366 Über Erik Saties „Möbel-Musik“ (Musique d‘ameublement)
Ich bin dieser Tage in einem schönen Restaurant gesessen. Plötzlich fällt mir in der dezent im Hintergrund laufenden Musik ein Saxophon auf, kurz nur, dann wieder vergessen im Trubel von Essen, Trinken, Sprechen. Das ist Möbel-Musik, wurde mir plötzlich klar. Man bemerkt etwas im Raum, einen Schrank, eine Melodie, Lampe, diese Person. Dann ist man bereits mit seinen Gedanken wieder woanders. Keine Musik, keine Möbel, keine neugierige Konzentration mehr auf das eben noch Überraschende. Das ist Möbel Musik. Still dahin fließend im Hintergrund, unaufgeregt und nur dann und wann sich bemerkbar machend. Das Wort geht auf Erik Satie zurück. Er hat, obgleich ein guter Freund von Claude Debussy, seine Möbel-Musik-Kompositionen, etwa das 24 Stunden Stück „Entracte“(1) als provokative Antithese konzipiert zur herrschenden spätromantischen Musiksprache mit übermächtiger Symphonik und dem pathetischen Getöse der Orchester-Klangfarben (2). Manche der später Geborenen sehen sogar schon in Wagners Musik und Werken Kriegsgetöse und Nazi-Überheblichkeit bis in unsere moderne Gegenwart hinein. In einem Schreiben an Jean Cocteau hat Erik Satie im Jahr 1920 erläutert: „Die Musique d‘ameublement erzeugt Vibrationen, ohne einen anderen Zweck zu haben. Sie erfüllt die selbe Rolle wie das Licht, die Wärme und der Komfort in allen Varianten“(3). All die Töne, Geräusche und Musiken im Hintergrund, leicht dahin fließend fast nicht bemerkbar, gehen mir durch den Kopf. Mit gleichem Tempo, gleicher Tonart, die fast geräuschlos und ununterbrochen an einem vorbei rauschen im Lautsprecher und Radio, im Zug, in der Straßenbahn. Auch sie füllen Raum und Umgebung mit Tönen wie das Licht für die Augen oder die Menschen um einen herum. Und dies alles nur für einen Augenblick, ein unbestimmtes Gefühl, eine sinnliche Empfindung, eine Erinnerung.
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Was hat das nun mit meiner neuen Schubert-Paraphrase „Am Meer“ zu tun? – Ich entscheide mich für schöne Melodien, ja, stimmt. Gegenwärtig bevorzuge ich die Musik von Franz Schubert, die ich jetzt erst so richtig entdeckt habe. Ich entscheide mich in der Harmonisierung seiner wunderbaren Melodien gegen Atonalität und „Dissonanz“. Im Gegenteil: ich suche mir modale, d.h. popmusikalisch orientierte Melodien aus dem Ganzen heraus und filtere, „reinige“ sie, indem ich Dissonanzen wie sogar Septimen oder Nonen herausfiltere. Ich bearbeite, zitiere original, breche, kopiere, überklebe alles wie eine Collage mit unterschiedlichsten Stilelementen. Dies ist eine Methode der Bearbeitung, manche nennen sie auch „Re-mix“, die gerade nicht von Computern ausgeführt werden kann. Eine Auswahl also, die auch gerade nicht von künstlichen Intelligenzen dominiert wird, sondern immer noch von der menschlichen Wahlfreiheit abhängig bleibt. Die auch nicht, noch nicht, von Audiodesignern und deren Möbelmusike(r)n vorgenommen werden kann. Etwa für die Konstruktion von Elektronik Dance Music (EDM), eine Art Muzak-Tanzmusik, die ich zu schätzen weiß und auch gelegentlich einsetze. Mein Sohn komponiert dergleichen am Computer und versucht mich dafür zu gewinnen. Auch David Guetta gehört zu seinen Favoriten.
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Das Gegenteil zur Möbel-Musik ist nicht die gegenwärtig fast schon hektisch propagierte Achtsamkeit, Bewusstheit, das intellektualistische Hören, Sehen und Verstehen von Welt. Auch nicht die mittlerweile allseits geforderte und praktizierte „Bewusstmachung“ oder „Hinterfragung“ von allem und jedem. Ich denke, dass diese gleichwohl auch manchmal so nützliche wie notwendige Methoden der Erkenntnis und Wahrheitsgewinnung gegenwärtig sehr überschätzt werden mit ihrer angeblichen Wichtigkeit für unsere Kultur, für Gesellschaft, Umwelt… Ein Gegenteil davon, auch in Kunst und Musik, wäre also das passive Geschehen lassen, Unberührt bleiben, Vergessen von Raum und Mensch, was gelegentlich ebenso notwendig werden, ebenso notwendig sein kann. Zwei große Weltreligionen, Buddhismus und Taoismus, stützen sich immer schon antithetisch zu unserem westlichen Denken auf diese Weltbewältigung. Sie propagieren gerade nicht die Aktivität, den Neuerungs-Wahn im Sinne von „Macht euch die Erde untertan“, der immer auch eine Zerstörung des alten und sogar traditionell Bewährten eingeschlossen hat. Sie propagieren das Stillestehen im Hier und Jetzt, die Meditation und Weltabgewandheit sogar von Denken und Vernunft, etwa im japanischen Zen-Buddhismus.
Musik und Kunst brauchen sich nicht im Technizismus der 0/1 Mathematik oder in konzeptuellen Konstrukten zu verlieren. Besser fließen sie zum jetzigen Zeitpunkt in einer still monotonen Möbel-Musik dahin, dann und wann gestört von Dissonanzen oder Bruchstücken aus einer Welt, die sich bereits im Chaos verloren oder wieder gefunden hat.
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1 24 Stunden lang wird immer nur das Gleiche, meist Akkord-Rückungen, gespielt.
2 Im ähnlichen Sinne haben auch die Präraffaeliten des 19. Jahrhunderts die zeitgenössische schwülstig- überladene Malerei der Akademien kritisiert und sich inspirieren lassen von einem Stil „vor Raffael“. Und damit dennoch einen neuen Stil der Einfachheit und Komplexitäts-Reduzierung gefunden, der im Design bis in die Gegenwart hinein weiter wirkt.
3 Ornella Volta: Satie-Cocteau, Hofheim 1994 (Wikipedia)
Test-Kommentar
Ich denke es hat geklappt mit Deinem Kommentar. Danke! Erwacht aus einem langjährigen Schlaf…