364 Wieder gelesen: Über Popmusik
BIOGRAFISCHES (4)
In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts war ich als junger Musikkritiker für die Stuttgarter Zeitung und die Berliner Taz nicht nur im klassischen Bereich von Oper oder akademischer Musik, sondern häufig auch in Popkonzerten unterwegs. Als einer der ersten Rezensenten überhaupt in der Republik wurde ich sowohl für Rock-Rezensionen als auch für klassische Musik (Konzert, Oper) eingesetzt. Mein Spezialgebiet war gleichwohl die Neue Musik, also die moderne Klassik. Man unterschied zu dieser Zeit streng zwischen U- (Unterhaltungs-) Musik und E-Musik, ernste Musik, Klassik. In entsprechende Sparten waren auch die Rundunkanstalten eingeteilt mit jeweils unterschiedlich orientierten Redakteuren und Ideologien.
Da ich als ausgebildeter Musiker von der Klassik herkam, hatte ich im Bereich der Popmusik einen deutlichen Vorsprung gegenüber anderen Kollegen aus diesem Bereich. Ich war geachtet und geschätzt über die Landes-Grenzen hinaus und landete schließlich bei den Fachzeitschriften des Schott-Verlags. „Das Orchester“ informierte die zahlreichen aktiven Berufsmusiker in Oper und Konzert, die „Neue Zeitschrift für Musik” war ein bereits von Robert Schumann gegründetes Fachblatt nicht nur für Kultur- und Musik-Intellektuelle.
Sehr schnell lernte ich in diesen Jahren das große Repertoire der Rock- und Popmusik kennen, ebenso auch die verstörenden Experimente der atonalen oder seriellen Neutöner in den Musik-Akademien unseres Landes. Desgleichen aber auch ihre hochnäsige Arroganz, die bis in die Gegenwart hinein geblieben ist, nebenbei bemerkt. Beide Welten beäugten sich kritisch und mit einer guten Portion Misstrauen, wenn nicht sogar Überheblichkeit und Ablehnung. Mitten in diesen antagonistischen Welten bewegte ich mich jedoch frei und ungezwungen und mit einer gehörigen Portion unerschrockener Neugierde der Jugend, die sich so schnell in Sachen Kunst damals nichts hat vorschreiben lassen. Dazu gehörten Supergruppen wie Queen oder auch Pink Floyd, die ich live in Dortmund mit ihrer spektakulären „The Wall“-Show erleben konnte. Mein Artikel für die Stuttgarter Zeitung wanderte damals ein erstes und einziges Mal sogar von den Feuilletonseiten in den mächtigen Politik-Teil im vorderen Abschnitt der Zeitung.
In dieser antagonistischen Welt bewegten sich auch Gurus der Neuen Musik und akademische Lehrer einer ganzen Generation von Adornisten und Fundamental-Dogmatikern. Auch das Stuttgarter bürgerliche Konzert-und Opernleben gehörte nicht zuletzt zu diesen Eckpunkten meiner Welt, in der ich mich durchaus vergnüglich und interessiert bewegte. Ich lernte im Laufe der Jahre fast alle Stars beider Welten persönlich kennen. Sei es zu Interviews im Gespräch für Fachzeitschriften oder sei es zu einem der zahlreichen Konzerte, die ich besuchen durfte. In diesem meinen Blog hier sind in der Rubrik Musik meine zahlreichen Erfahrungen festgehalten, die ich in beiden Lagern habe machen dürfen.
Warum ich schließlich aufgehört habe mit dem Besuch und Beschreiben der Popkonzerte? – Es war ein Konzert der Rockgruppe „Status Quo“. Schlechte Musik, schlechte Texte, ein höllischer Lärm in der übervollen Stuttgarter Schleyerhalle. Aber mit Tausenden von meist jungen Menschen um mich herum, die begeistert tanzten und glücklich waren. Und diesen Menschen sollte ich mit einer miesepetrischen Kritik, weil es tatsächlich so war, die Laune und Freude verderben, diese ihre wenigen Momente emotionalen Glücks schlecht machen und mit der Arroganz des Besser-Wissenden einen Abend, eine Lebenserfahrung schlecht machen? – Was bedeutete schon dieser mein Einspruch im Namen von „ Kunst“ und Können, wenn doch nur Pop im Spiel war, und was heißt „ nur“? – Ich konnte es einfach nicht mehr, beendete meine Rezensenten-Tätigkeit von Rockmusik und bin nun auch schon seit mehr als 30 Jahren in fast keinem Rock-Konzert mehr gewesen. Selbst den Besuch des leibhaftigen Auftritts in einer Stuttgarter Veranstaltung mit den Göttern der Musik, „The Rolling Stones“, habe ich ausfallen lassen. Zu groß war meine Angst, enttäuscht zu werden von diesen alt gewordenen jungen Menschen und Helden meiner frühen Jugendzeit. Denn ich war immer in der permanenten Auseinandersetzung mit gleichaltrigen Schulfreunden ein Anhänger der Stones und nicht der Beatles gewesen.
Meine Spur als Musikkritiker für zeitgenössische Kunst engte sich außerdem deutlich ein durch die Beschreibung von Experimental-Konzerten der Neutöner in den Akademien mit oft lächerlichen Ergebnissen. Mitsamt auch einer Welt, die von Sex and Life und Rock and Roll weit entfernt war, die mich von Jahr zu Jahr immer mehr befremdete und die mir schließlich überflüssig vorkam. Ja mich immer häufiger frühzeitig auch und ratlos aus den Konzertsälen dieser sogenannten „Avantgarde“ trieb. Zu weit entfernt vom wirklichen Leben mit seiner Sehnsucht nach Liebe, Abenteuer und neuen Erfahrungen war diese Welt.
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An dieser Stelle folgt jetzt und in der Rubrik “Wieder gelesen” ein Blog-Aufsatz von mir aus dem Jahre 2014 zu diesem Thema. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die Popgruppe “Roxy Music”. Sie war und blieb lange Jahre eine meiner Lieblingsbands.
Wieder gelesen ( Blog Nr.69, 2015)
Zu Eurem Vergnügen
For your pleasure
In my present state
Part false part true
Like anything
I present myself
Dieses Roxy-Music-Originalzitat habe ich vom Plural in den Singular gesetzt – enthält es nicht auch eines meiner Leitmotive? Ist mein Sosein hier und an dieser Stelle nicht auch halb wahr halb falsch wie alles in der Welt? Bin ich nicht auch eine Projektion von jedem einzelnen von euch, die ihr mich nur ausschnittsweise oder fast gar nicht kennt? Und begegnen wir uns nicht immer wieder mit Masken, selbst wenn ihr mir persönlich nahe steht im täglichen Leben? Also existiere ich fast gar nicht, bin mithin noch fiktionaler als die Fiktion von wem auch immer – stranger than fiction.
Und habe ich in den Anfangs-Texten dieses Blogs nicht ausdrücklich auch die Überraschung, das Vergnügen, Schmunzeln, den sexuellen Reiz als mein Programm euch vorgestellt, alle diese sprachlichen Tricks, um euch wie weiland die Tageszeitungen taz oder Libération an mich zu binden?
Doch was bleibt? – frage ich euch jungen Leute, die Ihr mich lest und studiert und gut findet. Was wollt Ihr von mir: Vergnügen, Pläsier, Neues, Fremdes, das Andersartige, Unaussprechbare?
Das Denken denken, sagt Aristoteles, es üben, kennenlernen, habe ich als Antwort verstanden und versprochen; auch Lesen lernen, auf Feinheiten achten und zwischen den Zeilen das Verborgen-Verlogene heraus filtern können. Verkümmert die Sprache, verkümmert das Denken; es verkümmert der Mensch – zu einer elektronischen Maschine, die sich mit anderen elektronischen Maschinen vergnügen will, muss ich mittlerweile hinzufügen. Zu einer Bildzeitungs- oder SMS-Kreatur, ohne mich einer Diskriminierung verdächtig machen zu wollen.
Doch genug der vielen unbeantwortbaren Fragen. Im Folgenden geht es um die Rockgruppe Roxy Music. Es geht um Schein und Maskerade, um Lust und Vergnügen, Oberflächen und Sinnlosigkeit. Also um uns.
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Ein Plakat mit Brian Ferry in der Stuttgarter Schleyerhalle hat mich an die Band Roxy Music wieder erinnert. Sie war viele Jahre lang eine meiner Lieblingsgruppen im Bereich der Rockmusik. Während alle Kunstbeflissenen und Musikstudierenden der Welt begeistert Supergruppen wie Genesis, Pink Floyd, King Crimson, The Doors, Gentle Giant oder Yes zujubelten – sie waren mit ihren anspruchsvollen LPs tatsächlich faszinierend und auch der modernen Klassik, etwa Karlheinz Stockhausens, der ihnen immer nur hinterher hechelte, weit voraus – hatte sich in Großbritannien unmerklich eine Antithese entwickelt, die wenig Wert auf Kunstfertigkeit und Komplexität legte: Roxy Music.
Es war die erste Band, zu der ich als 22jähriger nach Frankfurt ins Livekonzert gepilgert bin mit Bahnfahrt und Übernachtung. Donn, ein Freund aus der Schauspielschule, hatte sie mir empfohlen.Es war etwas Neues und radikal Einfaches. Angeblich wollten die Musiker nur den Rock and Roll der 50er Jahre wieder aufleben lassen mit Show, Tingeltangel, Maskerade. Man beschränkte sich musikalisch tatsächlich nur auf wenige Pop-Klischees, wenige Akkorde, wenige Instrumente.
Man wollte ein Spiel, eine Maskerade spielen – nur das – mit lasziven Frauengestalten (auf den Skandal-trächtigen Album-Covers) und einem Transvestiten auf der Bühne.
Aber die Texte von Brian Ferry waren alles andere als einfach und kunstlos. Sie waren schlicht verquer, manchmal auch unverständlich. Mit einer kummervollen Miene ohnegleichen, die Männern wie Frauen das Herz erweichen musste, wird die Lebenslangeweile trotz Liebe und Lust, trotz Upper-Class-Wohlstand und Modedesign zur Schau gestellt, ja unmerklich sogar an die Grenze zum Untergang geführt.
Auf der Bühne steht Leadsänger Brian Ferry, überraschend genug für die Parka-und-Jeans-Generation mit Jackett und Krawatte wie ein besserer Büroangestellter. Und mit dem Transvestiten links am Synthesizer (Brian Eno) hatte man auch in einer neuen Art die Aufmüpfigkeit der Rock‘n’ Roller mit ins Boot geholt und nicht vergessen. Denn Freude, Spaß und Tanz durften nicht zu kurz kommen. Wir wollen das Leben genießen dürfen, nicht wahr, und die wenigen Tage des Glücks ausgiebig feiern.
Aber hinter dieser verführerischen Maske von Ausgelassenheit und Lebensfreude, hinter der Begeisterung für Traumhäuser, Rauschnächte und aufblasbare Masturbationspuppen, auch ausgefallene modische Trends („Do the strand“), hinter diesem bewusst inszenierten Schein stand doch immer nur die Desillusionierung – das reine Nichts.”Gibt es einen Himmel? – Ich würde gerne daran glauben”, seufzt Brian Ferry voller Skepsis im Song “In every dreamhome a heartache” und macht weiter in seiner verworrenen Künstlichkeit.
Selten ist das Herzweh im Traumhaus mit Penthouse Perfection so seltsam betörend beklagt worden, selten stand ein Mann so erotisch-unerotisch da vorne auf der Bühne und bespiegelte seine Rollenprobleme als Mann im neu beginnenden Zeitalter der Frau. Denn was bleibt von der Liebe, wenn kein eigensüchtiger Sex mehr sein darf? Wenn nur verschlüsselte Codes noch ausgetauscht werden, wenn alles nur noch Scheinlügenstunden sind mit Einsamkeit in Avalon, schönen Transvestiten-Frauen, Liebessklaven und Selbstmitleid?
Wessen Boot ist gestrandet und am Untergehen, das im Publikum oder das von euch da vorne auf der Bühne? – frage ich mich. Nun gut, die Band produziert dann und wann auch schrill-schräge Attacken etwa mit dem Saxophon oder dem Synthesizer, um uns alle aus dem Tanz-Taumel der Selbst-und Weltvergessenheit zu reißen. Denn dazu sind die Musiker da. Sie sind nicht nur Unterhalter, Ablenker, sondern auch Künstler. Nach Ansicht des Time-Magazines hat sich mit dem Frontman von Roxy Music erstmals sogar ein richtiger Intellektueller in die Popmusik verirrt.
Und dieser Kunst- wie Künstler-Devise ist vor allen Brian Ferry als Textdichter treu geblieben. Vier Söhne hat er groß gezogen und sich mit Ihnen abplagen müssen. Ich weiß nicht, welche und wie viele Frauen ihm dabei geholfen haben werden. Mit der späteren Kultsängerin und Muse etlicher Rockstars Amanda Lear (“Follow me”), einem Transvestiten, war er befreundet. Sie ist es, die lasziv und mit schwarzem Panther das schöne neon-romantische Plattencover des zweiten Albums der Band schmückt.
„For your pleasure“ heißt diese LP, mit der Roxy Music den Durchbruch schaffte. Leitmotivisch klingt in den Liedtexten bereits all das Folgende an, was Jahre später dann exzessiv in immer neuen Wellen in der westlichen Welt auftauchen sollte, was die Mode aufgegriffen hat und was auch der gesellschaftliche Diskurs bespricht: das ambivalente Bekenntnis zum Vergnügen, zu Liebe und Lust, zu Mode und Ablenkung, weil sonst nichts mehr, auch gar nichts mehr da wäre und da ist. Keine Utopie einer neuen Gesellschaft, einer anderen Politik, kein Sozialismus, Atheismus, Idealismus und wie sie noch alle heißen mögen. Übervolle Eisschränke gibt es genug. Sie sind selbstverständlich geworden. Doch sie lindern nicht das seelisch-moralische Dilemma und Defizit der Zeit.
Denn dieses hedonistische Vergnügen schließt auch, was relativ neu ist, das Abseitige offen mit ein. Verstecken musst du das dunkle Tier in dir nicht mehr (“dark horse”), und tanzen will man als Liebes-Sklave die ganze Nacht hindurch in schön gestylten Räumen mit zweifelhaften Gestalten in der Dämmerung. Sie kommen und gehen, kommen und gehen wieder …
Kein Denken, keine geistige Anstrengung, kein Gott wird uns den Weg in diesem Neonnacht-Dunkel zeigen. Nur noch Spaß und Vergnügen und, wenn‘s hoch kommt und das Geld reicht, interessante Maskeraden, zu denen auch manchmal Sprechen und Schreiben und Kunst allgemein gehören, bilden unseren Lebenssinn.
Hier ist der gesamte Text des letzten Liedes der LP in meiner freien Übersetzung – er lässt in seiner somnambulen Mehrdeutigkeit fast alles zu:
Pläsier*
Zu Eurem Vergnügen
Halb wahr halb falsch
Wie alles in der Welt
Präsentieren wir uns
auf diese Art und Weise
Die Worte die wir
Verwenden fallen über eure Schulter hart und
Die ganze Nacht daliegen
Und das dunkle Pferd in dir
Verbergen solche Extreme
Verabscheuen
Nachts berührst du manche
Schulter mit deinen Sternen sie leuchten so
Hell und klar
Du wirst älter
Aufwachen und kämpfen gegen alles
Worüber du dir Sorgen
Gemacht hast ich
wünsch Dir viel Glück
Alter Mann
Mit jedem Schritt eine Veränderung
Weggehen siehst du mich
Jetzt
***
Für Nostalgiker folgt meine frühe Rezension eines Live-Auftritts der Band in der Liederhalle Stuttgart.
Überholt von der eigenen Geschichte
lautete die Überschrift im Kulturteil der Stuttgarter Zeitung.
Abstoßend war sie schon immer für viele, die Roxy Music, und faszinierend zugleich. “Zu eurem Vergnügen präsentieren wir uns in diesem Zustand, halb wahr, halb falsch – wie alles. Die Worte, die wir in den Mund nehmen, fallen über eure Schulter wie Steine, hart und einzeln. Aber ihr verabscheut solche Extreme“… – So lautete das neue Manifest der Popmusik, 1973 von der Gruppe in die Tat umgesetzt und entnommen der bemerkenswerten LP “For your Pleasure”.
Während Edgar Broughton noch lautstark “Now Freedom, now!“ durch die Verstärker-Boxen jagte (niemand glaubt’s ihm mehr), während die Studentenbewegung sich in einer dogmatischen Ecke festgebissen hatte und die Jesus- Revolution ausgebrochen war, verschreibt sich Roxy Music der reinen Künstlichkeit. Weltmännisch geschminkt wie vor einem Zusammenbruch, nach neuester Mode nostalgisch ausstaffiert und mit einem Transvestiten (Brian Eno) aufgepeppt, praktizierte man “Vaudeville”: Tingeltangel, effektvolles Theater, Spiel mit dem Trivialen im Namen von Sinnlichkeit und Unterhaltung (Pop).
Eine weitere Novität: Die englische Gruppe bietet ihrem durchaus anspruchsvollen Publikum musikalisch Pop-Klischees der Fünfziger Jahre an. Zwar etwas komplizierter und perfekter im Sound, aber doch banal genug, um neben den klanglichen Kolossalgemälden etwa Pink Floyds oder der Gruppe Yes immer noch genug zu irritieren. Bürgerliche Träume werden beim Wort genommen und als scheinbar melancholische Nachtstücke ausgeträumt: “Penthouse perfection” besingt Kunstakademiker Bryan Ferry, “Comfort seems so essential”.
Im Unterschied zu vielen Nachahmern hat die Gruppe ihre Ausstattungs-Maskeraden jedoch nicht vollkommen ernst genommen, was durch Text und Gesang deutlich wird. Eigentümlich ambivalent schillert das weinerliche Selbstmitleid Brian Ferrys, die exaltierte Larmoyanz seiner schmachtenden Liebeslieder an die nahe Geliebte im Swimmingpool, seine Begeisterung für Gummipuppen (“de luxe and delightful”). Blaue Sonnen und graue Lagunen werden schon im Augenblick ihres Entstehens gebrochen und ironisiert. Wahrheit ist in der Popmusik selten so deutlich gezeigt worden wie hier, weil keine Gruppe bisher die Lüge und den Schein überzeugender hat darstellen können. “Wahrheit ist die Saat, die wir sähen wollten”, klingt es klagend aus dem Lautsprecher – man glaubt es und lächelt.
Roxy Music 1980 in der Liederhalle, das kann und darf nicht mehr die gleiche Gruppe sein wie zu Beginn der siebziger Jahre. Vorbei sind die Zeiten, als extravagante Garderobe, Androgynität und schöner Schein inmitten einer politischen und kulturellen Aufbruchstimmung sensationell wirkten. In unserer Schaufensterkultur des schönen Scheins und der billig-schnellen Genüsse hat sich Ferrys so ironische “dancable solution to teenage revolution” endgültig durchgesetzt. Roxy Music ist von der eigenen Geschichte eingeholt, ja überholt worden.
Konsequent musste sich deshalb die Gruppe, wenn sie nicht nur alte Erinnerungen wiedergeben wollte, ein anderes Image zulegen. Ihre Musik, die schon immer mit dem Banalen kokettiert hat, ist nun vollends bei der Unterhaltung (sprich Disco-Musik) angekommen. Das Auftreten der Gruppe (Brian Ferry ganz in Weiß, mit hoch gekrempelten Ärmeln wie auf einer Karibik-Kreuzfahrt) scheint sich als schöner Spiegel ebenfalls der smarten Penthouse-Perfektion angeglichen zu haben, die Ferry so oft beschworen hat.
Beeindruckend und konsequent auch das Bühnenbild, wo die Gruppe zuerst verdeckt, dann inmitten moderner Fensterjalousien und knalliger Neon-Effekte ihre Tanzcafé-Unterhaltung präsentierte. Für viele Roxy-Fans war das Konzert deshalb wohl eine herbe Enttäuschung, zumal Brian Ferry im Gegensatz zu früher ohne jegliche Distanz im Geschehen aufzugehen schien (und noch nicht einmal darin vollkommen überzeugte). Aber “Roxy” heute: das sind Amanda Lear, Roller-Skating und schwungvolle Musik. Für “moderne Zeiten” gilt mehr denn je Ferrys 1973 propagierte – und unübersetzbare – Gebrauchsanleitung: “Do the Strand!” – Auch wenn ein “gestrandet” letztlich dabei herauskommen sollte. Das Konzert war nicht enttäuschend, es war nur logisch und konsequent.
Stuttgarter Zeitung (5.Juli 1980) Nr.153
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Brian Ferry wird am 6. Dezember 2014 in der Stuttgarter Porsche-Arena auftreten.
Kleine Hitparade 1: Roxy Music (jeweils mit Text/ Lyrics in dieser Reihenfolge hören):
For your Pleasure/ In Every Dreamhome a Heartache/ Slave to Love/ Dont Stop the Dance/ Street life / Do the Strand
* Unter diesem Titel gibt es eine Sammlung von drei Preis gekrönten Schwarz-weiß-Filmen des franco-saarländischen Regisseurs Max Ophüls aus dem Jahre 1951. Nicht mehr protestantisch-zerknirscht, ambivalent und voller Schuldgefühle wird hier das Vergnügen zelebriert. Im Gegenteil: Mit einer poetischen Leichtigkeit und Schönheit ohnegleichen fahren die “Damen der Madame Rosa” zur Erstkommunion der Nichte ihrer Chefin von ihrem “Arbeitsplatz” in der Stadt aufs Land. Wie abzusehen erfolgt die Konfrontation beider Welten unter bitteren Tränen. Nicht jedoch der Schuld und Zerknirschung, sondern einzig und allein unter dem Aspekt der Nostalgie: Die Erinnerung an das, was wir verloren haben, macht uns traurig.
Die Verfilmung einer Novelle von Guy de Maupassant (“Das Haus Tellier”) und eine ganz andere (französisch-katholische?) Sicht auf die Verführungen und Prüfungen dieser unserer Welt.
für Madlen Urmetzer