45 Vom Denken (II)
Über Eurozentrismus
Der abwertende Begriff Eurozentrismus geht auf die von den französischen Philosophen, insbesondere Jacques Derrida, angestoßene Logozentrismus-Debatte zurück (vgl. im Blog die Nr.18). Mittlerweile hat diese eine gefährliche und wesentlich politische Dimension erreicht, die sogar kriegerische Auseinandersetzungen hervorgerufen hat und weiterhin verursacht.
Die postmodernen Philosophen der 80er Jahre waren sich darüber einig, dass das Denken und daraus abgeleitet die Vorstellungen(Definitionen) von Vernunft, Rationalität, Sinn, sinnvollem Leben, Wissenschaftlichkeit etc. nicht universal gültig sein können. Andere Menschen und Kulturen denken anders. Das sollte akzeptiert werden mit gewissen Grenzen. Eine Extremform dieses Denkens ist die Alles-Geht-Philosophie von Paul Feyerabend, die er im übrigen in Berkeley/Kalifornien bereits in den 80er Jahren entwickelt hat. “Alles geht” (die Franzosen antworteten mit “rien ne va plus“, nichts geht mehr) ist also eine typisch kalifornische Lebens- und Denkhaltung.
Dieser Relativismus geht nicht zuletzt auf die Sprachforschung zurück, die in ethnologischen und ethnografischen Untersuchungen Unterschiede in den Strukturen unserer Sprache, unseres Gehirns (?), unseres Sprechens und unserer Sprach-Grammatik hat ausmachen können.
So kümmert sich beispielsweise das Weltbild, also der Wortschatz der Eskimos wesentlich um “Schnee”, wofür es zahlreiche Begriffe, also Differenzierungen in dieser Sprache gibt. Während wir im Deutschen nur ein Wort dafür haben.
Umgekehrt kennt unsere Sprache etliche Begriffe für Geist, Denken,Vernunft, Logik, Abstraktion etc., die in der Welt der Eskimos oder Amazonas-Indianer, wo die ersten (französischen) Forschungen diesbezüglich stattgefunden haben, weniger bekannt, vielleicht auch weniger notwendig sind.
Die Relativierung der Denkmöglichkeiten und Denkergebnisse hat jedoch dazu geführt, dass auch das abendländische, das europäische Denken insbesondere relativiert werden konnte mit einschneidenden Ergebnissen.
Plötzlich konnte nun auch das europäische Denken veraltet, einseitig, relativ sein. Dieses Denken einer globalisierten Weltgemeinschaft aufzuzwingen war eine neue Art von Kolonialisierung und Kultur-Imperialismus. Den Wirtschafts-Imperialismus der Kapitalisten hatte man schon in den 60er Jahren als Coca-Kolonialisierung gebrandmarkt.
Selbst die Menschenrechte , die doch wesentlich auf die europäische Aufklärung zurückgehen und sich darauf stützen, werden mittlerweile in Frage gestellt. Ganz zu schweigen von ethischen Grundsätzen besonders im Bereich von Gewalt (Krieg, Todesstrafe) und Sexualität, die weltweit heftig umstritten sind, ja sogar im Namen neuer göttlicher Instanzen wieder in Frage gestellt und bekämpft werden.
Zwei Beispiele aus der jüngsten Verganhenheit will ich nennen. Im islamischen Nordsudan hat eine Ärztin sich in einen Christen aus dem Südsudan verliebt, gibt ihren muslimischen Glauben auf um zu heiraten.
Sie wird wegen Abfall vom rechten Glauben und Ehebruch zum Tode verurteilt. Dies ist nach den Regeln des Koran völlig legal und richtig. Insbesondere das Aufgeben des Glaubens darf oder soll immer mit dem Tode bestraft werden.
Auch in der Antike und im Mittelalter wurde mit dem Anwenden der Todesstrafe nicht lange gezögert: blitzschnell war man hingerichtet, ob es Bruder, Ehegatte, Kind oder König waren. Im Rom der Kaiserzeit wurden die Köpfe der politischen Rivalen nach der Enthauptung öffentlich ausgestellt, so auch im Falle Ciceros. Das heißt, die Aggressivität war noch in keinster Weise domestiziert, im Gegenteil. Einer der tierischen Urinstinkte des Menschen durfte mehr oder weniger frei schalten und walten und hatte ein weites Feld vor sich.
Ein zweites Beispiel sei genannt. Wer im gegenwärtigen Ukraine-Konflikt sich nicht auf Seiten der russischen Denkweise wieder findet (ich drücke es ganz bewusst so aus), ist ein Ethno-Faschist. Dieses Wort, eine Neuprägung, stammt von Wladimir Jakunin, Chef der russischen Staatsbahn, einem Mitglied der Putin-Clique und anscheinend mächtiger Berater des russischen Präsidenten.
Von diesem wird im deutsch-russischen Forum in Berlin sogar jetzt eine spezifisch “westliche” Denkweise definiert und als eine eigene und besondere in Frage gestellt. Mit ihrer Dominanz und ihrem Allmachtsstreben wolle sie alle Völker Europas, die eine doch so unterschiedliche Entwicklungsgeschichte hinter sich hätten, dominieren. Er unterstellt quasi einen westeuropäischen EU-Imperialismus, der zusammen mit der von den USA dominierten NATO ganz Europa beherrschen, unterjochen wolle.
Expressis verbis wird von diesem Politiker auch manches im Wertekanon der Westeuropäer strikt abgelehnt, etwa die Homosexualität. Die Genese der Homosexualität wird von dem russischen Politiker ganz anders gesehen als etwa in den USA, die er nebenbei bemerkt als den neo-imperialistischen Hauptfeind und Gegner der gegenwärtigen ideologischen Auseinandersetzung ausfindig macht. Homosexualität sei gerade nicht entwicklungs-geschichtlich durch die Geburt festgelegt, was manche Wissen-schaftler behaupten, sie sei vielmehr gelernt. Vor allem im Alter von 14-16 müssten die Jugendlichen geschützt werden vor solchen Einflüssen durch die westlichen Medien. Insbesondere Russlands Jugend werde mit homosexuellen Umtrieben, die im Auftritt von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest ihren Gipfel erreicht hätten, “vergiftet”.
Was tun?
Universell geltende Normen des Zusammenlebens müssen in einem Dialog der Weltkulturen ausgehandelt werden. Wie man mit Gewalt, Sexualität, Freiheit umzugehen gewillt ist, um nur einige wenige Punkte zu nennen, muss geklärt werden. Da sich zu allen diesen Werten Isosthenien bilden können und werden (was gegenwärtig bereits geschieht), müssen Verhandlungen darüber stattfinden. Hans Küngs Welt-Ethos-Projekt in Tübingen geht bereits in diese Richtung.
Doch was ist, wenn die andere Seite gerade nicht zum Dialog bereit ist? Wenn sie wieder archaisch mit der Gewalt der Waffen antworten will und zu keinem Kompromiss bereit ist? Wenn sogar diese Vorgehenweise (Dialog, Interessenausgleich, Konsens-Bildung) bereits auch schon wieder als einseitig “eurozentrisch” gedacht, geplant, interpretiert wird?
Was tun also in diesem Zeitalter der weltumspannenden Begegnung und Konfusion? Wo die Zeit für eine globale Ethik, eine Global-Sprache, eine globale Verständigung scheinbar noch nicht reif ist?
Universale, das heißt universell verallgemeinerbare Werte müssen dennoch gefunden werden, an die sich Amazonas-Indianer, Russen, Islamisten, Europäer und US-Amerikaner, wie fanatisiert alle auch immer sein mögen, halten müssen. Vor allem in Fragen der beiden stärksten Urinstinkte Aggression/ Gewalt und Sexualität wird dies schwierig werden. Es wird zukünftig zusammen mit dem Verhindern eines neuen Wettrüstens, das zu jeder Zeit zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen kann, alle unsere Kräfte fordern. Nicht nur von Seiten der Naturzerstörung, auch von Seiten der militärischen Gewalt drohen wieder die alten Gefahren, vor denen wir uns schützen müssen.
Es wird noch eine lange Zeit des Zusammenwachsens und Kennenlernens, auch der Vertrauensbildung notwendig sein, bis es zu einer verbindlichen und überall gesprochenen Sprache des Verstehens und der Verständigung kommen kann.
vgl. auch 314, 315 und 325: Vernunft der Wissenschaft, Vernunft Afrikas