346 Begegnung mit der Antike (VII) – Warum ich ein Römer bin(2)
„Satyricon“, die satirisch-überspitzte Zeitschilderung aus dem römischen Reich des ersten Jahrhunderts nach Christus, wird immer wieder und weiterhin angeklickt (im Blog die Nr.25). Vielleicht wird damit gewünscht, dass ich etwas zu diesem Text sage oder weitere Erläuterungen hinzu füge.
Wir sind im Zeitalter Neros, nur wenige Jahre entfernt von seinem Sturz und auch dem erzwungenen Selbstmord des Satyricon-Schreibers Petronius. Ebenso wie Seneca hat er sein Leben mit Freitod beenden müssen auf Befehl des Kaisers. Vier Aspekte will ich in diesem Zeitalter heraus stellen, die dominierend waren und auch heute m.E. immer noch dominierend sind:
I) den Aspekt der Intellektualität,
II) den Aspekt der Aggressivität,
III) den der Sexualität, das heißt auch des Sexismus, und
IV) den der geistigen Desorientierung.
Alle diese vier Punkte sind m. E. in der Gegenwart ebenso wirksam geblieben oder wieder vorzufinden wie in der Vergangenheit. Wir alle sind Römer. (1)
I
Die Intellektualität hatte in der römischen Antike eine überwältigende Bedeutung, war fast wichtiger als Reichtum oder ein aristokratischer Stammbaum.
Es lässt sich am Beispiel Caesars und fast aller seiner direkten Nachfolger nachweisen, dass es für eine öffentliche Person absolut notwendig war, ein Redner zu sein, öffentlich, das heißt im Senat der Oberschicht, sprechen und argumentieren zu können. Am besten sogar rhetorisch, historisch und philosophisch geschult als Jurist in allgemein zugänglichen Prozessen, die immer eine große Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf sich zogen. Denn die Einhaltung und Weiterentwicklung der Gesetze, auf die man zu Recht besonders stolz war, und das Durchsetzen eben dieser Gesetze weltweit im großen Imperium durch Gerichte und die Staatsgewalt nur garantierten den Bestand und das Überleben der römischen Gesellschaft.
Eine solch wichtige Person in der Öffentlichkeit zu sein bedeutete, zur Oberschicht und damit zur herrschenden Klasse zu gehören. Ich bin ein römischer Bürger mit Bürgerrecht, bin kein Sklave, kein Ausländer, Migrant oder Zugewanderter, auch kein Freigelassener. Das bedeutet: Nur eine kleine Anzahl von Menschen der Oberschicht waren zur Mitbestimmung in der Gesellschaft angesprochen, das heißt bei einer Einwohnerzahl von ca. einer halben Million Menschen im Rom um 100 nach Chr.gab es schätzungsweise nur 30 000 wirkliche Römer. Nur diese kleine aristokratische Schicht hatte auch ein Anrecht auf juristischen Schutz vor Gericht, dem als letzte Instanz und bei schweren Verbrechen der Kaiser persönlich vorstand.
Schwere Verbrechen waren Frevel gegen die Götter, Ehebruch und Unsturzversuch. Diebstahl wurde so streng geahndet wie Mord und Totschlag, nämlich mit dem Tod. Gefängnisse gab es wenige, und wenn nur als Vorbereitung auf eine Hinrichtung, die immer sehr schnell und oft “mit kurzem Prozess” vollzogen wurde. Über Sklaven im Haushalt konnte frei und willkürlich verfügt werden bis hin zur drakonischen Bestrafung mit dem Tod. Caesar als Konsul wurde im Senat vorgehalten, er habe einen (Lieblings)-Sklaven aus Eifersucht ungerechtfertigter Weise hinrichten lassen.
Die oberste Instanz war der Kaiser. Der Senat unter Caligula hatte bis zu tausend Mitglieder (allesamt nur Männer; man mag sich in vieler Hinsicht tatsächlich ein arabisches Emirat vorstellen). Dieser hatte jedoch nur eine beratende Funktion. Dennoch spielten sich im Parlament heftige Debatten ab, die mitgeschrieben und veröffentlicht wurden. Man musste zweisprachig gebildet und informiert sein, die Werke der Vergangenheit in Griechisch und Latein kennen, lesen, verstehen und diskutieren können. Man musste also ein universal gebildeter Intellektueller sein.
Auch geistige Kreativität gehörte mit dazu. Gern gesehen waren Staatsmänner als Lyriker, Theaterschreiber, Reden-Schreiber. Ähnlich wie heute vielleicht nur noch in Frankreich. Ungern gesehen waren Politiker wie Nero als Schauspieler, Musiker oder gar Sportler oder Kämpfer in der Arena. Caesar war ein vorbildlicher Literat: er schrieb Berichte über seine Feldzüge, diskutierte sprachphilosophische Probleme mit Cicero und war in vieler Hinsicht auch ein Schöngeist. Auf seinen Feldzügen musste immer ein ganz besonderer MosaikTeppich in seinem Lager und Zelt mitgeführt werden. Über seinen Spanien-Krieg hat er sogar ein langes Poem verfasst. Wohingegen sein Adoptivsohn und Puer delicatus im Feld Oktavian als späterer Kaiser Augustus nur einige wenige Zeilen zustande brachte. Besonders literarisch bekannt wurde der Kaiser Marc Aurel, dessen philosophische Betrachtungen die stoische Philosophie weltberühmt machten bis auf den heutigen Tag.
II/III
Ein weiterer wichtiger Aspekt im Zusammenleben eines Römers mit Bürgerrecht war die Tatsache, dass im Bereich der Sexualität alles ging, wenn auch nicht öffentlich. Mätressen, Konkubinen, Sex mit Sklavinnen und Sklaven – alles war möglich, wenn auch nicht immer akzeptiert (wie heute auch). Ehebruch war jedoch aus Gründen einer eifrig gepflegten Genealogie pro forma und per Gesetz zu allen Zeiten streng verboten; nur haben sich die Männer weniger daran gehalten. Warum Sexualität und das Schreiben über Sexualität gar bis auf den heutigen Tag vielerorts tabuisiert wird, das ist eine weiterhin noch offene Frage.
Im 1. Jahrhundert nach Christus haben es die Herrscher und Kaiser ihrer Bevölkerung im Sexuellen vorgemacht: Caesar war jedermanns Frau und Mann (sangen seine Soldaten in einem Triumphzugs-Lied); Augustus-Oktavian verkaufte sich als achtzehnjähriger Puer delicatus im Spanien-Feldzug unter seinem Onkel Caesar für viel Geld an einen General und späteren Konsul. Caligula trieb es angeblich mit einem Pferd (zumindest musste man es wie ihn als Gottheit anbeten); Nero heiratete einen Lustsklaven und ließ sich als Frau von einem anderen vergewaltigen; Tiberius trieb es auf seiner Lustinsel Capri mit Kindern und General Galba, der spätere Kaiser nach Nero, ” küsste leidenschaftlich seinen Geliebten und erbat sich augenblicklich seine Gunst“, als er in Spanien die Nachricht von Neros Tod erhielt (Tacitus). Ganz zu schweigen von Domitian, der sogar das Abbrennen von Geschlechtsteilen seiner Opfer als neue FolterMethode erfand.
Das Christentum mit seiner revolutionären Lehre von Askese und Feindesliebe war angesichts solcher Exzesse eine Notwendigkeit, die nach den Gesetzen der Evolution oder auch der isosthenischen Logik sich hat entwickeln müssen. Liebe im heutigen christlich-fürsorglichen oder romantischen Sinne gab es kaum.
Vorherrschend war in dieser immer gewaltbereiten Männerwelt die männliche Triebbefriedigung, der Sex. Das heißt es herrschte in dieser Welt, die immer militaristisch-aggressiv, also hyper-emotionalisiert war, der reine Sexismus. Wobei in meinem Denken jede Art von Emotion den Sexualtrieb beim Mann (nur beim Mann) evozieren kann (2). Der soldatische, also auch sexistische Mann mit aggressiven Gefühlen den Mitmenschen gegenüber wurde in Rom wie in jeder Diktatur auch permanent trainiert, das heißt seit der Jugend anerzogen, konditioniert. Etwa durch die Oberschicht-Päderastie oder grauenhafte Zirkus- und Gladiatorenspiele („Grauenhaft“ ist schon mein christlich konnotiertes Verständnis des Begriffs).
Auch bei den Frauen der römischen Oberschicht, selbstbewusst-„emanzipiert“, wie sie manchmal waren und finanziell gut abgesichert in einer Großfamilie mit dem allmächtigen Pater familias als Oberhaupt an der Spitze, gab es Sexismus (Nymphomanie) auch lesbischer Art. Abtreibungen konnten leicht vorgenommen werden, das Aussetzen der Kinder an eigens dafür vorgesehenen Orten war möglich.Wichtig war aber vor allem, dass Nachkommenschaft gezeugt wurde. Warum?
Unsterblichkeit, eine beeindruckende Genealogie, also einen langen Stammbaum in der Tradition zu besitzen, der vielleicht wie bei Caesar auf die Göttin Venus zurück ging (3), das war neben dem Wohlleben in Luxus und Lust – dazu gehörte auch eine vorbildliche Körperertüchtigung mit Work- Life Balance, Sport, täglichem Thermenbesuch und Bildung der Jugend – ein wesentliches Lebensziel. Unsterblichkeit gab es jedoch nur mit Kindern des Körpers oder des Geistes.
IV
Theologisch glaubte man ab einem bestimmten Zeitpunkt an gar nichts mehr. Das heißt auch in Rom: alles geht! Nicht nur in der Moral. Es gab ägyptische Tier-Gottheiten neben dem monotheistischen Gott der Christen, es gab indische Derwische und weiterhin die für die Allgemeinheit immer unglaubwürdiger werdenden Götter im Olymp, die sich bekämpften, voller Ambivalenz und Widersprüchlichkeit handelten und gerade keine Vorbilder, keine Götter mehr waren. Man glaubte unter den Intellektuellen gerade nicht mehr an die Allmacht oder Unfehlbarkeit der Götter. Es gab zwar pro forma immer noch Rituale, Gottesdienste, Opfer. Und wenn man dagegen verstieß, war die Wut und Rache der einfachen Bevölkerung einem sicher. Aber einen einheitlichen Glauben an die Götter im Olymp gab es trotz zahlreicher Tempel nicht mehr.
Es gab weiterhin hoch angesehene Priester, etwa den Pontifex Maximus (heute Papst genannt), eine Position, die man als Politiker vorübergehend einnehmen musste, wenn man Karriere machen wollte. Selbst Cicero war kurzzeitig ein Pontifex Maximus und sich nicht zu schade, aus den Innereien der Opfertiere oder dem Flug der Vögel die Zukunft voraus zu sagen. Aber zum allgewaltigen Zeus betete niemand mehr.(4) Man glaubte auch nicht an eine Auferstehung oder Wiedergeburt. Man ging in die Unterwelt und dort verlief sich alles im weiten Reich der Märchen und Mutmaßungen. Nichts Gewisses war gewiss.
*
Und wie steht es nun mit unserer Zeit? Wenn ich doch wiederholt behaupte, dass ich ein Römer bin, wir alle im römischen Reich der Neuzeit leben würden? – Alle die oben genannten Exzesse haben sich bis auf das Thema Knabenliebe (Päderastie) gehalten, durchgesetzt, sogar verstärkt: Intellektualität, Aggressivität, Sexismus, Personenkult und Desorientierung werden im jetzigen Zeitalter des Post-Liberalismus, wenn auch achselzuckend, akzeptiert. Es muss ja nicht unbedingt ein Pferd sein, mit dem man es gerade treibt.
Und was hält dieses unser Reich zusammen, wenn nicht mehr die Moral? – Das Gesetz, das Gesetzeswesen, glaube ich. Samt den polizeistaatlichen Durchsetzungs-und Gewalt-Maßnahmen. Ein Codex von Gesetzen, an dem wie in der Antike weiterhin gefeilt, verbessert, gearbeitet wird bis auf den heutigen Tag. Ähnlich auch die subtile Weiterentwicklung von Polizeigewalt und Manipulierungsmaßnahmen der Bevölkerung durch das Internet.
Eine universelle Gesetzgebung zeichnet sich bereits ab. Der Zeitgeist einzelner Völker und Staaten wächst immer mehr zu einem universalen Weltgeist im Sinne Hegels zusammen mit einer einheitlichen Sprache, mit einheitlichen Gesetzen und einer allgemein akzeptierten Moral. Kein Widerspruch sind in diesem Entwicklungsprozess die zentripetalen Kräfte mancher Nationalstaaten gegenwärtig, die vergeblich auf ihre Eigenständigkeit hoffen und den universalen Zusammenschluss zu verhindern suchen. Die Entwicklung der Technik und der allgemeinen Gesellschafts-Steuerung ist m.E. jedoch bereits schon so weit fortgeschritten, dass es kein dauerhaftes Zurück mehr geben kann.
Zahlen und Berechnungen, also Digitalität, steuern mittlerweile fast ganz unser Wohlverhalten, unsere Kommunikation und bringen nicht zuletzt auch unsere Kommunikationsfähigkeit erheblich aus dem Gleichgewicht. Das Lesen, Schreiben und Sprechen wird trotz einer umfassenden „Wikipedisierung“ immer reduzierter, verkürzt-floskelhafter, auch und gerade in den politischen Parlamenten der zur Mitbestimmung aufgerufenen Menschen und Völker. Die Sprache wird immer machtloser. Das Zeitungs- und Bücherlesen stirbt. Ebenso die Philosophie, die vielerorts nur noch als Philosophy of Science akzeptiert wird. Selbst das Unterrichten von Philosophie wird mancherorts bereits eingestellt. Ich rede deshalb gern von einer Verkümmerung, wenn nicht sogar von einer Verkrüppelung dieser menschlichen Denk-Fähigkeit, wenn nicht sogar des ganzen Menschen. Verkümmert das Denken, verkümmert die Sprache – es verkümmert der Mensch.
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1 Lektüre: Tacitus (literarisch, dunkel), Sueton (leichter lesbar), Cassius Dio (sehr ausführlich, leichter lesbar). Alle drei Historienschreiber widersprechen sich selten. Das heißt: sie könnten sich alle drei auf eine einzige Quelle berufen haben. Zumal ihre Bücher bis zu 100 Jahre später geschrieben worden sind. Oder ganz einfach: Sie schreiben die Wahrheit!
2 Ich denke, dass es, um den weithin verbreiteten Sexismus der Männer zu verstehen, eine direkte Linie gibt von Emotionen wie Aggressivität, Trauer, Freude hin zur Libido und dem Wunsch nach Befriedigung, also Orgasmus. Auch Neurotiker besitzen eine übersteigerte Emotionalität, die zu einer starken Triebhaftigkeit führt. Und wer wird in einer Militärdiktatur mit ihren alltäglichen Traumatisierungen nicht neurotisch?
3 Bei dem Juden Jesus Christus musste es kein geringerer als König David sein.
4 Julian Apostata, ein später römischer Kaiser, der mir von allen am sympathischsten ist, wollte noch einmal auf friedliche Art und Weise den alten olympischen Glauben restaurieren – vergeblich. Das Christentum war mittlerweile zu stark geworden.