360 Über Krieg und Frieden
Bücher von Reinhold Urmetzer in Nr.282
Lieber JSch.,
Vielen Dank für das anregende Gespräch. Sogar zum Blog-Schreiben bin ich wieder gekommen, was ich der Musik zuliebe fast schon ganz aufgegeben hatte. Ihr sehr pointiert vorgetragener Satz, der einzige, der im Krieg Russland-Ukraine die Wahrheit sagen würde, sei Putin, hat mich überrascht und zum genaueren Nachdenken und Nachforschen angeregt. Dergestalt, dass ich mich mit der Abelow‘schen Position beschäftigt habe. Daran anschließend auch mit der allgemeinen Kritik an der Züricher „Weltwoche“ und ihrem Chefredakteur Walter Klöppel, der scheinbar viele Positionen des amerikanischen Intellektuellen zu teilen bereit war.
Putin mag zwar zuweilen die Wahrheit sagen. Trotzdem hat er nach meinem Dafürhalten Tausende von unschuldigen Opfern, auch in seinem eigenen Volk, auf dem Gewissen. Das muss er verantworten. Niemand wird es ihm danken, selbst wenn er zu einem Heroen von manchen verklärt werden wird. Gleiches gilt ebenso und ebenso stark für Selensky, seinen Gegner. Kriege und deren Führer müssen weiterhin und noch viel mehr geächtet und im moralischen Sinn von Totschlag verurteilt und bestraft werden.
Das ist kurz gefasst schon meine Position, meine Überzeugung, meine Antwort. Es mag eine Umwertung gängiger Werte darstellen, die jedoch m.E.mittlerweile veraltet sind. Die Zeiten gehen weiter und ändern sich: Wer in unserem neuen Jahrhundert in Konfliktfällen nicht zu Verhandlungen fähig ist oder bereit ist, stattdessen ein ganzes Volk in Tod und Verderben zu stürzen, handelt kriminell wie ein Mörder. Das soll allgemein und jenseits der Schuldfrage für beide Kriegsparteien gelten. Begriffe wie Nation, Vaterland oder Selbstverteidigung müssen in diesem Sinn neu verstanden und beurteilt werden. Sie werden in der Mottenkiste der Weltkultur-Geschichte zu finden sein wie Sklavenarbeit, Hexenprozesse, Hinrichtungen und Vieles mehr.
Ich stelle und diskutiere an dieser Stelle nicht wieder die Wahrheits-, auch nicht die Schuldfrage, was ab 2014 in der Ukraine alles passiert ist und in anderen Ex-Sowjetrepubliken weiterhin passiert, auch passieren wird. Der Zusammenbruch Jugoslawiens scheint sich dort bald im Großen zu wiederholen samt den schlimmen KollateralSchäden, die bis heute im gesamten Balkan noch weiter wirken. Ich habe auch bei unserer Baltikum Reise diesen Sommer große Gegensätze in den unterschiedlichen Volksgruppen dieser Ex-Sowjetunion-Völker feststellen können, etwa in Estland oder Lettland, sowie eine starke Ablehnung des Russischen allgemein. Selbst wenn die russischen Wurzeln fast die Hälfte der Population in weiten Teilen dieser Länder ausmachen/ausmachten. Länder, die sich nur in russischer Sprache verständigen können, weil die ethnische Landessprache nicht von jedermann gesprochen wird. Dennoch wachsen Ressentiments, Vorurteile, Abneigungen immer mehr. Sie werden fast schon zu einem explosiven Gemisch wie vor dem Jugoslawien-Krieg. Dabei zeigt doch das Beispiel Schweiz so genau, dass das Zusammenleben ganz unterschiedlicher, ja fast schon gegensätzlicher Ethnien möglich sein kann.
Es geht mir nicht um Schuld, Wahrheit oder Rache. Es geht mir vielmehr darum, dass Frieden als ein hoher, wenn nicht sogar als der höchste moralische Wert innerhalb der Völkergemeinschaft neuzeitlich anerkannt und durchgesetzt wird. Die Antike war vielleicht das letzte Zeitalter der Zweikämpfe, der blutigen Schlachten mit Schild und Schwert, der Kriege. Im platonischen Himmel gab es zwar überzeitliche Ideen wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Schönheit. Nicht jedoch gab es in seinen uns überlieferten Texten die Idee der Nächstenliebe oder die Idee des Friedens. Die Idee der geistigen Liebe hat das Christentum erst in die Welt gesetzt. Ebenso muss – jetzt und im dritten Jahrtausend ist es definitiv an der Zeit! – auch die Idee des Friedens als ein allgemein anerkannter überzeitlicher Wert im Völkerrecht verankert werden, für den sich alle einsetzen und verpflichten müssen. Mehr als für Begriffe wie Nation, Vaterland oder Selbstverteidigung. Ich wiederhole mich. Dazu gehört auch, dass alles, was dem Frieden schadet, bekämpft werden muss. Besonders die Waffenproduktion und die Lieferung von Waffen an kriegerische Parteien. Ebenso muss auch der Geldkreislauf unterbrochen werden, dass man mit Totschießen auch noch viel Geld verdienen kann.
Ich habe in meinen zwei letzten BlogEinträgen problematisiert, ob die philosophische Idee der Wahrheit überhaupt in einem solchen Krieg ausschlaggebend, relevant sein kann, ob wir innerhalb der Relativität des Wissens, der Blickwinkel und der Erinnerungen überhaupt von Wahrheit sprechen können. Ich denke, dass wir im Zeitalter der immensen Ausbreitung von Pseudo-Wahrheiten und Pseudo-Wissen, dass wir die Wahrheitsfrage tatsächlich jetzt ganz ausklammern müssen und dass wir uns nur um die Friedensfrage kümmern sollten: Wie kann das sinnlose Totschießen junger Männer verhindert werden. Nicht was ist Wahrheit oder Schuld oder wie sie gefunden werden können, sondern wie sich ohne größere KollateralSchäden ein Weg finden lässt, der beide Seiten befriedet, also zum Frieden führt.
Uns Außenstehenden ist es vollkommen unmöglich, die Wahrheit herauszufinden, warum dieser KonfliktFall entstanden ist, die Wahrheit über Ölgeschäfte, die Wahrheit über Krimbrücke und Nord Stream 2, die Wahrheit über Geopolitik und Verteidigung, sogenannte zweifelhafte „historische Wahrheiten“ über… etc. Was uns bleibt ist nur das ratlose Abwarten und Hoffen, dass der Krieg nicht noch weiter eskaliert.
Denn es gibt immer noch auch eine große Fraktion von Kriegstreibern, die genau wissen, was wahr und falsch ist, die glauben, mit einem Totschieß-Programm Frieden in die Welt bringen zu können. Das Gegenteil wird der Fall sein, davon bin ich überzeugt.
Immer wieder habe ich in meinen BlogAufsätzen betont, dass alles nur Theorien sind, dass auch jede Position grundsätzlich plötzlich ganz falsch sein kann. Ich selbst habe dies in meiner frühen Jugend erlebt, dass alle meine Gedanken, Werte und Einstellungen vollkommen falsch waren, weil ich mich zu einseitig auf eine Position habe festlegen lassen. Dieses Festlegen war nicht eine Sache der freien Entscheidung, sondern eine Sache der Manipulation, Verführung und Indoktrination. Wahrheiten, wie sie über die Medien, d.h. damals noch vor allem über Zeitungen und Fernsehen weiter gegeben wurden, d.h. alle unsere so genannten wahren „Informationen“ konnten plötzlich fragwürdig werden.
Was folgt daraus? Zurückhaltung in der Festlegung des Urteils, sich einsetzen weiterhin für den überzeitlichen Wert des Friedens, dass dieser wie eine neue Idee im platonischen Himmel angesehen wird und dass auch danach gehandelt werden muss.
Ich teile auch nicht die im Gespräch mit Ihnen so definitiv vorgetragene Festlegung auf eine politische Partei in Deutschland. Zeit meines späteren Lebens habe ich mich selten nur auf einen Punkt oder eine Partei festlegen lassen. Ich habe mir verschiedene Positionen und Argumentationen immer jeweils punktuell herausgesucht, das herausgesucht, was mir gerade nützlich und richtig erschienen ist. Das bedeutet, dass ich sowohl links wie rechts, oben und unten, sowohl katholisch wie auch gelegentlich
protestantisch habe sein können.
Das betrifft auch meist meine Einstellung Parteien gegenüber, auch wenn sie wie in Ostdeutschland gelegentlich fragwürdige Positionen beziehen. Feststellen muss ich gegenwärtig, dass in Teilen Ihrer AfD und an deren Rand fragwürdige Sprüche der Vergangenheit wieder reaktiviert werden. Dass dort geglaubt wird wie in der Antike – auf eine missglückte Demokratie folgt zwangsläufig die Diktatur, glaubte sogar Aristoteles -, dass immer deutlicher alles auf eine Gewaltherrschaft hinauslaufen müsse sogar in der ganzen Welt.
Ich bin kein Anhänger des autoritären Besser -Wissens. In meinen zahlreichen Blogaufsätzen habe ich immer die Idee der Verständigung diskutiert und vor allem die Frage untersucht, warum Verstehen und Verständigung so schwierig, ja manchmal sogar aussichtslos erscheint.
Ich bin ein Anhänger des Post- Amerikanismus, schon immer. Auch des Post-Kommunismus und beides zusammen. Was danach kommt, das weiß der Himmel oder die Roboter der Künstlichen Intelligenz ( bereits groß geschrieben!). In verschiedenen Systemen (Blasen) jeweils verschiedene Wahrheiten zu finden, das scheint mir in Zeiten mit ausgeprägten Isosthenien jedoch durchaus nützlich zu sein.
Die Wahrheitsfrage über Ursache und Schuld im Krieg Ukraine gegen Russland lässt sich also wahrscheinlich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantworten. Beide Seiten haben seit 2014 schlimme Fehler gemacht, beide Seiten sind also auch mit schuldig an diesem Krieg. Ebenso auch andere Staaten mit ihren Waffenlieferungen für beide Seiten, ich wiederhole mich.
Ein weiteres Hauptproblem in diesem Kriegs-Diskurs ist die Frage, ob es ein Recht auf Selbstverteidigung geben kann, also letztlich auch das Recht auf Totschießen existieren darf.
Ich denke, die Weltgeschichte hat genügend gezeigt: es darf dafür kein Recht geben. Die Kollateral- und Nachfolgeschäden sind zu gewaltig. Vor allem ist und bleibt gefährlich die Waffenproduktion mit ihren so genannten „Fortschritten“ bis hin zu den „kleineren Atombömbchen”, die vielleicht „doch nicht so schlimm sind“. Ich plädiere ausdrücklich wieder und wieder gegen eine Konfliktlösung mit Waffen, dass nur Verhandlungen und nur wohlmeinende Verhandlungen zu einem Frieden als Ziel und obersten Wert führen, Frieden möglich machen werden. Dass also auch die Produktion von Waffen radikal eingestellt wird. In Kriegen darf es keine Verlierer, es darf auch keine Sieger geben.
Die Bösartigkeit, mit welcher die Ukraine und Russland gerade solche Verhandlungen gegenwärtig unterlassen, sogar zu verhindern suchen und verhindern, macht mich sehr besorgt. Denn jeder Krieg eskaliert nach und nach, wenn es wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine eindeutigen und schnellen Lösungen gibt. Ich kann mir vorstellen, dass in der Endphase eines Krieges, wenn es viel zu verlieren und zu bestrafen gibt für die Befehlshaber, auch letztlich Atombomben wie in einem kollektiven Selbstmord eingesetzt werden könnten. Auch Hitler hat vor seinem Tod noch tabula rasa gemacht und gezielt, vielleicht sogar wissentlich Ruinenstädte zurück gelassen wie jetzt Putin ebenso in Syrien oder in der Ukraine. Es bleibt also weiterhin ein dringendes Gebot der Stunde, dass verhandelt wird und dass in fest gefahrenen Verhandlungen die Verhandlungspartner ausgetauscht werden und durch neue Personen ersetzt werden. Dass weiterhin und hartnäckig miteinander gesprochen und nicht geschossen wird.
Um die Quintessenz noch einmal zu betonen, die ich immer wieder beschreibe: Notwendig ist auch im gegenwärtigen Konflikt der sofortige Austausch des Führungspersonals sowohl in Russland wie in der Ukraine. Weder Selensky noch Putin sind fähig, diesen Konflikt menschenwürdig und nicht tierisch zu lösen.
Dass dies scheinbar unmöglich ist, das sehe ich nicht.
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10. 3.2024 Der vatikanische Klerus hat sich in einem bedenkenswerten Appell in die weltweiten Kriegsauseinandersetzungen eingemischt. Papst Franziskus empfiehlt die weiße Flagge: Es sei keine Schande, zu resignieren und zu kapitulieren. Im Gegenteil, es sei eine Stärke. Ich denke das Gleiche. Besser gut kapituliert als schwer gestorben in den Trümmer-Wüsten einer ehemals blühenden Kultur.

