36 Die Stahlstadt
Die Stahlstadt¹
Folgen Sie mir in die Stahlstadt. Sie werden sich dort nicht fremd fühlen, nichts Unbekanntes wird Ihnen begegnen, Sie verblüffen, amüsieren oder zu verärgern suchen. Ich werde mich verständlich und unkompliziert ausdrücken, ein einheitlich-mittleres Niveau anstreben, wie wir es alle wünschen, nicht wahr. Ich werde keine langen Satzgebilde erfinden und diese manieristisch immer weiter in die Länge strecken. Ich werde auch keine dissonanten Sprachbilder einsetzen, die Kreuz-und-quer-Bezüge in der Argumentation, in den Beispielen und Erläuterungen einschränken und mich auch von den Kategorien der Science-Fiction-Literatur, wenigstens was rationale Logik und rationales Denken betrifft, entfernt halten.
Es wird sehr einheitlich und diszipliniert in dieser Stadt zugehen, nichts dort ist zusammen gestückelt, ironisch gebrochen, weit her geholt oder fragmentarisiert. Die Einheitlichkeit herrscht und die Abgrenzung. Abstände auch zu Veränderungsbemühungen werden mit großer Strenge eingehalten, denn die Gesetze der Statik garantieren jedem in der Stahlstadt Glück, so unwahrscheinlich dies uns heute auch noch vorkommen mag.
In der Stahlstadt leben die Stahlmenschen. Sie sind gleich und uniform, bewegen sich stereotyp und sehen glücklich aus. Sie kämpfen nicht gegeneinander, aggressive Konflikte haben sie sich ganz abgewöhnt. Ebenso wenig kennen sie Widerspruch, Kritik, Infragestellung – ihre Welt scheint heil und schön und alles hat darin seinen festen, unangefochtenen Platz.
Fühlen sich diese Menschen dennoch gelegentlich einmal unwohl, denn Menschen scheinen sie immer noch zu sein, auch wenn ihr Körper aus Stahl besteht, so schlucken sie Pillen oder schließen sich an die zahlreichen Zerstreuungsapparate an, die überall aufgestellt sind und zu billigen Preisen benutzt werden können. Ein gleichförmig freundliches Lächeln ist unentwegt auf ihren Lippen, so dass die hierzulande immer noch üblichen, vielleicht sogar notwendigen Reklametafeln dort überflüssig geworden sind.
Die Stadt ist eine Hauptstadt und sie wird von einem starken Herrscher regiert, der meist im Hintergrund des Geschehens bleibt und sich nur selten in der Bevölkerung zeigt. Der Grund dafür ist undurchsichtig; andererseits zeigt aber auch die Bevölkerung kein Interesse an einer Begegnung. Sie will in Ruhe gelassen werden und ihrer Beschäftigung nachgehen, jeder an seinem Platz, der ihm zusteht.
Da es wenig Probleme, wenig Entscheidungen zu treffen, wenig zu regeln gibt, ist der Herrscher fast schon überflüssig geworden. Manche glauben daran, und dies ist einer ihrer letzten Wünsche, dass alles bald von selbst funktionieren werde einschließlich dem Abtransport der Toten. Man spricht von sich selbst steuernden Apparaten, wie sie von Schriftstellern aus anderen Zeiten beschrieben worden sind, auch ähnlich den Automaten, die Fehler selbständig zu korrigieren in der Lage sind.
Die Gesellschaftstheoretiker haben als allgemeine Devise in die Welt gesetzt, dass Bewegungslosigkeit Wahrheit bedeute, denn Bewegung schließe Vergänglichkeit und Tod ein; das Aufhalten der Bewegung sei mithin die Überwindung der Vergänglichkeit und die Verschmelzung mit der Unbeweglichkeit. Dann lebe der Mensch statisch wie eine Marionette, und dies sei gut so, bildet man sich ein, ohne Leben, ohne sichtbaren Tod, immer auf einer Stufe und auch ohne Wünsche, die wiederum nur Unruhe und Bewegung verursachen würden. Freiwillig solle der Stahlmensch sich der Unfreiheit unterwerfen und darin glücklich sein.
Die Stahlstadt hat eine Stahlform, ist großzügig gebaut und wirkt eisern wie eine Festung. An der Grenze stehen Stacheldrahtverhaue, ein unsichtbares Kontrollsystem verhindert jeden Ausbruchsversuch, wenn es überhaupt jemals einen solchen geben sollte, denn dies wäre bereits ein bedenklicher Fehler im Überwachungs- und Steuerungsmechanismus. Das System duldet keinen Widerspruch, sagt man; Negativität wird wie in einem lebenden Mechanismus, mit dem die Theoretiker paradoxerweise ihre Stadt immer gerne vergleichen, sofort bekämpft und ausgelöscht. Ähnlich den früheren Diktaturen, die uns allen noch in schlimmer Erinnerung sind, ist eine strenge Durchorganisation und Kontrolle garantiert. Die Stahlmenschen akzeptieren es scheinbar gerne, ganz beherrscht zu sein.
Einige Übermütige sollen in früheren Zeiten versucht haben, das System zu ändern oder über die Grenzen zu gelangen. Aber sie haben nichts erreicht, und die Stellen ihrer sinnlosen Todeskämpfe sind heute noch zu besichtigen. Sie hatten tatsächlich dem Märchen geglaubt – man lächelt heute noch halb wissend, halb mitleidig in der Stahlstadt, wenn davon die Rede ist -, dass in diesem Land der Lärm der Städte, gleißende Lichter und die Willkür des Einzelnen eine blinde Herrschaft ausgeübt und dass in heftigen Kämpfen dort die Menschen sich in immer neuen Schüben und Wellen auszurotten versucht hätten wie Wahnsinnige.
Dass es auch einige Stahlmenschen bereits gegeben, diese jedoch einen schweren Stand gehabt hätten, heute auch “Helden der Stadt” genannt würden, hätte man nicht solche sentimentalen Erinnerungen an früher ganz abgeschafft. Dass man sich in diesen fremden Ländern in heftige Freuden eingelassen habe und viele Arten von Lust, Liebe und Leben habe genießen dürfen, erzählt man, und dass man schließlich auch das Arbeiten hat ganz aufgeben wollen.
Die Stahlseele unserer Stahlmenschen hat sich mit dem Schicksal abgefunden, ohne Bedürfnisse, ohne selbst gewählte Ansprüche und Interessen leben zu müssen. Man weiß von den Theoretikern, dass der Begriff der Freiheit nur eine Illusion sei oder, wie ein Philosoph früher einmal gesagt haben soll, Freiheit sei die Einsicht in die Notwendigkeit der Begrenzung, so dass die Seele dieser Menschen nur noch aus Eindrücken von Außen besteht, wie sie die Vergnügungsapparate beispielsweise liefern.
Man wirft eine Münze in einen solchen Apparat und sieht dann plötzlich – ich greife wahllos dieses Beispiel heraus – eine Tasse aus weißem Porzellan, schlank geschwungen und als dekoratives Beiwerk nur mit einigen wenigen Rillen versehen, welche die Oberfläche schmücken. Darunter eine ebenso schöne wie kleine Untertasse in altmodischer Gestaltung, ebenfalls weiß, aber mit einem feinen Goldrand versehen.
Eine Kanne aus dem gleichen Porzellan senkt sich jetzt über die Tasse, beugt sich tief nach unten, berührt fast den Rand, und eine heiße Flüssigkeit fließt aus der schmalen Öffnung, ohne an der Kanne herunter zu tropfen. Man glaubt, den Duft riechen zu können, man sieht den Dampf, und bittersüße Erinnerungen an eine ferne Vorzeit werden wach. Und schließlich entdeckt man den Tisch, klein und einfach, der mit einem hellblauen Tuch aus Kunstfaser bedeckt ist.
Die Stahlmenschen scheinen sich an solchen Bildern und kurzen Augenblicken der Vergangenheit zu erfreuen, aber sie lächeln auch mitleidig fast, wie wenn sie glücklich wären, nicht mehr dazugehören zu müssen.
1 Nachtlicht V
aus: Ästhetik Band 3/ Musikbuch S. 224ff