43 Jean Baudrillard (III)
Über Verführung
“Wie kann man jemandem in die Augen schauen, wie jemanden verführen, wenn man nicht einmal sicher ist, ob es ihn noch gibt”? (Jean Baudrillard, “Die Fatalen Strategien” S.23)
Verführung kann es nach den Darlegungen von Jean Baudrillard in einer Endstufe der gesellschaftlichen Entwicklung, also auch in unserer Zeit, nicht mehr geben, weil es weder einen Verführer noch einen Verführten geben kann. Subjekt wie Objekt im Spiel einer Verführung sind nämlich gleichermaßen verschwunden. Gegenwärtig noch nicht ganz. Aber die Entwicklung scheint darauf hinaus zu laufen.
Ich will es darzulegen versuchen.
Die Subjekt-Objekt-Trennung war ein beliebtes Axiom in der Philosophie-Geschichte. Dem gestaltenden, denkenden, handelnden Subjekt steht ein passives, zu bearbeitendes Objekt, ein Ding also, gegenüber. Den Menschen zu einem Objekt zu machen, ihn also zu verdinglichen, das versuchen sogar mittlerweile die Menschenrechte international zu verbieten. Vor allem Hegel und Marx lehnten es ab, dass der Mensch zu einem Objekt des Anderen wird, zu einem Arbeitsobjekt, einem Sklaven, unbedingt Lohnabhängigen etc. Wir sind nicht wehrlose Arbeits-, Sex- oder Gefühls-Sklaven von Anderen. Auch im Falle einer Verführung zum Kauf eines Produkts, selbst beim Kauf eines Sexualobjekts, will ich Subjekt bleiben: frei bestimmen ob ja oder nein. Alles andere wäre Täuschung, Manipulation, Fremd-Steuerung, Fremd-Bestimmung.
Nun kehrt der französische Schriftsteller gerade diese Subjekt-Objekt-Relation, diese überhebliche Selbstsicherheit des Subjekts, auch seine Illusion von Freiheit und Selbstbestimmung, um. Dauernd verführt werden wir nämlich nur noch von Objekten, die uns mit ihrer Verführungs-Strategie beherrschen, manchmal sogar ohne dass wir es wissen. Nicht von einem Subjekt, dem wir ins Auge blicken könnten, werden wir in den Bann gezogen. Die Verführung setzt uns der kalten Macht eines Verführers aus, der sich nicht als Subjekt, sondern als Objekt ins Spiel der Verführung einbringt. Wie kann das geschehen?
Ihr habt über die Herrschaft der Dinge, welche Macht und Gewalt sie über uns ausüben, schon einiges gehört. Dass die Herrschaft der Objekte über uns unmenschlich, exzessiv, obszön werden kann. Dass diese Herrschaft zur Übersteigerung, Ekstase und Totalitarismus tendiert. Und dass diese Verführung sich jedoch schließlich ganz verflüchtigen, auflösen kann ins Nichts, in die Leere, in den Schein.
Also ist das Objekt der Verführung, der Verführer, schließlich ganz verschwunden. Aber ebenso auch der Verführte, das Subjekt. Darüber später mehr.
Baudrillard führt einen weiteren Begriff in das Spiel der Verführung ein: nur das Objekt kann verführen, uns anziehen, uns locken, in seine Gewalt bringen. Das Subjekt hingegen ist dem eigenen Begehren ausgeliefert, kann nur verführt werden, indem es begehrt. Dass aber auch der Verführte den Verführer (zurück) verführen kann, ist in dieser Subjekt-Objekt-Konstellation nicht möglich: Objekte können nur verführen, nicht verführt werden. Das Subjekt ist der Verführung ausgeliefert und es kann nur begehren.
Eine Prostituierte zu begehren bedeutet, ein Objekt, quasi eine Verdinglichung gegen Geld zu begehren, zu erwerben. Liebe und Prostitution scheinen sich deshalb auszuschließen. Das gilt in ähnlicher Weise, auch wenn kein Geld im Spiel ist, für den One-Night-Stand, sofern ein oder sogar beide Partner sich dabei prostituieren, es gilt für den kurzen schnellen Shot um die Ecke etc. Liebe gegen Geld geht nicht, es sei denn dass Dankbarkeit mit im Spiel ist (für das Geld, für den sexuellen Akt).
“Das Subjekt kann nur begehren, das Objekt allein kann verführen”, ohne dass es begehrt, meint Baudrillard. Das heißt auch beherrschen und das Subjekt abhängig machen.
Das Objekt ist deshalb in einer mächtigeren Position, weil es einen Mangel, ein Fehlen auf Seiten des Subjektes zu beseitigen im Stande ist.
Die Sache wird jedoch komplizierter in dem Fall, dass nach Baudrillards Meinung das Objekt schließlich in ein Endstadium treten muss, wo es schließlich ganz verschwindet. Alle Objekte neigen zur Übersteigerung, zur Wucherung, zum Verschwinden (sie “verflüchtigen sich ins Nichts”). Deshalb der Satz: Wie kann man verführt werden von jemandem, der gar nicht existiert? Wie kann man einem Verführer in die Augen blicken, wenn es ihn gar nicht gibt? Das gilt vor allem auch für das sexuelle Objekt, das ganz besonders mächtig ist, weil es eben auch kein Begehren kennt. Es kann, ja es muss sich sogar in seinem Endstadium ganz nach Lust und Laune zurückziehen, zum Verschwinden bringen: “Das Objekt ist am Horizont des Subjekts verschwunden, und aus dem Verschwundensein verwickelt es das Subjekt in seine fatalen Strategien”(der Verführung) S.141.
Doch wenn der Verführer verschwunden ist, kann es auch keine Verführung mehr geben und auch das Subjekt zieht sich aus dem Spiel zurück, muss sich notgedrungen zurückziehen:
“Nunmehr verschwindet auch das Subjekt am Horizont des Objekts”. Zurück bleiben Leere und Nichts. Das Spiel ist aus.
Objektivierung war früher in der Sexualität meist ein Frevel: die Passivität des Mannes im homosexuellen Akt wurde selbst in der Antike abgelehnt, sado-masochistische Sexualpraktiken werden gerade wegen ihrer Tendenz zur Verdinglichung in Frage gestellt; das Abhängigsein von Konsumgegenständen ist gegenwärtig fast schon eine Krankheit, eine Sucht. Das Objekt ist dergestalt in unserem Leben oft ein “verfemter Teil des Subjekts”: obszön, passiv und es prostituiert sich, meist erfolgreich, zumal es auf die Methoden der Werbung zurück greifen kann.
Aber auch ihm droht das gleiche Schicksal wie jedem anderen Objekt: auch hier handelt es sich um eine Übersteigerung, eine Qualität durch sich selber, hin zu ihrer reinen Form, zu ihrem ekstatischen Leuchten, zur Leere, dem Nichts.
Baudrillard schreibt: Das uralte Privileg des Subjekts kehrt sich jetzt also um. Denn da es nur begehren kann, ist es schwach, fragil, zerbrechlich, während das Objekt sehr wohl ohne das Begehren sein Spiel treiben kann. Es verführt gerade durch diese Abwesenheit des Begehrens; es spielt mit dem Begehren des Subjektes, verstärkt oder enttäuscht das Begehren (S.138f)
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Man wird diese Sinn-Konstruktion besser verstehen, wenn man berücksichtigt, dass Baudrillard bei Verführung primär eher Konsum im Sinne der Konsumgesellschaft meint. Das Spiel von Begehren und Verführung ist wesentlich das Spiel des Konsums, des Konsumierens. Also unser tagtägliches Geschäft von Geldaustausch, Geldausgeben, des Kaufens und Verkaufens. Insofern passt auch die Prostitution sehr gut in diesen Kreislauf.
Verführung durch das Objekt, etwa Konsumgegenstände, wäre also, da sie ja zum Nichts, zur Leere verführt ( die Umschlag- und Verbrauchszeiten der Konsumgegenstände in unserer Wegwerfgesellschaft werden immer kürzer), sie wäre also dergestalt eine Aushöhlung des Zeichens (der Verführung), eine Entkräftigung des Sinnes von Verführung, bei welcher letztlich immer nur der Schein der Lust inmitten einer großen und manchmal auch teuren Leere durchschimmert.
Wie haben wir uns verspekuliert mit unserem neuen Boss-Anzug, der nächstes Jahr schon wieder old-fashioned sein wird! In jedem neu erworbenen Paar Schuhe erwerben wir den Schein der Lust, die Erdbeertorte ist eh gleich aufgegessen und im Fall der Prostituierten haben wir auch irgendwie eine leere Lust eingekauft, die gerade nicht nachhaltig ist, um einen modischen Begriff jetzt einzusetzen, der vielleicht ein Mittel zur Verhinderung der von Baudrillard beschriebenen Entwicklung sein könnte.
Was bedeutet das nun für unsere Lebenspraxis, werdet Ihr fragen. – Lasst euch nicht verführen! So heißt die Antwort und der Titel eines weiteren Essays von Jean Baudrillard. Und es ist der Titel meiner mehrbändigen ins Englische übersetzten Buchausgabe dieser jetzt nach Schwerpunkt-Themen geordneten Blogaufsätze.
Jede Verführung macht euch zu willigen Sklaven eines Objekts, das selber frei walten und schalten kann (es selbst begehrt ja nicht) und es hat euch in seiner Hand. Ihr seid Gefangene des Objekts: einer Fabrik, einer Maschine, eines Konzerns, einer Aktiengesellschaft, eines Fabrikbesitzers. Sogar Gefangene eurer Zigarette, eurer Pillen, eurer Waschmaschine, Zahnbürste und Computer.
Wenn es euch zum besonderen Sex der Zukunft zieht (z.B.Cyber-oder Robot-Sex): das Objekt, sofern es bereit (fähig) ist, euch zu verführen, und sofern ihr es begehrt (was wohl anzunehmen ist), es kann kalt, ziellos und hart sein. Grausamer noch als die Grausamkeit wird es schließlich und auf die Dauer nur eines enthüllen: den faszinierenden Schein der Leere, eine ekstatische Blendung im Augenblick der Lust kurz vor dem Ende, mit oder ohne Orgasmus.
Jedes Tier ist nach dem Coitus traurig, schreibt Aristoteles. Jetzt, in unserem Fall des bezahlten Sex mit einem Objekt oder mit einer Maschine und im kalten Rausch der Pornografie, vielleicht sogar sehr, sofern Traurigkeit noch eine menschliche Eigenschaft sein darf, sein kann.
Und den Umgang mit der Leere, dem Schein, der Simulation auch von Sinn, diesen schwermütig-schweren Umgang müssen wir erst noch lernen. Gegenwärtig sind wir gleichwohl hoffnungslos überfordert damit. Vielleicht mit Ausnahme der Künstler, die in diesem Bereich gegenwärtig sehr aktiv sind und in unserer Medien-und Werbewelt wacker mitzuhalten versuchen.
Aber wie kann man in dieser fremd bestimmten Welt künstlerisch wirken, wenn es sie gar nicht mehr gibt? Wer hat diesen Text, vielleicht sogar diese Simulation von Sinn, jetzt geschrieben? War ich es wirklich? Oder sind es die Ideen, die Zeilen, die Zeichen eines Anderen? Und wer ist dieser Andere? Vielleicht ist es ein Anderes, von dem ich geschrieben worden bin ohne es zu wissen?
Demnächst: Vom Begehren
Über das Absurde im Denken und in der Argumentation