40 Jean Baudrillard (I)
Die Herrschaft der Dinge
“Die Dinge haben einen Weg gefunden, der ihnen langweilig gewordenen Dialektik des Sinns und der Bedeutungen zu entfliehen: Sie wuchern bis ins Unendliche, potenzieren sich und übersteigen ihr eigenes Wesen bis ins Extrem, bis hin zu einer Obszönität, die von nun an zu ihrer inneren Zweckbestimmung und unvernünftigen Vernunft wird”.
Was für ein wunderbarer Satz gleich zu Beginn eines seltsamen Buches¹, das immer wieder mehr als Kunst, mehr als Philosophie, Wissenschaft, Unterhaltung oder Poesie ist! – Es ist geschrieben von einem französischen Soziologie-Professor und es liest sich streckenweise wie ein Science-Fiction-Text, bei dem man wegen seiner skurrilen Ergebnisse und den provokativ übersteigerten Thesen oder Behauptungen immer wieder auflachen muss. Es geht also weniger um Wahrheit und “harte Fakten”(was für ein Wort!), als um Anstöße und Provokationen, den eigenen Weg zu überdenken, zu finden, zu spuren.
Ich werde diesen Satz (und in der Folge weitere Zitate) wie eine lateinische Satzkonstruktion zerlegen und zu entschlüsseln, zu übersetzen suchen, damit sein Sinn, sein Geheimnis deutlich und verstehbar wird. Denn er versteckt sich hinter ungewöhnlichen künstlerischen Tricks und Finessen (“Kunstgriffe” nannten das die russischen Formalisten), wie sie die französischen Schriftsteller und Philosophen gegenwärtig gerne anwenden (ich gehöre auch dazu).
Da gibt es einmal die seltsame Tatsache, dass Dinge, also seelenlose Objekte, plötzlich natürliche, ja sogar menschliche Eigenschaften besitzen. Die Dinge finden einen Fluchtweg, indem sie sich paradoxerweise quasi wie ein Krebsgeschwulst ins Unendliche vergrößern, “wuchern”.
Warum oder wovor fliehen sie? Sie fliehen vor einer Sache, die ihnen “langweilig” geworden ist, nämlich vor einem Zentralthema, auf dem ganze philosophische Systeme von Platon bis Hegel aufgebaut worden sind. Sie fliehen vor der “Dialektik von Sinn und Bedeutung”.
Unser Handeln besitzt immer Sinn und Bedeutung, ob wir wollen oder nicht, ob wir es wissen oder nicht. Unser Handeln ist sinnvoll auf einen Grund, eine Ursache hin. Und es hat eine Bedeutung, einen Zweck auf ein Ziel, einen Endzweck hin, den wir als Subjekt und denkende Menschen definieren können oder definieren sollen.
Nun geht dies aber nicht so leicht. Denn alles unterliegt einer Dialektik, ein platonischer Begriff, den Hegel als Meilenstein seiner Philosophie weiter entwickelt hat. Alles bildet sich – nach Heraklit – aus einer Gegensätzlichkeit heraus. Gegensätze reiben sich aneinander und finden schließlich das neue Dritte, die Synthese, den Konsens. Sinn enthüllt sich nur in der Auseinandersetzung mit Nicht-Sinn (ich sage nicht Unsinn, denn dieser Begriff ist inhaltlich schon zu sehr festgelegt, “konnotiert”). Bedeutung enthüllt ihre Bedeutung erst in der Auseinandersetzung mit der Bedeutungslosigkeit etc. These erzeugt eine Antithese, und beide finden sich dann aufgehoben in der Synthese, so Hegel. Isosthenien hat man bislang noch nicht berücksichtigt.
Nun behauptet Baudrillard, dass diese dem Denken immanente Entwicklungsstruktur den Dingen langweilig geworden sei. Sie möchten nicht mehr der dialektischen Entwicklung quasi wie die Menschen unterliegen, davon abhängig sein. Im Gegenteil: Einseitig wuchern sie vor sich hin, werden größer, mächtiger bis ins Unendliche hinein, keine Rücksicht mehr auf Antithesen, geschweige denn Synthesen oder Isosthenien nehmend. Wie zwei Geraden, die sich angeblich erst im Unendlichen schneiden, meiden sie die dialektische Auseinandersetzung oder Begegnung mit dem Anderen und kümmern sich nur noch solipsistisch um sich selbst. Sie möchten weiter wachsen, sogar bösartig wuchern, sie potenzieren sich dabei, werden größer stärker und sie übertreffen sich in dieser Entwicklung sogar selbst, denn sie können schließlich ihr eigenes “Wesen” sogar “übersteigen” bis hin zu einer Extremität, die Baudrillard seltsamerweise Obszönität nennt.
Also ist diese Entwicklung keine gute und positive, sondern eine gefährliche, negative “innere Zweckbestimmung”; später wird sie sogar “unvernünftig” genannt werden.
Diese unvernünftige Entwicklung hin zu einem übersteigerten, zu einem obszönen Extrem von Unvernunft ist eine ironische Verbeugung des Meisters aus Nanterre vor Hegel. Hegel proklamiert als Endzweck und Endziel jeder Art von Entwicklung gerade nicht die Unvernunft, sondern die Vernunft. Im dialektischen Entwicklungsprozess von Geist, Gesellschaft und Weltgeschichte wird schließlich trotz aller Wirrnis und Mühsal das Gute und Vernünftige siegen. Wir sind sogar nicht mehr sehr weit davon entfernt, denn nach Hegels berühmt berüchtigten Satz ist alles “Seiende vernünftig und (nur) das Vernünftige seiend”.
Was nun an diesem oben zitierten Satz von Baudrillard, der wie ein Paukenschlag sein Buch über die ” Fatalen Strategien” einleitet, das Verstörende, Unverständliche, ja schon fast Surreale darstellt, ist die Tatsache, dass die beschriebene Entwicklung zum Extrem, ja sogar höchst bedrohlich zur Übersteigerung in die Obszönität der Unvernunft führt, nicht vom Menschen oder seinem (hegelianisch geprägten) Geist und Willen ausgeht, sondern von den Dingen selbst. Die Dinge sind es, die selbst bestimmt wie Menschen wuchern, sich selbst “übersteigend” bis hin zu einer obszönen Extremität, um schließlich ganz – das sei jetzt schon vorweggenommen und der Gedanke wird euch keineswegs neu oder befremdlich vorkommen – den Menschen, seinen Geist, Gesellschaft und Welt zu beherrschen. Zu beherrschen also mit einer krebsartigen Wucherung und Extremität, gegen die wir einfache Menschen nicht mehr ankommen können.
Wir sind sogar schon in vieler Hinsicht nach Baudrillards Meinung Sklaven der Dinge, meist ohne dass wir es wüssten oder bemerken würden. Ja wir leben bereits – und darüber später – in einem wirklichen negativen Paradies.
*
In diesem ersten Satz werden zwei wichtige Stilmerkmale des Schriftstellers deutlich: Er personifiziert (1.) Dinge, die wie Menschen sich bewegen und verhalten dürfen, und (2.) tauscht er Begriffe in ihren Wortfeldern aus. Letzteres ist relativ ungewöhnlich, neu und verwirrend in der Sprache. Das heißt er nimmt Worte aus ihrem bekannten Kontext (Obszönität steht nur im Wortfeld der Sexualität) und setzt sie, irritierend genug, in ein anderes Wortfeld ein. Er bringt sie dadurch in einen neuen (Sinn-)Zusammenhang. Wie wenn wir mit einem medizinischen Fachbegriff plötzlich ein Phänomen des Klavierspiels beschreiben würden.
Den abstrakten Begriff “Ding”, philosophisch meist als “Objekt” bezeichnet, kombiniert er in unserem Fall mit dem sexuellen Bereich, als wenn Dinge “obszön” werden könnten. Ebenso wenig können sie wachsen, fliehen, krebsartig wuchern und dgl. Wie soll eine Vase wachsen oder wuchern können?
Er bewirkt durch diese provokative „Verschiebung“ einen Überraschungseffekt. Wir stutzen im Lesen erstaunt, verblüfft, verstehen nicht, lesen noch einmal und werden so zu einem sorgfältigeren “stockenden” Lesen gezwungen, was bekanntlich dem Verstehen und Verstandenwerden-Können förderlich sein kann.
Zwar bleibt Baudrillard meist im fachsprachlichen Vokabular etwa der Soziologie oder auch, gleichwohl versteckter, im Bereich der Philosophie, um dann doch plötzlich auszubrechen aus den bekannten Konnotationen (Wortfeldern) und uns zu verblüffen und zu verwirren.
Im Vokabular bleibt er der philosophischen Tradition etwa Hegels und seiner “Philosophie der Geschichte” treu (bei Hegel “wuchert” bekanntlich der Weltgeist dialektisch hin zu mehr Glück und Vernunft); er mischt diese Begriffe aber immer wieder bizarr und bezogen auf die Gegenwart und hier wiederum mit Vokabeln aus einem ganz anderen, ja fast schon Alltags-Bereich. (Wobei ich nicht unterstellen möchte, dass Obszönität unseren Alltag beherrschen würde).
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Wie steht es nun mit den Dingen? Werden wir tatsächlich so davon beherrscht?
Ist Geld nicht auch ein Ding, das uns in die Knie zwingen kann? – Geld ist nicht beseelt, es ist weder Mensch noch Tier und doch scheinbar allmächtig.
Oder wächst die Google-Krake nicht unaufhörlich weiter, ja will sogar die ganze Welt miteinander vernetzen, um dem Amerikanismus und der Digitalisierung die Weltherrschaft zu sichern? Ist diese Krake überhaupt noch zu bändigen oder zu stoppen? Und vor allem: von wem?
Oder wie steht’s mit den kleinen Dingen: Zahnbürste, Auto, Waschmaschine, Pille. Wie sehnen wir uns nach den Dingen! Die neuen Schuhe, billiges Benzin, Sonderangebote im Supermarkt? – Sind alle diese Dinge des täglichen Konsums nicht bereits zu heimlichen Herrschern unseres Lebens geworden? Was wären wir ohne sie?
Führen sie vielleicht bereits ein Eigenleben, ja steigern sie sich ohne unser Wissen nicht immer mehr zu einer fast schon allmächtigen Totalität, die wir nur noch macht-und fassungslos als stille Zuschauer erdulden können?
Explodierende Kernkraftwerke, Drohnenkämpfe in der Luft und im All, Lauschangriffe im Badezimmer und am Teetisch der Ministerpräsidentin, unmäßiger Vitamin-Gebrauch, verpestete Luft, verseuchtes Wasser, giftige Lebensmittel? – Ganz zu schweigen von meiner jetzigen Tätigkeit, Worte in eine Maschine zu tippen und…(ihr kennt meine Haltung und ich will mich nicht immer wiederholen).
Noch einen Schritt weiter.
Was ist, wenn Computer anfangen sich selbst zu vernetzen, wenn sie durch eine Fehlschaltung plötzlich unmäßig und gefährlich Handlungsanweisungen geben können, wenn die Kontroll-Computer ineffektiv, ausgeschaltet und statt dessen Roboter aktiv werden? Wenn uns Siri in unserer Verzweiflung freundliche Lebenshilfe im Smartphone anbietet, was Leben und Lieben und Sterben betrifft? Und wenn gleichzeitig und gleichförmig doch eine so schöne Popmusik (“Get lucky”) immer nebenbei im Kopfhörer klingen darf, die Nachrichtensprecher mit dem freundlichsten Lächeln der Welt die schrecklichsten Todes-Botschaften verkünden dürfen?
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(1)Jean Baudrillard,"Die fatalen Strategien"(Matthes&Seitz)1985
Fortsetzung folgt:
Über Verführung und Pornografie
Über Beschleunigung
Über Zustände der Ekstase
Über das Absurde im Denken und in der Argumentation