367 Musik dekonstruieren: Liszt und die Ekstase der musikalischen Abartigkeit*
Bücher von Reinhold Urmetzer in 282
Lieber Rafael Gutiérrez-Vélez
1 Ich habe auf deinem YouTube-Kanal deine neue Liszt-Interpretation kennen- gelernt und ich muss sagen, ich war wieder fasziniert(1). Immer wieder musste ich lachen, schmunzeln, den Kopf schütteln. Ich habe noch nie eine so abartige, nur auf Technik und Virtuosität ausgerichtete Musik kennengelernt wie diese. Ohne dass ich sie in die Ecke einer „entarteten Musik“ rücken würde, spiegelt sie für mich gleichwohl doch die Ekstase wieder einer abartigen Musik-Produktion im Sinne von Blendung, Showbusiness und Äußerlichkeit – kurz die Vorwegnahme von narzisstischer Selbstdarstellung. Also auch die Exstase des Klavierspiels im Sinne von Pop, Perfektionismus und Leistungsdrill – die Hyperinterpretation im Zeitalter von Leistungsgesellschaft und Turbo-Kapitalismus. Manches klingt in Deiner Aufnahme wunderbar. Auch in dieser Deiner jüngsten Annäherung an Liszts Virtuosen-Technik, die berühmt-berüchtigte „Dante-Sonate“, versinken wir wie so oft bei Dir in verträumte Höhen und dekonstruktive Abweichungen vom eigentlichen Ziel der Musikinterpretation allgemein. Was für ein meisterhafter Pianist, raunt das ergriffene Publikum.
Doch leider verlässt du den eigenwillig dekonstruktiven Weg Deiner Interpretation recht bald, ordnest Dich im Mainstream der Klavierspieler ein, verlierst Dich auf dem Virtuosen-Trip einer üblichen Interpretation. Man spürt Deine Unruhe, das Angestrengt-und Perfekt-sein-Wollen. Jeder Ton muss richtig gespielt werden – vergeblich. Eine so abartig nur auf Leistung, Virtuosität und Zeigenwollen ausgerichtete Interpretation muss scheitern, auch ohne dass es das geblendete und verführte Publikum zu erkennen imstande wäre. Du dekonstruierst mit dieser Interpretations-Methode zwar die Musik, hinterfragst sie, und ich bin vollkommen damit einverstanden. Nur dann nicht, wenn Du Liszts Methoden der Blendung „werkgetreu“ interpretieren willst. Das schafft man nur, wenn man die Tricks von Liszt alle kennt und beherrscht, was noch niemandem gelungen ist, am wenigsten wird es in der Zukunft gelingen. Auch die klassische Musik ist wie so vieles andere im Umbruch, um nicht zu sagen im Zusammenbruch. Leider weigerst du dich also, den Weg der Dekonstruktion konsequent weiter zu gehen, Tempi zu ändern, plötzliche Unterbrechungen einzufügen, Stellen ganz wegzulassen oder auch zu wiederholen und dergleichen mehr. All dies macht nämlich ein Musikstück, das jetzt bald 200 Jahre alt sein wird, erst faszinierend. Weniger trägt die Beherrschung von blendender Bravour oder „Werktreue“ mit dazu bei.
2 Liszt war der berühmteste Klaviervirtuose des 19. Jahrhunderts und wohl der erste Popstar der Musikgeschichte, denke ich. Er hat im beginnenden bürgerlichen Zeitalter Musik als Selbstdarstellung gefeiert, gemacht, zelebriert. Vor allem, wie es die Frauen gewollt haben. Ähnlich auch ein wenig später Chopin, dem es wohl gefallen hat, wenn Frauen bei seiner Musik ohnmächtig wurden. Liszt kokettiert mit Wissen und Können. Ich konstruiere ein Beispiel(2): Er notiert etwa ein Stück in Disis-Dur, das man ebenso sehr und bedeutend leichter jedoch auch als E-dur denken und spielen könnte, so dass das Stück sich nicht mehr so schwer darstellt. Liszt kokettiert also mit Können, aber in seiner Musik fehlt das Herz. Gleiches gilt auch für den Versuch einer werkgetreuen Nachahmung, die nur noch virtuos sein will. Ich habe mich mittlerweile sehr genau über Liszts Leben informiert, über seinen Kontakt und die Probleme mit der Familie Wagner. Ich muss gleichwohl sagen, dass ich sehr fasziniert und beeindruckt von diesem Leben war. Ja dass Liszt mir fast schon sympathisch wird als Gefangener seiner selbst und seiner Zeit.
Das Bürgertum hatte sich 1789 „emanzipiert“, nennen wir es einmal so.
Es brauchte wie die Aristokraten früher in ihren Schlössern Stars. Es brauchte selbstdarstellerische Künstler, wie es sie noch nie zuvor gegeben hat. Keine besonders guten Kunsthandwerker wie Bach oder Händel, ganz zu schweigen von den Tonsetzern des Mittelalters, die sich immer hinter ihren Schöpfungen fast ganz verstecken mussten. Bei Schubert erstmals und auch bedeutend mehr noch als bei Beethoven entwickelte sich darüber hinaus eine eigenartige Gebrochenheit und Mischung mit volkstümlicher Melodik, auch volkstümlicher Tanzmusik. Unvermittelt wird jedoch immer wieder bei Schubert, den Liszt sehr bewundert hat, auch auf Kunst und Virtuosität zurückgegriffen. Das ging später bei Russen wie Skrjabin oder Medtner bis zur bewussten Visualisierung der Notenschrift. Das optische Spiel mit Grafik und Schrift im Sinne einer Ästhetisierung der Notenschrift erlebt jetzt wie in der Barockzeit oder in der gegenwärtigen Musikgrafik einen Aufschwung. Nicht vergessen wurde auch das virtuose Spiel mit Tonleitern, Akkorden, Akkord-Brechungen. Später wurde daraus sogar dann die brutale Mathematisierung der Tonreihen (3).
Liszts Biografie zeigt darüber hinaus einen verworrenen und oft konfusen Menschen, gezeichnet
vom Schicksal seiner Familie, auf der Suche immer und ununterbrochen nach Liebe, Bewunderung und Anerkennung. Dass er schließlich ganz auf alles verzichtet hat, theoretisch, was ich nicht glauben kann, und schließlich sogar Abt wurde, war wieder eine seiner vielen Masken und zielgerichteten Allüren. Dass er mehrere Stunden beim Papst zur Beichte war, bis es sogar dem Papst selber zu viel wurde, das alles passt in eine Welt der Oberfläche und des blendenden Scheins. Solche Bravour-Konzerte werden fast zu Gottesdiensten einer mittlerweile paganen Welt selbst bis in unsere Tage hinein, die ihre Götter verloren hat und stattdessen immer auf der Suche nach Ersatz geblieben ist. Wer ist der gegenwärtige Liszt? Doch wohl nur noch Jimi Hendrix oder Madonna und Co. Allein schon dieser Name…
3 Was wäre die Alternative? – Ich denke tatsächlich, dass Erik Satie mit seinen Provokationen auf dem richtigen Weg war. Ich habe den belgischen Komponisten Karel Goeyvaerts bei einem Interview 1989 für die Neue Zeitschrift für Musik in Brüssel kennengelernt, der ebenfalls einer der ersten war, der mehr Einfachheit in der Kunst gefordert hat. Die Jahre von 1953-58 in Kölner Elektronik-Studio des WDR zusammen mit Karl-Heinz Stockhausen machten ihn zu einem Virtuosen der Musik-Mathematik, auch eine Zeitlang zum Hypervirtuosen der seriellen Musik. Schließlich hat er aber auf alles verzichtet, sogar auf die Musik. Er hat im Gespräch auch angedeutet, dass ihn diese Musik krank gemacht habe. Schließlich hat er dann das Utrechter Minimal Music Project gegründet, das sich auf amerikanische Komponisten wie Steve Reich und andere berufen hat. Es war seine deutliche Absage an die Über-Komplexität der akademischen Schulen. Und diese Über-Komplexität gilt bis heute noch an den Akademien als Weg weisend. Wobei doch die Avantgarde mittlerweile zur Arrièregarde geworden ist, wie Umberto Eco bereits in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts bereits betont hat.
4 Was bedeutet das nun für dich als ein Pianist und Virtuose von klassischer Musik? Weiter so?
Ich kann es nicht sagen. Aber Du solltest doch auf der Spur der Dekonstruktion bleiben und weitergehen. Das bedeutet auch gerade nicht, fast unmögliche Schwierigkeiten wo auch immer zu überwinden, sondern genau dort abzubrechen, kurze Momente, vielleicht sogar nur drei oder vier Takte wegzulassen und dann erst weiterzumachen. Also gerade bei deinem so sehr geschätzten Komponisten Liszt in der Mitte der Ekstase die Ekstase zu unterbrechen und dadurch das Werk auch infrage zu stellen. Samt all seinen Ekstasen. Du solltest jedoch auch zu erkennen suchen, vielleicht sogar deutlich machen, warum du diesen Virtuosen-Trip ausgewählt, diesen Weg eingeschlagen hast, warum du als Konzert-Virtuose solche an Grenzen gehende Herausforderungen nützlich findest. Du musst also dein Unterbewusstsein fragen, warum mache ich das. Ich denke, jeder Künstler hat eine entsprechende Veranlagung, Defizite in seiner Kindheit und Jugend durch Kunst und Können zu kompensieren. Ich weiß ganz genau, warum ich zum Künstler geworden bin; darüber vielleicht später etwas mehr. Ich selbst habe von dieser Tendenz zur Einfachheit sehr profitiert, indem ich mithilfe des amerikanischen Dirigenten Dennis Russell Davis, der amerikanische Komponisten in Stuttgart vorgestellt hat, eine neue und andere Art der Interpretation, der Komposition kennen gelernt habe. Davis hat sogar in Werken amerikanischer Komponisten Rockmusik und auch Jazz mit einbezogen bei der Vorstellung seines Musik-Repertoires hier in Stuttgart. Auch einen Jazz-Pianisten erstmals in das Große Haus hat er eingeladen.
5 Wie geht das alles nun mit unserem Matutina Kammer-Ensemble zusammen, das sich doch auch um eine andere Art von Musik und Musikverführung bemüht? Sich in verträumten Höhen und dekonstruktiven Abweichungen vom Ursprung der Musik selbst aus prä-raffaelitischen Zeiten manchmal bewegt? – Ich denke, wir sollten uns auch auf solche neuartige Interpretationen einstellen. Wenn das Ensemble zu einem Konzert eingeladen wird, muss man selbst bei „normaler Musik“ mit einigen Überraschungen auch in der Interpretation rechnen, welche das Publikum in neue Wege zu führen versucht und das zeigen kann, was die traditionelle Musik alles noch bereit hält für unsere Gegenwart. Und dies alles trotz Krise, Ende der klassischen Musik und vielleicht neuem Zeitalter.
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* Aus einem Schreiben an den Pianisten Rafael Gutiérres-Vélez
1 Franz Liszt, Sonata quasi una fantasia apres une lecture du Dante (Dante-Sonate) Eigener YouTube-Kanal
2 Diese Idee stammt von Theodor W.Adorno. Er hat nach eigenen selbst-ironischen Angaben seine hyper-intellektuellen und oft auch unverständlichen Vorträge manchmal „in His-Dur“ gehalten, klingend und gespielt also in C-Dur. His-Dur hat 12 Kreuz, C-Dur keines.
(Wikipedia, Stichwort „His-Dur“)
3 brutal im Sinne von Paul Hindemith, der zeitweise die Reihentechnik ganz abgelehnt hat.