42 Jean Baudrillard (II)
Vom Ende des Sex im Imperium der Pornografie
“Die sichtbaren Dinge enden nicht im Dunkel oder im Schweigen, sondern sie verflüchtigen sich in dem, was sichtbarer als das Sichtbare ist: in der Obszönität”.
“Die Sexualität verflüchtigt sich nicht in der Sublimierung, Repression und Moral, sondern in dem, was sexueller als das Sexuelle ist: im Porno”. (Jean Baudrillard, “Die fatalen Strategien” S.12)
Ich habe im letzten Blog-Beitrag von der Herrschaft der Dinge gesprochen, die totalitär werden. Baudrillard nennt diesen Zustand der Extremität und Dingherrschaft obszön.
Aber nicht nur die Dinge, auch die Lust in Form von Sexualität kann einen Extremzustand erreichen, der alles überragt und dominiert, das Reich der Pornografie. Sexuelle Energie in Kunst, Arbeit, Kultur, Wirtschaft umzuleiten, weiter zu leiten, zu sublimieren, das kennen wir von Sigmund Freud. Sexualität zu unterdrücken, vor allem die ungewöhnlichen Spielarten, sie zu knebeln, vielleicht ganz nur an ihre Fortpflanzungs- und Zeugungsfunktion zu binden, das war Repression. Sie ging oft von der Staatsgewalt aus. Auch die Religionsgemeinschaften haben immer schon mit moralischen Gesetzen versucht, den archaischen Zustand von Sexualität zu domestizieren, nennen wir es nun einmal so, das heißt zu bändigen, in wie auch immer passende Kanäle zu führen, die unter Strafandrohung nicht verlassen werden durften. Was der Gesellschaft und ihrem Selbsterhalt nicht nützt, wird evolutionshistorisch abgelehnt, auch verboten, etwa die Homosexualität. Lust um der Lust willen bleibt fragwürdig.
Sexueller als das Sexuelle, also eine Steigerung ins Extrem, die Baudrillard später ironisch dann Ekstase nennen wird, wäre das Reich der Pornografie, quasi als eine Endstufe der sexuellen Entwicklung. –
Ihr werdet nun abwinken und sagen, genug davon, ok wir sind die Generation Porno, wir wissen es, man hat uns bereits so quantifiziert, qualifiziert. Wir wachsen auf mit diesen flimmernden Bildchen in schick gestylten Smartphones, die uns niemand verbieten kann, weder Kinderschutzbund noch Moralvorschriften von Staat, Kirche oder Elternhaus. Jedes Schutzprogramm haben wir zu umgehen gewusst, Filter geknackt, Geldkosten vermieden. Es lebe die Pornografie!
Wir haben eine Zeitlang diese nackten Körper wie kopulierende Kaninchen betrachtet, angestaunt, Perversitäten und Anomalien der sexuellen Lust kennengelernt und dabei genau gewusst, dass alles, was da so lustvoll über- und untereinander kreucht und fleucht, nur Simulation ist, Lüge, Schein.
Kein normaler Mann kann bei diesen zusammen geschnittenen Hochleistungs-Sportarten mithalten, keine Frau erträgt in andauernder Stöhn-Ekstase diese Variation von Penetrationstechniken, ohne gefühlskalt zu werden.
Dass homosexuelle Männer meist sogar auch gerne für Hetero-Pornos zur Verfügung standen, weil diese Spezies Mensch scheinbar besonders fit mit den Zeugungsorganen umzugehen versteht (einmal, dreimal, sechsmal !), um mich einmal vorsichtig auszudrücken, war mir gleichwohl neu. Wie auch der homosexuelle Blick, dies nebenbei bemerkt, wesentlich Stil und Design der Männermode bis auf den heutigen Tag prägt und manipuliert. Was ein schöner Mann zu sein hat, definieren die Homosexuellen in ihren Design-und Modestudios. Wer definiert die schöne Frau? – Das gegenwärtige magersüchtig-spindeldürre H&M-Plakat allüberall kann nur von einem Frauenfeind entworfen worden sein! Von Boticellis Frauen oder der antiken Darstellung der Göttin Venus hat dieser Mensch wohl noch nie etwas erfahren.
Obszön ist uns jedoch das alles überhaupt nicht vorgekommen. Wir haben wegzuschauen gelernt und den Ausschalte-Knopf betätigt.
Nach Baudrillards Beschreibung ist das Obszöne “eine Fülle, in der nur noch die Leere durchscheint”. Zwar leuchtet diese Leere mit einem verführerischen Schein – darüber später mehr. Aber das “Scheitern des pornografischen Universums” zeige sich gerade “in der offenkundigen Abwesenheit von Sinnlichkeit und Lust”.
Natürlich ist in pornografischen Kurz-Filmen kein warmer Körper sinnlich fühl- und erlebbar, kein Austausch der Worte und Zärtlichkeiten möglich. Schließlich, in einem Zustand quasi der Entropie, verschwindet sogar die voyeuristische Lust – sie will mehr, sie will Neues, Anderes und dies immer weiter bis zu diesem ekstatischen Zustand der Obszönität, bei dem die Leere durchscheint.
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Noch einen Schritt weiter. Vom obszönen Schein der Pornografie und ihrer Botschaft der Leere (Sexfilme sind meist nur Simulation von Realität) zum endgültigen Imperium des Cyber-Sex. In dem Essay “Die endgültige Lösung” (“L’échange impossible”, Paris 1999) schreibt Baudrillard:
“Die sexuelle Befreiung ist völlig ambivalent. Ihre erste Phase war die der Trennung von sexueller Aktivität und Zeugung: Empfängnisverhütung, Pille usw. Die zweite Phase, deren Konsequenzen noch schwerer wiegen, ist die der Trennung von Fortpflanzung und Sex. Der Sex hatte sich von der Fortpflanzung befreit. Heute ist es die Fortpflanzung, die sich vom Sex befreit. Eine entsexualisierte biotechnische Fortpflanzung, die von der künstlichen Befruchtung bis zum vollständigen Klonen reicht. Wir waren sexuell befreit, nun sind wir vom Sex befreit, das heißt der sexuellen Funktion virtuell ledig.”(S.41ff)
Frei flottiert die Sexualität in unseren kommunikativen Räumen, nur noch an Lust und zweifelhafte Selbstverantwortung gebunden.
Was für eine schöne Vision, die tagtäglich immer mehr Realität wird! Künstliche Befruchtung, Leihmütter, Samenbänke der Nobelpreisträger, Schwangerschaften der Frauen nach dem Klimakterium, Schwangerschaft der Männer wo und wann auch immer (im Unterschenkel wie weiland Zeus persönlich, als er Dionysos in die Welt setzte?). – Aussichten, die Science Fiction Autoren wie Jules Verne oder Ray Bradbury erblassen lassen würden.
Doch die Lust will Ewigkeit, sagt Nietzsche, tiefe tiefe Ewigkeit. Oder eher nicht? Kann es ein Zeitalter der freiwilligen Selbstbeschränkung, Zurückhaltung und Askese geben? Undenkbar! Machen wir weiter so unter Ausnützung all unserer wissenschaftlichen, körperlichen und kreativen Kräfte. Berufen wir uns weiterhin auf Sigmund Freud, auf Wilhelm Reich: nur der gesunde Orgasmus macht einen gesunden Körper. Ein Körper ohne Lust wird krank, nicht wahr.
Mit Kondom und Pille hatte sich der Sex von der Fortpflanzung befreit und sein eigenes schönes Reich der vielfältigen Lüste aufbauen können. Auch die Frauen durften nicht zurück stehen. Auch sie entdeckten unter dem Zepter des Feminismus und der Befreiung der Frau ihr eigenes Reich der Lust und Befriedigung, das sich von den romantischen Zuständen wie Verliebung, Zärtlichkeit oder Familienplanung abkoppeln konnte – ein bislang nur den Männern vorbehaltenes unmoralisches Privileg -, auch Frauen durften jetzt ihren “Mann für gewisse Stunden” nun einplanen, mieten wie einen Gegenstand.
Diese Befreiung des Sex zu einem lustvollen und verantwortungsfreien Genießen hat jedoch etliche Verwirrung und Konfusion in die Welt gebracht, wie ich meine. Mit Kollateralschäden bis hin zu einem heftigen und weltweit sogar kriegerisch geführten Dissens der Kulturen. Trieb die sexuelle Revolution, die vor allem in islamistischen oder konservativen Kreisen mit aller Gewalt wieder rückgängig gemacht werden will, doch immer mehr Paare auseinander und in “Nebenbeziehungen” oder zu neuen “Lebensabschnittsgefährten”, die einen mehr oder weniger langen Weg von selbst bestimmter Lust und Zweisamkeit zusammen zu gehen bereit waren oder eher auch nicht. Die nachfolgende Singularisierung in „offenen Beziehungen“, das Monadendasein vieler Menschen in der Vereinzelung (das Wort “Nomadendasein” passt auch immer wieder) in den westlich orientierten Kulturen hat zu erheblichen weltanschaulichen Verwerfungen und Sinnkrisen geführt.
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Doch mittlerweile hat sich auch dieses so volatile Lust-Reservoir oder Lust-Revier der sexuellen Revolution erschöpft. Es hat sich in der Zwischenzeit mit Hilfe von Technik, Wissenschaft und Wirtschaft jedoch eine weitere Lustquelle entwickeln können, diesmal wohl bedeutend neuartiger: das Reich des Cyber-Sex. Er hat Porno-Heftchen und Videofilme durch pornografische Computer-Spiele ersetzt, die ihren Endzustand (der Ekstase?) schließlich im Robot-Sex finden werden. Alles, was zu hoffen oder zu befürchten war, steht jetzt bald bereit.
Ich will diese schlüpfrige Materie (schlüpfrige Roboter?) nicht weiter ausführen, die auch geschlechtsspezifische Differenzierungen je nach den Erkenntnissen der Gender-Forschung bereit halten wird. Aber dass dergestalt menschlicher Sex im Sinne von liebe- und lustvoller Zweisamkeit ausgedient hat und durch Maschinenkontakte ersetzt werden kann, mithin die perfekte Lösung für alle solpisistisch dahin gelebt werdenden Wesen (man beachte meine sprachliche Neuschöpfung!), das liegt wohl auf der Hand.
Wenn das Sprechen miteinander nicht mehr geht, das Verstehen, die Verständigung; wenn wir in einem überschnellen Hamsterrad der Produktion und Reproduktion gefangen sind – wer kann es uns verdenken, dass wir keine Kinder mehr in die Welt setzen wollen, uns mit eigensinnigen Partnern abmühen müssen oder sogar noch Verantwortung für eine Familie übernehmen sollen? – Eher Nein.
Nicht Sex haben mit wem oder was auch immer ist die drängende Frage der Zukunft, sondern Familie ja oder nein? Und das bedeutet auch trotz aller positiven Aspekte des Kinderkriegens: Selbsteinschränkung unseres hemmungslosen Individualismus und Egoismus, das bedeutet Verantwortung und Sorge akzeptieren, Denken in die Zukunft, Nachhaltigkeit. Das ist L i e b e . Nicht Sex, nicht Lust oder Vergnügen. Liebe ist mehr als Dankbarkeit für ein kurzes Vergnügen, einen schnellen und „befriedigenden“ Orgasmus.
Zitieren wir noch ein letztes Mal Baudrillard in einer weiteren Steigerung seiner Zukunftsvisionen¹:
“Bei den Klonen, und bald auch bei den Menschen, wird die Sexualität am Ende ihrer totalen Befreiung zu einer nutzlosen Funktion. Auf diese Weise markiert die sexuelle Befreiung in ihren letzten Konsequenzen das Ende der sexuellen Revolution.”
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Nicht nur im sexuellen Verhalten – unser ganzes Menschenbild wird sich den Funktionen einer Maschine oder eines Computers immer mehr angleichen müssen.
Selbst das Denken im Sinne von Kritik, Zweifel, Infragestellung oder Entwicklung von Alternativmodellen ist mittlerweile in ein Endstadium getreten. Philosophisches Denken wird als unwissenschaftlich aus dem allgemeinen technokratischen, das ist nur auf den Wahrheiten der Naturwissenschaft basierenden Diskurs von Hochschulen und Öffentlichkeit ausgegrenzt. Über Derridas Probleme habe ich bereits im Blog Nr.17 und 18 berichtet.
Auch Baudrillard hatte ähnliche Schwierigkeiten. Er ist zwar von Hause aus Physiker, schätzt sich aber gar nicht als Naturwissenschaftler, vielleicht sogar noch nicht einmal als Wissenschaftler ein. In der Sokal-Affaire von 1996 (Baudrillard schreibt “eleganten Unsinn”) und bis in die Gegenwart hinein wird weiterhin der Gegensatz zwischen Natur-und Geisteswissenschaften ausgetragen. “Herrschaftswissen” der Behavioristen oder der “exakten Naturwissenschaften” ringt mit dem Verständigungswissen der Sozialwissenschaftler (“Emanzipation”) und dgl.mehr. Ich habe immer wieder diese Auseinandersetzung im Blog thematisiert.
Und Kunst, sofern sie nicht für die Massen oder den Boulevard ihre Light Art, also leicht verständliche Kunst-Ware, herstellt, erreicht nur noch eine kleine Minderheit, die sich wie in Huxleys “Brave New World” versteckt halten muss in einer Nische und gelegentlich sogar müde belächelt wird. Ich gehöre vielleicht auch dazu.
Denken, Sex und sogar der Tod werden nach Baudrillards schließlich auch bitter-sarkastisch überzeichneten Thesen bald ausgedient haben:
“All die nutzlos gewordenen Funktionen – der Sex, das Denken, der Tod – werden nicht einfach verschwinden, sie werden als Freizeitaktivitäten recycelt werden nach dem Vorbild der virtuellen Realität des Sex, dem Cybersex, der uns erwartet”.
“Ob in einer zukünftigen Gesellschaft, die auch den Tod wohl eliminiert haben wird, die künftigen Klone sich dann vielleicht den Luxus des Todes leisten werden und sterblich werden könnten?”
(1)Aus: “Die endgültige Lösung”(Paris 1999) in: Short Cuts – Jean Baudrillard (Frankfurt 2003)
Werke von Jean Baudrillard sind hauptsächlich erschienen in den Verlagen Matthes&Seitz (München) und Merve (Berlin) sowie in den Zeitschriften “Tumult”, “Konkursbuch” und “Lettre International”.
Demnächst: Über Verführung