356 Vom Heiraten
Bücher von Reinhold Urmetzer in Nr.282
Brief an Lucilius 14
Du denkst bereits in jungen Jahren schon über Dein Testament nach, Lucilius. Das bedeutet nicht zuletzt, auch über den eigenen Lebensweg nachzudenken: Mit wem will ich diese Spur gehen? Wem will ich mich anvertrauen? Will ich alleine bleiben? Zu zweit sein oder doch eine Familie gründen, vielleicht sogar in einer neuartigen Großfamilie leben?
Nur das ist mittlerweile die Grundfrage der Gegenwart, die Frage unserer saturierten Gesellschaft geworden. Will ich mit wem auch immer eine Familie gründen oder nur für mich selber leben? Die Entscheidung für eine Familie ist existenzieller und grundsätzlicher Art, sie wird in einem starken Staat immer wieder die wichtigste Frage überhaupt bleiben. Art-und Selbsterhaltung sind also auch in Staaten die wichtigste Überlebensfrage. Nicht nur im einzelnen Menschen-Körper.
In „Anvertrauen“ steckt „Vertrauen“ drin. Dazu gehört meiner Meinung nach auch ein Heiratsversprechen, das Versprechen von vielleicht lebenslanger Treue und Vertrauen. In guten wie in schlechten Tagen. Das muss immer wieder betont werden. Deshalb sind Testament und Heirat m.E. so verbunden miteinander. Verantwortung übernehmen für das Ich und für das Du und inwiefern beide zusammen gehören können, vielleicht sogar lebenslang.
Körperliche Liebe im Sinne von Begehren und Sex kennt fast jeder Mensch, manchmal mehr, manchmal weniger.Was bedeutet jedoch geistige Liebe? Es bedeutet in meinem Verständnis sich für überzeitliche Begriffe wie Treue, Fürsorge, Verantwortung für den anderen einzusetzen. Wegen mir auch sexuelle Befriedigung wie auch immer, wenn Wunsch und Bereitschaft dazu sehr stark sind (eher bei den Männern).
Immer wieder komme ich auf Platons Alkibiades-Szene im Symposion zu sprechen. Nicht wegen der homosexuellen Komponente, sondern wegen dem Aufruf zu auch sexueller Mäßigung und Verzicht im Sinne der stoischen Schule und des späteren Christentums. Alkibiades, ein junger Star seiner Zeit und der Stadt Athen, wollte unbedingt bei einem Fest seinen Lehrer Sokrates verführen im Sinne von Sex mit ihm haben. Er bewundert sehr seinen Freund und Mentor, ist richtig in ihn verliebt im Sinne eines körperlichen Begehrens. Sokrates hat Frau und zwei Kinder. Darüber hinaus umgibt er sich mit jungen und sehr widersprüchlichen Studenten, darunter später so bekannten Philosophen wie Platon (nur das Geistige zählt für ihn, weil es überzeitlich, also göttlich ist), Aristipp (nur die Lust zählt als Lebenssinn) und Anthistenes (lieber wahnsinnig werden als Lust zu empfinden).
Die kritische Distanz zur Lust steht auch im Mittelpunkt der asiatischen Religionen. Nach Buddhas Lehre entsteht menschliche Leid aus dem Begehren. Denn das Begehren, also die Lust, findet nie ein Ende, will immer wieder mehr und mehr.
Sokrates lehnt den Wunsch nach Sex mit Alkibiades rundweg und mit launig-ironischen Worten ab: „Ich lag bei ihm“, sagt Alkibiades in Platons Bericht, „unter der Decke wie bei einem Vater oder Bruder.“ (1)
Dieser bis heute gültige Ansatz (2) von Platon und Sokrates, den Sex nicht so überaus wichtig nehmen zu wollen, gilt sowohl für hetero-wie auch homosexuelle Paare. Die Verselbständigung des Sex, „Ausdifferenzierung“ nennen es die Soziologen, nur die Lust für die Lebensplanung an die erste Stelle zu setzen, hat bis auf den heutigen Tag alle Kulturen und Denker immer wieder beschäftigt. Auch hier hat sich eine Isosthenie, eine Gleichwertigkeit der Gegensätze gebildet. Die Verantwortungsethik der Gegenwart stellt das Du an die erste Stelle, während der Solipsismus (solus ipse=alleine leben) in der Nachfolge des Materialismus nur die Befriedigung des Ich, auch in den absonderlichsten Spielarten, bevorzugt und argumentativ zu rechtfertigen sucht.
Ich habe jedenfalls durch das Heiraten tatsächlich erst das Lieben im geistigen Sinne gelernt und mich auch dadurch als Familienvater sehr geändert. Die körperliche Liebe geht leicht, die geistige ist um einiges schwerer. Sie braucht außerdem eine gewisse Zeit der Reife. Und Glück, dass man den richtigen Partner findet oder gefunden hat.
Vielleicht interessiert Dich mein Segnungsgebet für Paare anlässlich der Hochzeit von Á.P.Puerta und E. Enrique. Ich kann Dir andere Gebete zur weiteren Verwendung gerne zusenden. Sofern Du willst, ich kenne Deine Einstellung nicht so genau. Einen ähnlichen Text habe ich jedenfalls bereits zu meiner silbernen Hochzeit mit meiner Frau geschrieben. Pater J.Ramoso hat den Segen in einer kleinen Zeremonie vor sechs Jahren gespendet in St.Maria.
Gebet
Großer Gott,
Du hast diese beiden Menschen in Liebe zusammen geführt.
Gib ihnen Kraft und Stärke, diesen Weg weiter zu gehen in
Frieden und Freude. Einen Weg, den du ihnen vorgezeichnet hast schon vor langer Zeit.
Du bist der mächtige Gott des Lebens und des Todes, auch des Schicksals. Lass sie zur Vollendung ihres Lebens gelangen in Deiner Güte und Kraft, mit Dankbarkeit und Ehrfurcht vor dir und deiner Schöpfung und ihrer eigenen Natur.
Sie sind Musiker und sie spielen ihre Musik in Dur oder Moll für uns alle und zu Deiner Freude und Ehre. Diese Harmonie, die auch die Harmonie von Weltall, Gesellschaft und menschlicher Seele ist, möge sie und uns immerfort in Liebe und Treue begleiten.
Das gewähre uns der allmächtige Gott, wer auch immer er sei, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.
Gebet zur Heirat von E.Enrique und
Á.P.Puerta – Stuttgart, 19.7.2021
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1 Vgl.im Blog die Nr.283 „Platonische Liebe“
Vgl.auch „Über Sex“ (211) und „Über Befreiung – Coming Out“(98) im Blog.
2 „bis heute gültig“ geht auf Freuds Theorie/Narrativ der Psychoanalyse zurück. Freuds Paradigma, nur der genitale Charakter sei ein gesunder, das ist ein nicht-neurotischer Mensch, wurde von seinem Schüler Wilhelm Reich in dessen Orgasmus-Theorie weiter geführt: Nur der befriedigende Orgasmus, also die befriedigende sexuelle Lust führe zu einer gesunden Lebens-Energie. „Lebens-Energie“, heute in aller Munde und zusammen mit „Lust“ und „ Spaß“ wohlfeil im kapitalistisch orientierten Steuerungssystem (Konsumverhalten), war begrifflich eine Neuprägung und bindet körperliche wie seelische Gesundheit an die Orgasmus-Fähigkeit, was Freud nicht akzeptiert hat. Im Gegenteil: Nur die Kompensation oder auch Sublimation von Libido leite den Menschen zu kulturellen, wissenschaftlichen oder anderen sozial wichtigen Fähigkeiten, glaubt Freud. In den USA hat gleichwohl Reichs Lust- und Orgasmustheorie ganz bald eine große Anhängerschar gefunden bis auf den heutigen Tag.