359 Über Krieg und Freiheit (2)
Bücher von Reinhold Urmetzer in Nr.282
Wir sind leider wieder in einen vor-zivilisatorischen Zustand zurückgefallen, zurückgeworfen worden. Das hat sich die gesamte Nachkriegs-Generation in Europa niemals mehr vorstellen können. Wir sind tatsächlich jetzt fast im Reich von Orwells distopischem Roman „1984“ oder in Huxleys biotechnologischer Manipulations-Vision von der „Schönen neuen Welt“ angekommen.
Im gegenwärtigen Krieg der Ukraine gegen Russland geht es jedoch eher einen (noch schrecklicheren) Schritt zurück. Wir haben es nämlich, anders als in den beiden oben genannten Büchern, wieder mit Tieren zu tun. Diese wollen oder können weder sprechen noch bi- oder multipolar denken und handeln, sondern sie sind gezwungen, nur noch einer blindwütigen Totschlag-Gewalt sich und ihr ganzes Volk zu opfern. Und die meisten sind gnadenlos der Überzeugung, dass sie und ihr Volk unfehlbar im Recht sind, im Recht bleiben werden als Sieger. Selbst als Verlierer, als sterbende Soldaten oder Selbstmord-Kandidaten in den Zentren von Macht und Befehlsgewalt.
Weder will ich der einen noch der anderen Seite die alleinige und ausschließliche Schuld an diesem Krieg zuweisen. Dass wir es aber in den Zentralen der Macht mit sprachunfähigen, also blinden und bewusstlos handelnden Tieren zu tun haben und uns entsprechend auch vor ihnen und Ihrer Unberechenbarkeit schützen müssen, davon bin ich überzeugt. Schützen müssen nicht nur mit Waffen, sondern auch mit geistigen Kräften, mit Vernunft, Verstand und klugem Handeln. Und mit Sprache.
Was die DesInformationskampagnen in diesem Krieg betrifft (sie erfolgen ganz in der Art und Weise, wie sie in Orwells Roman beschrieben worden sind), so führen diese zu einer totalen Verwirrung von Sprache, Wahrheitsanspruch und Glaubwürdigkeit. Sprachlogisch ausgedrückt scheint es für mich Außenstehenden und philosophisch denkenden Menschen mit diesen neuartigen Methoden von Lüge und Verwirrung oft wieder zu einer Gleichwertigkeit der Argumente zu kommen, zu einer Isosthenie also, wo jeder Anspruch auf Wahrheit aufgegeben werden muss, weil beide Seiten Wahrheit und Recht für sich „mit guten Gründen“ in Anspruch nehmen. Gründe, die zu beurteilen ich oft nicht in der Lage bin.
Die Sprache, wie wir sie gegenwärtig in vielen Medien samt ihrer Berichterstattung kennenlernen, ist mittlerweile ebenso verwildert oder gar zerstört. Dies wird zukünftig auch allgemein durch die Internet-Kommunikation nur noch schlimmer werden: Es gibt in den Internet-Blasen auch der öffentlichen Medien und Journalisten „viele Wahrheiten“, selbst der alternativen Art, wie in einer typisch Orwellschen Neuprägung formuliert worden ist. Letztendlich wird jedoch in dem Maße, in dem das Schreiben und Lesen verkümmert, auch das Denken und Sprechenkönnen verkümmern. Es verkümmert der Mensch. Es werden nur noch rein animalische Fähigkeiten überleben. Das sind letztlich und wie immer die beiden existenziellen Notwendigkeiten der Selbst- und der Arterhaltung.
Die Sprachverwirrung ist ähnlich ausgeprägt im Imperium West wie im Imperium Ost. Auch zu DDR-Zeiten war die Sprache vollkommen verworren. Die DDR proklamierte den „Friedensstaat“ in ihren eigenen Grenzen, während die andere Seite in Westdeutschland der Aggressor war, vor dem man sich mit Mauern, Stacheldraht und Schießgewehren verteidigen musste und entsprechend auch Todesfälle in Kauf genommen hatte.
Umgekehrt wurden wir westliche Nachkriegsgenerationen mit Filmen konfrontiert, wo das Böse meistens aus dem östlichen Imperium stammte, gelegentlich auch aus China, während der Westen der unbedingte Verteidiger war von freiem Handel, zweifelhaften Geschäften (auch im Namen der „Freiheit“) sowie Menschenrechten und Wohlleben. Was letztlich ja auch mit Abstrichen gestimmt hat.
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Damit beziehe ich jetzt einmal und auch entgegen meiner sonstigen Haltung in anderen Blog-Aufsätzen eine feste und für mich seltene Position, obwohl ich doch ein Anhänger der antiken Schule der Skeptiker, also ein Pyrrhonist bin. Was würde diese Schule über den gegenwärtigen Krieg und die gegenwärtige Gleichwertigkeit vieler Argumente sagen? Es ist weniger ein philosophisches Problem der Wahrheit als Idee im Sinne Platons, sondern Putins „Spezialoperation“ ist ein Problem der Desinformation und nachfolgend auch der bewussten weltweiten Massen-Manipulation. Was folgt daraus, wenn Menschen aus dem rednerischen ehrlich-offenen Diskurs des Sic et non, also auch der freien Meinungsbildung, ausgeschlossen sind, machtlos bleiben? Wenn Resolutionen selbst der UN folgenlos bleiben müssen? Wenn nur noch die Gewalt der Panzer und Gewehre das einzig Mächtige wieder und wieder und fast allüberall geworden ist?
Im Urteil zurückhaltend bleiben, sagt der Römer Sextus Empirikus, und darauf achten, wie die Tradition in einem solchen Fall entschieden und gehandelt hat. Lebe im Verborgenen, sagten die Epikureer, oder ähnlich auch genieße den jetzigen Tag, empfehlen Aristipps Propagisten von Sex and Life. Die Stoiker schließlich empfehlen: Halte durch ohne Furcht, ohne Hoffnung. Sei tapfer! Ein neuer Tag bricht an, wenn die Nacht am dunkelsten ist. Sagt in ähnlicher Art und Weise auch das Christentum bis in die Gegenwart hinein.
Nach vielen Überlegungen und einer guten Portion Lebenserfahrung denke ich jedoch weiterhin und bis auf den heutigen Tag, dass nur der Begriff der Freiheit, wie er im Westen verwendet wird und im Gegensatz zur östlichen oder chinesischen Definition, überzeitlich, das heißt auch wahr sein wird. Wenn dieser so verstandene Freiheits-Begriff nicht mehr existiert, wird es auch keine Menschen mehr geben, sondern nur noch Mensch-Maschinen und Maschinen-Menschen,(das ist etwas anderes), die sich selbst steuern können, sowie Indoktrinations-Systeme, die diese Menschen zu Tieren oder zu Maschinen werden lassen. Gleiches gilt auch für den Einsatz von Cyber-Kriminalität, Manipulation der Massen oder dem Belohnen durch Bonus-Pillen für gutes Verhalten. Das ist die wohl unbewusste chinesische Interpretation von Skinners Walden II-Visionen oder auch seines spektakulären Essays „Jenseits von Freiheit und Menschenwürde(1).
Was also tun, um doch etwas konkreter und lebenspaktischer in diesen sprach-philosophischen Betrachtungen zu werden? – Sprachunfähige Gestalten müssen zumindest ausgetauscht und ersetzt werden durch wirkliche Menschen mit einem „anderen Blick“ und der Fähigkeit zum Verhandeln, das ist zum dialogischen Sprechen und Denken. Also Auswechseln, wenn Verhandlungen festgefahren oder unmöglich geworden sind. Zum Anerkennen bereit sein, dass die eigene Position auch ganz anders, auch ganz falsch sein könnte.
Damit das bestialische Totschießen auf beiden Seiten und zwangsläufig auch der eigenen Bevölkerung, dieser Mord sogar am eigenen Volk endlich ein Ende haben kann(2). Neue allmächtige und allwissende Götter werden dabei nicht mehr zum Vorschein kommen, auch wenn die Diktatoren der Gegenwart bereits immer schon sich so zu verhalten versuchten. Doch auch ihre Zeit wird einmal abgelaufen und zu Ende sein. Wie schon so oft.
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1) Skinner ist auch der einflussreiche Erfinder der psychologischen Verhaltenstechnologie und -Steuerung, über den ich bereits in diesem Blog immer wieder geschrieben habe. Vgl. die Nr. 358
2) Nicht nur Hitler hat sein eigenes Volk blindwütig obskurer Ideen und Wahnvorstellungen zuliebe geopfert.
Riga und Danzig im Juni 2023