44 Jean Baudrillard (IV)
Vom Begehren
“Es gibt kein Begehren; das einzige Begehren besteht darin, das Schicksal des Anderen sein zu wollen und für ihn zu einem Ereignis zu werden, das jede Subjektivität überbietet, das jede mögliche Subjektivität matt setzt und welches das Subjekt in eine definitiv objektive Leidenschaft versetzt, indem es das Subjekt von seinen Zielen, seiner Präsenz und von jedweder Verantwortlichkeit sich selbst und anderen gegenüber abbringt. (Jean Baudrillard, Die Fatalen Strategien S.142)
Was wieder für ein Satz! – Die Sprache der Philosophie (Subjekt-Objekt-Relation, Objektivität, Subjektivität), die Sprache der Literatur (Schicksal, Ereignis spielen wollen, jemanden schachmatt setzen), die Sprache der Psychologie (Begehren, Leidenschaft, Präsenz) und der Ethik (Überbietung,Ziele, Verantwortlichkeit sich selbst und anderen gegenüber) scheinbar willkürlich miteinander vermischt und in einen seltsamen logischen Zusammenhang gebracht.
Lasst jede Hoffnung fahren, sagt Dante in seiner “Göttlichen Komödie” beim Eintritt in die Unterwelt, und so wird es auch uns ergehen, die wir diesen Satz, diese Überfrachtung von Sinn, Konfusion, Hypotaxe und Verwirrung zu verstehen suchen.
Baudrillards Satz führt uns wirklich in eine Unterwelt. Dass sie in der unteren Hälfte des Körpers angesiedelt sei, wage ich nicht zu behaupten. Denn selbst die hormonelle Steuerung unseres Begehrens und Liebens geschieht mittels der Vernunft, dem Verstand, dem sicheren Abwägen der Vor- und Nachteile, nicht wahr. Zumindest erledigt diese Aufgabe, biologistisch gesprochen, unser Gehirn. Selbst wenn wir die Steuerungszentrale des Liebens, Begehrens und Verführens noch nicht so genau wissenschaftlich orten können.
Ich werde das Zitat nach bewährter Manier (?) wieder zerlegen wie eine lateinische Satzkonstruktion. Wer weiß, vielleicht bleibt doch etwas von Sinn, Hinweis, Richtung übrig, wie wir unseren Lebensweg in dieser unserer Wüste des Denkens, Liebens, Verführens und Begehrens spuren sollen.
Der Satz beginnt mit einem eklatant provokativen Widerspruch. Jetzt haben wir so viel über die Herrschaft der Objekte gehört, wie sie uns verführen, dass wir ihnen ausgeliefert sind mit unserem Begehren, dass dieses Begehren sogar zwanghafte Ausmaße annehmen kann, Ausmaße einer Sucht und sogar eines Wahnsinns. Und nun heißt es lapidar: es gibt kein Begehren. Punkt, Schluss, Ende der Musik.
Eine Ausnahme wird jedoch gemacht : das Schicksal des Anderen sein zu wollen. Diese Art der Verführung (als Objekt), diese Art von Begehren (als Subjekt) wird uns noch zugestanden. Einfluss, Macht auf jemand anderen nehmen zu wollen, sein Schicksal zu sein, das dürfen wir wollen. Manche meinen sogar, das sollen wir wollen. Nietzsches Wille zur Macht zeigt sich jetzt auch in der zwischenmenschlichen Beziehung. Ich will größer stärker schöner sein als du und dich dadurch beherrschen. Wie ein Sklave sollst du mir zu Diensten sein, ich bin dein Schicksal.Und ich bin dein Ereignis, ein Event.
Was für ein Wort aus der Unterhaltungsindustrie! Das machtvolle Ausnutzen des Begehrens für eigene, vielleicht sogar undurchsichtige Zwecke, also gerade auch im Sinne einer Objektivierung, soll im Leben des Gegenüber ein Event darstellen, ein Ereignis, das uns Fernsehen, Medien, Computerwelt ununterbrochen anbieten müssen, um aus den roten Zahlen heraus zu kommen. Ein Ereignis, das in der menschlichen Beziehung, wo es doch weniger um Umsatz und Geld einnehmen geht, wie ich hoffe, schwerwiegende Folgen haben wird. Denn mit einem solchen Event, den das Begehren jetzt darstellt, wird jede “Subjektivität überboten“.
Was bedeutet das?
Subjektivität bedeutet zumindest immer noch Wunsch nach Selbstbestimmung, nach Freiheit, nach Ich-sagen-Können. Doch jetzt wird dieses Ziel überboten dadurch, dass das Subjekt in eine “objektive Leidenschaft gesetzt wird”, die das Subjekt von seinem Weg – eben haben wir ihn als Spurung eines Weges in der Wüste bezeichnet – abbringt, weil es, vielleicht sogar ohne dass es das bemerkt, zum Objekt wird.
Das Objekt und die Leidenschaft kommen also ins Spiel. Das einzige Begehren, das scheinbar gut und sinnvoll für uns ist, ist die Leidenschaft. Doch wohin führt sie?
Baudrillard nennt drei negative Ziele: das Begehren mit Leidenschaft oder das leidenschaftliche Begehren lässt uns unsere Ziele(1), unsere Präsenz(2) und sogar unsere Verantwortung uns selbst und den anderen gegenüber(3) vergessen.
Damit sind wir also ganz nahe an der rauhen Obszönität der Objekte, wie wir sie immer wieder bereits kennen gelernt haben. Eine Obszönität, ich erinnere noch einmal daran, die kurz vor ihrem Ende, ihrem Vergehen noch einmal ekstatisch aufleuchtet in der Leere, im Schein, in der Simulation, um dann schließlich wie eine Implosion ganz zu verschwinden – das dunkle Schicksal der Objekte und ihrer Vergänglichkeit.
Doch soweit, so obszön ist das Subjekt, das im Bann des Begehrens steht, also im Zeichen von Liebe und Lust, nennen wir es einmal so, noch nicht ganz. Zwar ist Leidenschaft im Spiel, die doch alles verwirren und kompliziert machen kann – doch wer ist schon sofort und ohne weiteres nur unter dem Diktat des Begehrens zum Geschlechtsakt bereit? Wer traut sich, ein fremdes Du nur unter der Herrschaft des Körpers zu berühren, dieses Du nach seinem Namen zu fragen und trotz aller Leidenschaft eher doch noch abzuwarten? Ein Mann vielleicht weniger. Eine Frau vielleicht eher, wie ich meine. Deshalb diese Vorsicht, Scheuheit, ja Ängstlichkeit und “Keuschheit” vieler Frauen ganz im Sinne der Natur (wobei ich dem männlichen Sexualverhalten keine Widernatürlichkeit unterstellen möchte, wenn man wehrloses “Opfer” einer Verführung wird, ja werden muss).
Aber vielleicht war es gerade die Frau mit ihren Reizen, die den Mann in diesen Bann des Begehrens geführt hat, war sie es, die das Begehren durch Verführung und mit allen diesen ihr zur Verfügung stehenden Tricks geweckt hat, so dass schließlich “objektive Leidenschaft” im Spiel ist, also eine Herrschaft des Objektes mit allen Gefahren und Unabwägbarkeiten, von denen ich im letzten Blogbeitrag oder auch im Text “Über die Herrschaft der Dinge” geschrieben habe.
Denn hieß es an anderer Stelle nicht, dass nur Objekte – auch Verdinglichung genannt – verführen könnten? Mithin wäre Verführung eine Objektivierung und das Begehren des Mannes nach diesem “Event”, den der Geschlechtsakt darstellen mag in der Lebenslangeweile einer fragwürdigen Lebensspur, dieses Begehren wäre eine Verfallenheit ohne Sinn und Zweck? Hin auf ein zweifelhaftes Finale der Implosion, des Verschwindens, Vergehens?
Doch wer ist wem verfallen?
Nach Baudrillard ist das begehrende Subjekt dem Objekt der Verführung verfallen, es ist in dessen Hand und es hat sein Ziel (“ich bin von meinem Ziel abgekommen”), es hat seine Verantwortlichkeit und sogar – das ist das Überraschendste – seine Präsenz, also seine Anwesenheit, verloren.
Das Ziel, das wir so heftig und mit Energie anzustreben bereit waren, es ist jetzt schwach und unwirklich geworden.
Verantwortung – wer will im Zustand einer heftigen Begierde, um auch dieses Wort einmal in den Mund zu nehmen, verantwortungsvoll seine Schritte überlegen, wenn Sehnsucht, Schönheit und Genuss am Ende bereit stehen? Sogar die eigene Existenz ist man bereit in Frage zu stellen, man muss nicht anwesend sein, um begehren zu können, man kann eine Simulation, ein Fake, die Lüge und das Versteckspielen mit einbringen im Zeichen dieses übermächtigen und alles beherrschenden Begehrens, das, ich sage es noch einmal, nicht immer ein leibhaftiger Mensch (als Objektivation) sein muss, sondern ebenso sehr auch ein Ding sein kann.
Wo sind wir hingekommen? Gibt es uns eigentlich noch so, wie wir sein wollten, wie wir unser Bild, unser Aussehen uns vorgestellt haben im Anschluss an diese Maskerade von Verkleidung, Entkleidung, Berührung und Körperkontakt? – Im Zustand einer Verführung verschwindet also der Verführte. Er hört auf zu existieren, er ist nicht mehr. Soweit so gut. Das haben wir mittlerweile immer wieder und auch zur Genüge gehört. Es reicht allmählich.
Doch wen sollen wir begehren, wenn es das Objekt unsere Begierde ebenfalls gar nicht mehr gibt? Sollen wir uns flüchten (ich rede meist aus der Sicht des Mannes) in die einsamen Masturbationstechniken der Hinterhof- Zimmer, in die käufliche Lust um die Ecke, in die virtuellen Welten des Cyber-Sex?
Scheinbar ist das Begehren – reziprok dazu auch die Verführung – ein großes Problem geworden, das sich nicht so leicht lösen lässt unter der Herrschaft und im Bann eines allmächtigen Objektes.
Doch wie kann dieses Problem mit dem verführerischen Subjekt, das nach Baudrillards Hypothese zu einem “allmächtigen”, bösartig wuchernden, obszönen Objekt schließlich werden muss, gelöst werden?