des Kaisers Tiberius schon als 17jähriger auf den Thron. Seneca wurde aus seiner achtjährigen Verbannung, sein lebenslanges Trauma, nach Rom zurückgerufen. Er wurde auf Geheiß von Neros Mutter Agrippina Neros Erzieher, Berater, Coach in vielen Lebensfragen, sagt man ja heute. Diese ersten Jahre an der Spitze des Staates unter dem Einfluss Senecas scheinen die wenigen politisch besten Jahre der frühen Kaiser-Zeit nach Augustus in Rom gewesen zu sein, sagen manche Historiker.
Doch mit zunehmendem Alter befreite, emanzipierte sich Nero immer mehr von seinem viel älteren Berater. In meinen Augen und wie ich die Berichte der zeitgenössischen Historiker interpretiere ist Nero tatsächlich persönlich und charakterlich eher ein Künstler gewesen, also völlig ungeeignet zu einem nüchtern abwägenden Staatsmann. Auch Hitler wollte ein Künstler sein, hat Ausstellungen gemacht und Gemälde zu verkaufen gesucht.
Sie haben etwas gegen die Verbindung von Kunst und Politik bei Staatenlenkern.
Ja, ich halte nichts davon. Künstler sind sehr emotionale, meist auch neurotische Persönlichkeiten, ich gehöre wohl ebenfalls dazu, die ihr ganzes künstlerisches Talent gerade aus dieser emotionalen Spannung, vielleicht auch Stärke und Kraft gewinnen können. Zum nüchternen Abwägen und Urteilen, auch was die Planung für die Zukunft betrifft, sind sie gleichwohl weniger geeignet. Ebenso wie umgekehrt auch erfolgreiche Politiker meist unfähig zu künstlerischen Gestaltungen oder Extravaganzen sind, ja auch sein müssen.
Neros sexuelle Extravaganzen etwa passen einfach nicht zu einem Politiker. Er heiratet sehr zum Entsetzen des ganzen Hofstaates hoch offiziell Sporus, einen freigelassenen Lieblings-Sklaven, der ihm die Treue bis zu seinem Tod hielt und später dann der Geliebte von Otho wurde, im Drei-Kaiser-Jahr einer der drei kurzzeitigen Nachfolger Neros. Oder er lässt sich quasi wie in einer Performance provokativ vor den Augen der Öffentlichkeit von einem anderen Sklaven vergewaltigen.
Dies alles, auch seine Verschwendungssucht, seine Bauwut, die Missachtung von Etikette, seine perversen Gewalt-Exzesse etc. interpretiere ich als bewusste Provokation der verhassten Hof-Atmosphäre mitsamt all dieser bis in unsere Gegenwart hinein sehr förmlichen und steif-ritualisierten Etikette. Da haben ihm schon seine künstlerischen Tourneen als Song-Writer, sagt man heute, bedeutend besser gefallen. Monatelang war er nicht mehr in Rom, ja hat sogar das Regieren ganz unterlassen oder vergessen sehr zum Ärger des politischen Establishments.
Zumal ihm als Künstler im fernen Ausland der Jubel des Volkes gewiss war.
Er soll ganz gut gesungen und sich selbst auf der Lyra, heute etwa die keltische Harfe in Irland und der Bretagne, begleitet haben. Doch im Laufe der Jahre wurde er immer paranoider. Zumal er Mord und Totschlag sein Leben lang hat miterleben müssen. In seiner Familie ist ein Verbrechen dem anderen gefolgt. Er selbst war tatsächlich auch in dauernder Lebensgefahr, zumal er mit Todesurteilen vollkommen willkürlich umgegangen ist und sich so erbitterte Gegner geschaffen hat. Bezeichnenderweise heißt Senecas in dieser Zeit an Nero gerichtete Schrift „Über die Milde“ (Clementia).
Wie heute ja auch: Gewalt erzeugt Gegengewalt und die Halbwertszeit von Diktatoren ist gering. Besser also, man darf in einer Demokratie, wegen mir auch in einer Oligarchie wie gegenwärtig, unfähige Herrscher rechtzeitig von der Spitze des Staates abwählen und sogar vielleicht ins Gefängnis werfen lassen.
Gegen Ende seines Lebens mag Nero tatsächlich ein Geisteskranker gewesen sein wie Hitler auch und etliche andere Despoten, die die eigenen Fähigkeiten und Grenzen in ihrem Wahn nicht mehr gesehen haben und nur noch von korrupten Schmeichlern und Jasagern umgeben sind.
Was interessiert Sie so an Seneca?
Ich denke, das langjährige Leben am Hof in einflussreicher Stellung und seine Bekanntschaft mit Nero hat einen wesentlichen Einfluss auf Senecas spätere Philosophie ausgeübt. Sie war bei ihm weitgehend nur noch eine Philosophie der Moral, ein Nachdenken über Leben- und Sterbenmüssen. Seneca hat sich wenig um wichtige Philosophiebereiche wie Logik, Erkenntnistheorie oder Staatspolitik gekümmert. Seine Hauptdisziplin war immer die Ethik und auf die Frage beschränkt: wie soll ein Mensch leben, um glücklich zu werden? Montaigne hat viel später Senecas Haltung so formuliert: Philosophieren bedeutet leben und sterben lernen (philosopher c‘est apprendre à vivre et apprendre à mourir). In meinem Blogeintrag Nr. 261 geht es um Senecas allgemeine Biografie; im Eintrag Nr. 263 stelle ich die Schwerpunkte seines Denkens vor.
Warum gerade Seneca?
Ich bin auf Seneca gestoßen in Zusammenhang mit meinem Interesse an dem Literatenkreis um Kaiser Augustus. Wenn ich immer wieder betone, dass ich mich wie ein antiker Römer fühle, dann muss man sich gerade diese Umbruch-Zeit nach Christi Tod vor Augen halten. Sie ist mit unserer Zeit und Gegenwart ganz gut zu vergleichen: Die Pax Augusta war für die Stadt Rom eine der friedlichsten Episoden, auch wenn sie nur etwa 40 Jahre gedauert hat. Unsere Friedenszeit in Deutschland und Westeuropa dauert jetzt bald 75 Jahre. Und sie ist ebenso auch eine Zeit von militärischer Abschreckung (NATO), Luxus, Wohlleben und Desorientierung infolge des multikulturellen Zusammenlebens – Stichwort der Slogan des Liberalismus: „Alles geht“. Selbst unsere Götter und Halb-Götter, die Heiligen, sind tot; die Kirchen stehen leer. Stattdessen findet man überall einen überbordenden Hang zum Konsumismus, zu Vergnügen, Ablenkung und Pseudo-Weisheiten. Um nicht von einem gesteuerten Lebensform-Zwang nach dem Alternativ-Modell in China zu reden.
Wer war dieser Kreis um Kaiser Augustus?
Ich habe im Blogeintrag Nr. 271 genauer darüber geschrieben. Augustus hat in Rom, wenn er nicht gerade monatelang ins Kriegsgeschehen an den äußeren Grenzen verwickelt war, einen Kreis von Literaten um sich geschart, die mich alle sehr interessierten: Vergil, Horaz, Properz, Maecenas und andere. Auch Maecenas, ein Busenfreund von Augustus, ist ein interessanter Zeitgenosse. Seneca hat diese Person sehr heftig abgelehnt. Er sei zu „weibisch“, zu extravagant in Kleidung und Verhalten, schreibt er in einem Lucilius-Brief, seine Sprache sei manieristisch und gekünstelt und so fort. Er war also das Gegenteil eines soldatischen Mannes, wie er bis in die Gegenwart hinein immer wieder dann und wann notwendig wird, wenn Kriege und Diktaturen sich durchsetzen wollen. Maecenas war auch ein geschickter Politiker und Diplomat, quasi der Außenminister von Kaiser Augustus. Auch wenn er sich im Selbstbildnis wohl eher als Schriftsteller und Literat gesehen hat.
Aber auch Seneca war Zeit seines Lebens kein soldatischer Mann.
Gerade nicht. Das war ja auch das Neue. Er hatte Zeit seines Lebens mit schlimmen Asthma-Anfällen zu kämpfen, die ihn sogar immer wieder an den Rand des Todes brachten. Deshalb hat er sich mehr als alle anderen Philosophen mit dem Sterben befasst.
Auch Augustus soll in seiner Jugend und Kindheit labil und schwächlich gewesen sein.
Ja, bis er dann mit 18 seinem Onkel und Liebhaber Caesar nach Spanien in den Krieg gefolgt ist. Dort wurde er dann so nach und nach zum erfolgreichen Militär und soldatischen Mann. Er war in eben dieser Zeit auch vorübergehend der Geliebte des späteren Konsuls Hirtius. Er soll auch sehr spät erst die Männer-Toga angelegt haben. Bis dahin konnte er sich immer noch als Puer delicatus, nennen wir es einmal so, zur Verfügung stellen. Alles nachzulesen bei Tacitus und Sueton. Eine solche Arbeit als Mundschenk „mit hochgeschürzter Tunika“ bei Festgelagen des bithynischen Königs Nikomedes ist später auch dem Konsul Caesar im Senat von seinen Gegnern vorgeworfen worden.
Das Thema Knabenliebe (Päderastie) ist bis in die Gegenwart hinein noch gänzlich ungeklärt. Je nach der ideologischen Brille wird sie so oder so beschrieben und bewertet. In der antiken Oberschicht, nur dort, war sie fast schon ein Muss, um den jungen Knaben zu einem richtigen Mann im soldatischen Sinne werden zu lassen: wehrtüchtig-kriegerisch, Schmerzen ertragen lernen, „mit festen Freundschaften“(Platon). Alles Eigenschaften, die in einer Schlacht nützlich sein konnten.
Also waren alle schwul.
Nein, so kann man das nicht benennen. Der Begriff „homosexuell“ ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Das Leben in der Antike muss man sich ganz anders vorstellen als man heute denkt.
Im Zentrum dieser Männerwelt in einem Männerstaat stehen trotz allem neben dem Militär und der Intellektualität, also was Politik, Gesetzeswesen und das philosophische Denken der rivalisierenden Weltanschauungs-Schulen betrifft, Familie und Nachkommenschaft. Die Ehefrauen hüteten Haus und Hof und Kinder und waren sehr eigenständig, emanzipiert, würde man heute sagen. Eine Scheidung war leicht und unproblematisch möglich. Aber auch sie waren wie die Sklaven vollkommen rechtlos. Nicht einmal im Parlament durften sie mitbestimmen. In der Schweiz ist ja auch erst in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts das Frauenwahlrecht eingeführt worden.
Monogamie war auch in der Antike ein Muss. Man brauchte – die Oberschicht als Vorbild für die Gesamtgesellschaft – eine Ehefrau für repräsentative Zwecke und man brauchte Kinder. An eine Auferstehung nach dem Tod glaubte man nicht. Ein Weiterleben gab es nur mit Kindern der Kunst oder mit Kindern des Körpers. Es gab zahlreiche Sklaven im Haushalt, und mit denen konnte gemacht werden, was man wollte, denn sie waren nur Dinge, Objekte. Man konnte sie sogar, was Caesar wohl einmal aus Eifersucht gemacht hat, willkürlich hinrichten lassen im eigenen Haus, wenn man das römische Bürgerrecht besaß. Das römische Bürgerrecht besaßen nur wenige, ausnahmslos auch nur Männer.
Die Tür für sexuelle Nebenbeziehungen und außereheliche Praktiken etwa der Homosexualität war weit offen und akzeptiert, denke ich. So etwas wie Liebe im christlichen Sinn oder Verliebung gab es wenig. Wichtig war nur die Lust – Aristipp begründete sogar schon im antiken Griechenland zur Zeit Platons eine Philosophie der Lust – und es gab die Genealogie, dass man einen männlichen Nachfolger und Erben wie auch immer hatte. Was gar nicht so leicht zu bewerkstelligen war, wenn damals wie heute nur das Vergnügen und nicht eine mühsame Familien-Gründung im Vordergrund standen. Liebe im romantischen Sinn oder emotionale Verliebung, wie sie so heftig in den Medien bei uns immer noch propagiert wird, als wenn nur das der höchste Sinn des Lebens sein könnte, gab es selten. Selbst Ovids Buch über die Liebeskunst kümmert sich mehr um die Technik der Verführung als um emotionale Verfallenheit.
Auch unter Frauen gab es Homosexualität.
Ich denke sogar mehr als heute. Wenn man von der Männerwelt so vernachlässigt worden ist und nur zum Kinderkriegen und Repräsentieren da war…
Ich denke, dass eine naturgegebene Liebe bis hin zur Bisexualität unter Männern, wie sie letztlich auch Freud mit all ihren Folgen postuliert hat, verbreitet war. Das bedeutet jedoch nicht, dass auch in unserer Gegenwart jede Liebe, jedes sexuelle Begehren gelebt, praktisch werden musste. Im Gegenteil. Nach Freud und seiner Theorie braucht jede Lust Sublimation. Nur so sei ein soziales Leben möglich. Im Glauben des Buddhismus will das Begehren immer mehr und mehr an Befriedigung, wird schließlich zu einer Verfallenheit, zu Sucht und Leid. Also muss in einem asketischen Leben jede Art von Befriedigung und Lust eingeschränkt bleiben. In der Tierwelt gibt es immer nur kurze und festgelegte Brunftzeiten.
Wenn man in der antiken Literatur so wenig darüber liest, liegt es vielleicht daran, dass Sex einschließlich bisexueller Prostitution (Sklaven aus Alexandria sollen besonders „lasziv“ gewesen sein) selbstverständlich war, dass man aber nicht über solche Dinge, sei es mit Frauen oder Männern, geschrieben hat. Auch über Krankheiten, Klima, Kleidung, Architektur oder Musik hat man sich nur wenig geäußert.
Oder die christliche Zensur hat im Laufe der Jahrhunderte sorgfältig alle Erinnerungen daran eliminiert. Intensive Männer-Freundschaft, auch im Sinne von platonischer Liebe, war jedoch in der ganzen griechisch-römischen Antike mit einer der wichtigsten Werte überhaupt. Existieren bedeutet, im Blick eines Freundes zu leben. So hat das in der Renaissance dann Michel de Montaigne, einer der wichtigsten Seneca-Kenner und Seneca-Vermittler überhaupt, auf den Begriff gebracht.
Während heutzutage jede Art von Männer-Freundschaft direkt in die schwule Ecke gedrängt wird.
Was ich ganz falsch finde. Da sind uns die Frauen immer noch weit voraus. Ihre Vorstellung von Liebe unter Frauen schließt nicht immer den Orgasmus oder sexuelles Begehren ein, im Gegenteil. Nichtsdestotrotz musste Augustus später als Kaiser all diejenigen steuerlich begünstigen, die überhaupt noch Kinder in die Welt setzen wollten. Auch er hat sich diesbezüglich sehr schwer getan. Auch die Literaten in seinem Kreis waren alle, das kann man neuzeitlich sagen, hetero und homo zugleich. Anrüchig war eher für ein Mitglied der Oberschicht, dass man sich überhaupt mit Sklaven, also minderwertigen Wesen, sexuell eingelassen hat.
In der herrschenden Philosophie der Zeit, der Stoa, ist Monogamie und Treue ein Muss. Sexualität wird nur zum Kinderkriegen empfohlen. Sexualität im Sinne von Lust um der Lust willen, wie es etwa die Philosophen des lustvollen Lebens, die Kyrenaiker um Aristipp gelehrt haben, wird abgelehnt. Was ja von der vatikanischen Dogmatik samt ihrer Heiligen Kongregation, die früher Inquisition genannt wurde, bis in die Gegenwart hinein übernommen worden ist, wenn auch vergeblich.
Heute ist uns diese Haltung, dass die Lust mehr zum Kinderkriegen nur aufgespart werden soll, befremdlich. Was nicht bedeutet, dass ein solches Verhalten nicht auch bedenkenswert sein kann. Askese und Lust sind isosthenische Gegenpole, also auch Gleichwertigkeiten, welche die gesamte Menschengeschichte überdauert haben und überdauern werden, sofern wir nicht zu fremd gesteuerten Maschinen oder zu Klonen werden wollen. Buddha lehrt, dass alles Leid nur aus dem Begehren kommt. Ich wiederhole mich.
Mit dem Christentum entwickelte sich eine richtige Zeitenwende.
Ja, das antike Denken aus Griechenland, das in Moral und Philosophie immer noch das römische Denken beherrschen konnte, war am Ende. Die tierische Aggressivität und auch „phallische Sexualität“, wie sie noch im römischen Staat gepflegt wurden, fanden im christlichen Denken ihren Widerpart und ein Ende. „Phallisch“ oder auch „Phallokratie“ ist eine Neuprägung von Jacques Derrida, um das Wesen „Mann“ den heutigen Frauen besser verständlich zu machen oder die naturgegebene Männlichkeit im Sinne einer Gender-Ideologie augenzwinkernd auch nur schlecht dastehen zu lassen. Eroberungskriege mit hohem Blutzoll wurden von Seneca in Frage gestellt. Auch das römische Wohlleben, meines Erachtens immer noch vorbildlich bis in die Gegenwart hinein, wurde von den frühen Christen ebenfalls abgelehnt.
Seneca gilt als der geistige Vorläufer dieser Bewegung.
Ja, wenn man der Geschichtsschreibung glauben kann. Er soll sogar Brief-Kontakt mit dem Apostel Paulus gehabt haben. Das war jedoch eine christliche Fälschung, wie die Forscher später herausgefunden haben oder herausgefunden haben wollen. Paulus, der zu Senecas Zeit in Rom im Gefängnis auf seine Hinrichtung gewartet haben soll, war zwar ein syrischer Juden-Christ. Er war aber auch römischer Staatsbürger, der nur in einem Prozess vor dem Kaiser in Rom zum Tode verurteilt werden konnte(3).
Seneca hat das Christentum gedanklich zumindest vorweg genommen, letztlich indirekt als große philosophische Autorität der Spätantike auch popularisiert. Die Götter im Olymp waren tot. Gott existiert für ihn, wie auch für Platon, nur als ein Einziger und war dazu auch nur rein geistig erkennbar. Senecas Menschenbild war neu, ja revolutionär: auch Sklaven sind Menschen, keine zu benützenden Dinge mehr. Ebenso auch die Frauen. Monogamie und eheliche Treue wurden Zentral-Werte in seinem Verhaltenskodex. Lust um der Lust willen, also Tafel-Luxus oder auch Sexualität, werden von Seneca als „Genuss-Sucht“, ja sogar als Seuche abgelehnt.
Er hat auch die politische Gewaltherrschaft und das Diktat des Krieges abgelehnt.
Ja, als ein weiteres Ergebnis seiner Erfahrungen an Neros Kaiserhof. Die Welle von Gewalt, das kriegerische Handeln und die blutige Aggressivität einschließlich den grausamen Vergnügungen der Unterhaltungswelt im Zirkus wurden bei Seneca gänzlich durch einen friedliebenden Pazifismus abgelöst. Mensch sein bedeutete jetzt: friedliebend sein. Der soldatische Mann, den alle griechischen Philosophen zumindest stillschweigend akzeptierten, politisch akzeptieren mussten, war zumindest als Ideal am Ende, auch wenn er zur Verteidigung des Weltreiches immer noch notwendig war. Aber bis zum endgültigen Untergang des römischen Reiches dauerte es ja immer noch einige hundert Jahre, wenn man die späteren christlichen Kaiser ab Konstantin noch weiterhin dazu rechnet.
Das alles findet man in den Lucilius-Briefen?
Die Lucilius Briefe lesen sich tatsächlich wie eine versteckte Apologie der christlichen Werte und Lebensform. Viele Ideen darin sind neu und christlich: die Ablehnung der militärischen oder politischen Gewalt, die stoische Moral samt dem Bekenntnis zur Monogamie oder die Ablehnung einer übertriebenen Welt der Lust, der monotheistische Gottesglaube – es gibt nur noch einen Gott, und dieser Gott ist nur geistig erkennbar, nicht sinnlich. Ich wiederhole mich. D.h. die römischen Götter im Olymp werden alle nicht mehr erwähnt.
Warum passt Seneca so gut in unsere Gegenwart?
Man kann vielleicht sagen: Senecas Ethik kann fast lückenlos in unsere Gegenwart übertragen werden. Sie entspricht sogar in großen Teilen den gegenwärtigen Menschenrechten. Das bedeutet: Sie kann leicht übertragen werden in unsere Zeit mit ihrem Luxus, voll Krieg, voll mit Gewalt und geistiger Desorientierung, um nicht von Verwirrung zu reden. Moralisch geht in unserer Gesellschaft, die doch irgendwie eine andere Art von Sklavenhalter-Gesellschaft immer noch ist, fast alles. Für Familie oder Kinderkriegen setzen sich heute nur noch die Homosexuellen und der Papst ein.
Nur das römische Gesetzeswesen, der Codex romanus, an dem ehrgeizig und sehr erfolgreich immer wieder gebaut worden ist und der in der gegenwärtigen Gesetzgebung immer noch weiter lebt, hat das riesige römische Reich zusammen gehalten. Nicht zu vergessen auch das Militär.
Was hält dann unsere westliche Gesellschaft noch zusammen?
Eben auch das Gesetz. Zwar leben wir selbst heute noch in einem Militärstaat mit Polizei und strengen Klassengegensätzen, um nicht von Kasten wie in Indien zu reden. Auch zentrifugale Kräfte der Auflösung und Trennung gibt es mittlerweile genug. Aber wir leben weiterhin in einem Rechtsstaat mit einer mehr oder weniger erfolgreichen Gewaltenteilung.
In der antiken Welt hat sich schließlich auch die Schule der Stoa durchgesetzt, trotz der vielfältigen Sekten und Gruppierungen, die aus aller Welt in Rom eindrangen und auch dort geduldet worden sind. Nur gesetzestreu konnte diese multikulturelle Welt überleben.
Rom war eine multikulturelle Gesellschaft?
Natürlich. Selbst die USA sind damit heute nicht zu vergleichen. Mit dem langsamen Absterben der griechischen Götter wurde Rom überschwemmt auch von ausländischen Religionen. Besonders beliebt waren die ägyptischen Mysterien mit Isis und Osiris. Ein Erfolgsrezept der römischen Integrationsbemühungen war die großzügig gewährte Freiheit der Religionsausübung. Alle eroberten Völker durften ihre Kulturen und Religionen behalten. Hatte man sich als einzelner im Staat verdient gemacht und bewährt, wurde man sogar römischer Bürger. Das war quasi ein Aufstieg in die herrschende Klasse, die wie heute auch eher sehr klein war. Die Geschichtsschreibung redet von nur wenigen zehntausend Bürgern (maskulin) mit Bürgerrecht. Die Einwohnerzahl Roms wurde zur Zeit Neros auf mehr als eine halbe Million geschätzt einschließlich Zuwanderern, Sklaven und Kriegsgefangenen. Wichtig war nur, dass man seine Steuern an den Kaiser bezahlte und später dann auch dessen Göttlichkeit akzeptierte – Dominus et Deus, Herr und Gott.
Die Religionsfreiheit galt aber nicht für die Christen im Untergrund.
Nein. Denn diese waren mit ihrer Weltanschauung eine existenzielle Bedrohung. Das hat der römische Staat sehr schnell erkannt. Dieser Kampf ging ja schließlich noch fast 300 weitere Jahre lang.
Sie betonen immer wieder das römische Wohlleben.
Ja, es gefällt mir. Sehen Sie sich nur die römischen Villen etwa im linksrheinischen Gallien an, im Dreiländereck-Eck Saarland, Luxemburg, Frankreich, wie perfekt und sinnvoll sie gebaut sind. Gedacht für Großfamilien und eine direkte Antithese zu den gegenwärtigen Ein-Kind-Familien im Ein-Zimmer -Appartement und ohne Mann.
Auch Senecas Privatleben ist irgendwie vorbildlich. Mit einem Privat-Trainer hat er jeden Tag selbst noch als Sechzigjähriger in der Früh Sport getrieben. Wie alle Römer war er während oder nach der großen Mittagshitze und vor dem Abendessen im heimischen oder öffentlichen Bad, in den Termen. Täglich! Dort gab es Sport, Lesestuben, Klatsch und Tratsch und so fort. Vielleicht auch Sex. Das Abendessen, mehr oder weniger opulent und manchmal mit einem großen Angebot an Unterhaltung, Kunst und auch Vergnügungsmöglichkeiten, Sex, gab es nach 16:00 Uhr.
Arbeit, für die Oberschicht meist Verwaltungsarbeit, war immer in den Morgenstunden zu erledigen. Danach war genug Zeit für Muße, Unterhaltung, Gespräche, Sport…Mit Sonnenuntergang ist man zu Bett gegangen und mit Sonnenaufgang wieder aufgestanden. Also jeden Tag zu einer anderen Tageszeit. Die Stunde des Pan, Geschlechtsverkehr, war übrigens um die Mittagszeit.
Das, was ich jetzt gesagt habe, ist natürlich nur idealtypisch wahr. Die Wirklichkeit war oft ganz anders. Vor allem rückten die zahlreichen Kriege oft sehr nahe an die Hauptstadt heran. Aber auch Ciceros Atticus-Briefe schildern anschaulich das römische Wohlleben, das eine gute Mitte zwischen Anspannung am Vormittag und Entspannung („Muße“) nachmittags bietet. Ob er für den großen Park seiner Villa am Meer eine neue Statue kaufen soll, fragt Cicero seinen besten Freund Atticus. Kunst war also ebenfalls wichtig.
Wir sind in einem Militärstaat, in einer Militärdiktatur. Hat sich Seneca dazu geäußert?
Wohlweislich nicht. Wie übrigens alle antiken Philosophen. Gegen das Militär hat er sich ebensowenig gestellt wie auch Platon oder andere Intellektuelle der Zeit. Ein Pazifismus wie heute war undenkbar, unvorstellbar. Mit Ausnahme vielleicht von Epikur und seiner Schule, der einen seiner Imperative „Lebe im Verborgenen“ propagierte und praktizieren konnte. Das alles, also die Neueinschätzung und Bändigung von Gewalt sowie der Versuch einer Domestizierung der männlichen Sexualität (Phallokratie) blieb dem Christentum vorbehalten. Vergeblich, wie ich schon eben gesagt habe. Die Todesopfer sind noch viel größer geworden in den Kriegen der letzten 2000 Jahre. Man sticht zwar nicht mehr mit Schwertern und Lanzen aufeinander ein. Tausende von Leichen vermodern nicht mehr auf den Schlachtfeldern. Aber ein Knopfdruck im Flugzeug kann noch viel mehr Menschen töten und ganze Landschaften wie Städte von heute auf morgen auslöschen.
Sie haben sich an anderer Stelle positiv über den spätantiken Kaiser Julian geäußert. Warum?
Kaiser Julian war einer der letzten, der das Rad der Geschichte aufhalten, ja sogar zurückdrehen und den Hellenismus wieder reaktivieren wollte einschließlich der antiken Götter. Seine Briefe sind meiner Meinung nach einige der bewegendsten Zeugnisse der Antike, die ich kenne. Ich schätze diesen Kaiser sehr, seine tragische Ratlosigkeit und Gebrochenheit. Dennoch war er ein Kaiser voll Toleranz, Stärke und christlicher Menschlichkeit. Ähnlich wie auch Marc Aurel, der letzte Stoiker auf dem Kaiserthron.
Julian war „postmodern“, würde man heute sagen: ein Kosmopolit und Nostalgiker, der sogar noch um 360 die antiken Götter wieder aufleben lassen wollte (4). Der gleichzeitig aber auch das neu entstandene Christentum akzeptiert hat. Das jedoch dieses Musterbeispiel von Toleranz und Bilateralismus in seinem zu Beginn sehr dogmatischen religiösen Fanatismus als eine neue Art von Teufel diffamiert und als Apostat („der Abtrünnige“ ) ins geschichtliche Dunkel gerückt hat.
Kommen wir zum Schluss. Sie haben im Vorgespräch zu diesem Interview angedeutet, dass Sie mit dem Blog-Schreiben aufhören möchten. Warum?
Ich denke, auch mein Schreiben kommt an ein Ende. Es gibt nun mehr als 345 Blogeinträge, die ich als Buch jetzt veröffentlichen möchte. Quasi als das Dokument einer Zeit, die ebenfalls wieder an einem Wendepunkt angekommen ist. Ich bin mir nicht sicher, ob sich das Bücher-Schreiben, das Bücher-Lesen in der jetzigen Form noch wird halten können. Ob wir Schreiber nicht auch aussterben werden wie die mittelalterlichen Mönchs-Schreiber vor dem neuen Zeitalter des Buchdrucks.
Deshalb dieser Titel?
Ja. „Das letzte Buch“, so lautet der Titel in Anlehnung an Maurice Blanchots „Der letzte Mensch“. Es ist die Summe des gegenwärtigen philosophischen Denkens jenseits von Fachdisziplinen wie Analytische Philosophie, Sprachphilosophie, Wissenschaftstheorie, Kritische Theorie etc. Ich versuche, die immer wieder von mir geforderte allgemeine, das ist auch journalistische Sprache im Sinne Montaignes einzuhalten und das Fach-Philosophische zu vermeiden. Die Aufsätze veröffentliche ich in der Reihenfolge, wie sie entstanden sind. Also mit unterschiedlicher Themensetzung, Poesie wechselt mit Kunst und Musik, Sprachphilosophie oder Wissenschaftstheorie trifft die Popkultur, Geschichte wiederholt sich in der Gegenwart und so fort. Ein richtiger Gemischtwaren-Laden. Es hängt natürlich auch damit zusammen, dass ich gegenwärtig das Musizieren und Komponieren spannender und wichtiger finde als das Bücher-Schreiben für einen nur kleinen Leserkreis.
Ganz früh und zu Beginn meiner von Alexey Chibakov immer wieder unterstützten Blog-Aktivität im Frühjahr 2014 habe ich schon die Frage zu beantworten gesucht, auch später in den englischen Übersetzungen von Andrew Walsh, warum ich ein Römer bin (5). In unserem Gespräch jetzt habe ich es wieder zu beantworten versucht. Dabei ist es geblieben: Ich bin immer noch ein Römer.
Eigentlich ganz gerne.
Vielen Dank für das Gespräch.
Seneca, Briefe an Lucilius, Lateinisch-Deutsch 2 Bände (Reclam)
Anmerkungen
1 Tacitus, Annalen, Historien in: Sämtliche Werke (Phaidon)
Sueton, Kaiserbiographien (Aufbau-Verlag 1985)
2 Seneca, Briefe an Lucilius über Ethik, 2 Bände Latein/Deutsch (Reklam 2014 Nr.19522)
3 Tiefenpsychologisch interessant und Freudianisch gedacht, was die Körper-und Lustfeindlichkeit des Christentums betrifft, ist der heftige Kampf des Apostels und intellektuellen Vordenkers Paulus in seiner syrischen Heimat für und dann gegen die Beschneidung. Sie wurde auch bei erwachsenen Männern durchgeführt. Ich denke, aus dieser negativen Erfahrung heraus – der Jude und römische Staatsbürger Paulus war vielleicht deswegen traumatisiert wie Platon 500 Jahre vorher durch eine vielleicht unglücklich erlittene Päderastie – lassen sich die Wurzeln der christlichen Sexuallehre bis auf den heutigen Tag herleiten.
Andererseits wurde bereits in der antiken griechischen Mythologie ein Sterblicher getötet, weil er die Göttin Artemis nackt gesehen und beobachtet hatte. DasThema Nacktheit und Sex stellt in unserer abendländischen Kultur ein sehr ambivalentes Thema immer wieder dar. Sogar der griechische Götterhimmel war voller Ambivalenzen.
4 Kaiser Julian der Abtrünnige, Briefe (Artemis 1971)
5 Reinhold Urmetzer, On Seduction. Ins Englische übersetzt von Andrew Walsh. 3 Bände.
On Seduction 1 ISBN 978-3-7439-4502-
On Seduction 2 ISBN 978-3-7482-6900-
On Seduction 3 erscheint demnächst