46 Vom Denken (III) – Über Baudrillard (IV)
Über das Absurde im Denken und in der Argumentation
Im Nachfolgenden geht es um die Frage, ob Baudrillards Sprechen, Denken und Philosophieren “eleganter Unsinn” ist (die Sokal -Affaire) oder doch noch etwas Anderes bedeuten kann.Ihr werdet vielleicht beim Lesen der Zeilen von und über Baudrillard gedacht haben: was für ein Unsinn! Ich verstehe rein gar nichts mehr. Was soll das Ganze? Wozu? Für wen schreibt Baudrillard das? Und was macht sich der Blogschreiber da für eine vergebliche Mühe? – Danke der Nachfrage.
Ich schreibe es für Euch, die ihr dies gerade jetzt lest.
Selbst wenn Ihr es nicht versteht und meine Baudrillard-Texte im Blog nicht zu Ende gelesen habt. Selbst wenn ihr sie nicht verstehen wollt.
Vielleicht ist die Provokation durch Baudrillards Sprache und Texte bei Euch auf ebenso fruchtbaren Boden gefallen wie damals bei mir, als ich noch an den aufklärerischen Brecht-Optimismus glaubte, etwas verändern, etwas “bewusst machen” zu können, indem ich mich dem rationalen Denken rationaler Menschen und dem philosophischen Rationalismus der neo-positivistischen Schule, wie man damals sagte, anvertraute.
Doch wie bin ich enttäuscht worden! Als könnte man mit der Sprache von Logik, Mathematik und Vernunft in unserem postmodernen Zeitalter der Globalisierung und weltumspannenden Netze noch etwas ausrichten, absolute, also nicht-relative Wahrheiten verkünden, die Gesellschaft, den Menschen besser machen, auf sein Verhalten, seine Sexualität Einfluss nehmen (Entschuldigung, das musste jetzt wieder kommen, man wirft mir bereits sprachlichen Sexismus vor).
Doch der Reihe nach. Beginnen wir wieder in der Antike. Dieses Mal bei Aristoteles. Er war der erste, der so etwas wie wissenschaftliches Denken eingeführt hat. Das Messen, Berechnen, Kategorisieren; die Logik im Denken, genaue Wortdefinitionen, Physik, Astronomie etc.
Dennoch hat er auch die andere Seite akzeptiert (er war immerhin langjähriger Schüler von Platon): die Metaphysik, die Ästhetik, die Politik, Geschichte, Mythologie etc.
Platon gehört m.E. nicht zu den Wissenschaftlern. Zwar hat er die Mathematik ganz besonders geschätzt als Bindeglied zwischen den Ideen im Himmel und ihren irdischen Abbildern hierzulande, den abstrakten Begriffen. Seine philosophischen Gedanken hat er gleichwohl in Dialogen, fast schon in Theaterstücken verborgen gehalten, die mehrdeutig sind und vielfältig interpretiert werden müssen oder auch können. Es gibt in Platons Werk wenig Eindeutigkeit. Und das ist gut so, wie ich meine. Denn von Mehrdeutigkeiten lassen wir uns “anzünden” zum Diskutieren, Interpretieren, Sprechen, Begegnen und Streiten. Also kommt Leben, Begegnung und Gespräch ins Spiel – wir begegnen uns als Menschen und nicht als Maschinen.
Diese Welt ist die der Kunst, auch der Sinnlichkeit, der Gefühle, der Kreation, Interpretation und nicht der dogmatischen Sinn-Festlegungen. Also eine Welt des Verstehens und der Verständigung über das Verstehen. Und eine Welt der Freiheit.
Die Kunst und Lehre, die sich mit Sinn, Sinn-Verstehen und Verständigung beschäftigt, heißt Hermeneutik. Sie müsste als Grundlagen-Wissenschaft in allen Schulen und Hochschulen dieser Welt ein Hauptfach sein (ebenso wie das Fach Kreativität nicht nur auf Literatur, Musik oder Bild /Kunst/Film beschränkt bleiben dürfte). Aber hat man einmal den Weg zur Wahrheit gefunden oder ihren Sinn, dann greift man schnell zur dogmatischen Fixierung wie ein Papst, lässt nur noch die passenden Priester zu im Vorhof dieser Heiligtümer, ja bedroht sogar Andersgläubige mit Sanktionen. Sie sind jetzt Ketzer, Chaoten, Rebellen, man beargwöhnt sie kritisch.
Was meine ich nun mit “dogmatischer Sinn-Festlegung”? – Ganz einfach. Es ist der Glaube an die Richtigkeit der Begriffe, die man verwendet, um zu einem Ziel zu gelangen.
Doch welches Ziel hat man, wenn man wie in unserem Fall geschriebene Sprache einsetzt? Bei gesprochener Sprache ist es wieder etwas anderes.
Die Naturwissenschaftler wollen ihr Herrschaftswissen immer weiter perfektionieren und absichern. Absichern heißt immunisieren gegen Kritik und Infragestellung. Herrschaftswissen über die Natur, den Menschen, seine Gesellschaft. Meistens läuft dies auf eine technische Lösung der Probleme hinaus, das heißt eine Objektivierung (mittlerweile oft auch auf eine 0/1-Digitalisierung). Ich habe nichts gegen Herrschaftswissen, wenn die Verwendung transparent bleibt und dem Menschen nützt. Was nicht immer möglich sein kann, siehe die Auswirkungen von Kernspaltung, Biotechnologie oder Digitalisierung.
Die Geisteswissenschaftler hingegen bemühen sich um Verständigungswissen, Wissen zur praktischen Lebensbewältigung. Auch Wissen um Sinn und Nutzen von Herrschaftswissen. Ich nenne dies metaphorisch immer wieder den (Lebens-)Weg spuren oder noch literarischer eine Spur spuren in der Wüste der Vielfalt (das Pluriversum). Pluriversum ist für mich nicht negativ, sondern positiv, auch wenn manchmal Chaotik, Unübersichtlichkeit und Durcheinander eingeschlossen sind. Aber das Chaos lässt Positives wie Negatives entstehen.
Auch wir sind augenblicklich dabei, Verständigungswissen kennen zu lernen – wozu brauchen wir Wissen, welche Art von Wissen, wem nützt dieses Wissen? Die Wissens-Soziologie (auch das gibt es) erforscht diese Fragen.
Die Sozialwissenschaftler schließlich kümmern sich um beides: Herrschaftswissen zur Steuerung einer Gesellschaft, z. B. durch ökonomische Prognosen und Berechnungen. Aber auch Verständigungswissen ist eingeschlossen, z.B. im Fall von Psychologen oder Sozialarbeitern, damit wir besser mit unseren Mitmenschen auskommen. Dieses Wissen kümmert sich um die Emanzipation und es mischt die beiden oben genannten Arten manchmal mehr, manchmal weniger miteinander, auch im Sinne einer Komplementarität.
Die wissenschaftstheoretische Einteilung, die ich gerade vorgestellt habe, stammt von der Frankfurter Schule, insbesondere hier von Jürgen Habermas (2)
Über die Einseitigkeit der anglo-amerikanischen analytischen Philosophie, die nur das naturwissenschaftliche Denken akzeptiert, also Herrschaftswissen anstrebt (der logische Empirismus war die Keimzelle dieses Denkens) bis mittlerweile zu einem Vulgär-Behaviorismus, der mit Daten und Statistiken immer wieder eine neue Sau durchs Dorf jagen muss, damit die Kassen klingen, habe ich schon geschrieben.
Dass aber auch die andere Seite mit ihrer Emanzipationsbewegung (der Arbeiter, der Männer, der Frauen, der Dritten Welt, der Natur, der Pädagogik etc.), die meist auf eine Befreiung im Sinne der sozialistischen Lehre hinaus lief, sich ebenso in einer nutzlosen Dogmatik fest gebissen hatte, das wurde spätestens 1989 mit der totalen Implosion des östlichen Imperiums deutlich.
Diese Bewegung ist gescheitert, hat jedoch eine große weltanschauliche Lücke hinterlassen, die schnell vom neuen Ökonomismus gefüllt wurde: Alles dient nur noch der neuen Gottheit Geld, das heißt auch Dollar. Ein neuer Imperialismus, eine neue Dogmatik ist im Entstehen, die kein Anderes, keine Alternativen, Antithesen anzuerkennen bereit ist. Opfert dem neuen Gott: Entzweit, kasteit, entfremdet euch im Namen der Gottheit! Seid glücklich, get lucky! – Baut Altäre mit Räucherkerzen in Cupertino, Milano und, wenn es sein muss, auch in Stuttgart.
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Wo steht in diesem Dissens nun Jean Baudrillard, ebenso auch Jacques Derrida, Paul Virilio, der Erfinder von Be-und Entschleunigungstheorien, oder François Lyotard, auf den der Begriff “Postmoderne” zurückgeht (von dem sich Lyotard sogar später distanziert hat, er wäre nicht eine seiner besten Erfindungen)?
Als Soziologe, der sich um den Zustand einer künftigen Gesellschaft Gedanken macht und keine statistischen Erhebungen oder Zahlen präsentiert, müsste man Baudrillard zu den Geisteswissenschaftlern rechnen.
Aber auch hier steht er auf verlorenem Posten. Man versteht ihn nicht. Die ästhetischen Kunstgriffe im Sinne der russischen Formalisten lassen ihn zu einem Künstler werden, der mit seiner Sprache und seinem Denken Neuland betritt. Er überfordert uns mit seiner neuen Sicht, seinen neuen Gedanken, seiner provokativen Ironie, die gerne das Absurde berührt, ohne ins Sinnlose oder Surreale abzugleiten, wie es gelegentlich in der Literatur geschieht.
Nie weiß der Leser genau, ob Baudrillard es mit seinen Thesen und Prognosen ernst meint, ob seine Sätze wahr sein wollen oder eher nicht.
Sie können gar nicht wahr sein! – Ein Satz wie
“Wir befinden uns wahrhaftig im Paradies, in einem Jenseits. Die Phantasie ist an der Macht, ebenso die Aufklärung und die Intelligenz, und wir erleben jetzt oder in naher Zukunft die Perfektion des Sozialen; alles ist erreicht, der Himmel der Utopie ist auf die Erde herab gekommen, und was sich einst als strahlende Perspektive abzeichnete, stellt sich nunmehr als Katastrophe im Zeitlupentempo dar. Wir spüren bereits den fatalen Vorgeschmack der materiellen Paradiese”(S.85),
diese Formulierung ist ein reiner Widerspruch in sich (das Paradies als Katastrophe), eine Übersteigerung ins ironisch Maßlose, eine Provokation des gesunden Menschenverstandes. Und dennoch, trotz allem Lachen oder Schmunzeln über diese bittere Botschaft: Es gibt heute und in unserer Gegenwart bereits einen “fatalen Vorgeschmack der materiellen Paradiese”. Über was schreibe ich denn Anderes als über diesen “fatalen Vorgeschmack” unserer Paradiese?
Und wann in diesen Paradiesen ist unser Verstand schon gesund? Sollte er nicht immer auch offen sein für das Neue, das Andere, Antithetische, auch das neue Denken?
Baudrillard jedenfalls bewirkt mit seinem Denken und dieser seiner künstlerischen Sprache, auf deren Stilelemente ich schon in einem anderen Blogeintrag eingegangen bin, mehr Einsicht, Erkenntnis, Änderung als manchmal der exakt wissenschaftliche Weg etwa der empirischen Sozialforschung. Das heißt, das Denken am Rande des Absurden, die Argumentation nahe an Widerspruch und A-Logik können sehr wohl sinnvoll sein, wenn auch weniger im Bereich von Wissenschaft als im Bereich von Kunst.
Mir bleibt in Erinnerung nach der Baudrillard-Lektüre für meinen Lebensweg, das heißt auch für meine konkrete Lebenspraxis: Dass ich tatsächlich den Objekten um mich herum zu viel Beachtung schenke. Dass ich sie eigentlich nicht brauche. Dass in dieser luxuriösen Überfülle der Gegenwart mit Dingen, Nahrungsmitteln, selbst den Angeboten zu Sex und Lust der buddhistische oder Franziskanische Weg der Einfachheit und Askese vielleicht oft angebrachter wäre. Und diese meine rein persönliche Entscheidung für eine Lebens-Spur ist mit wissenschaftlichen “Wahrheiten” weniger zu finden. Es sei denn, ein Mediziner diagnostiziert mit seinen technischenl Hilfsmitteln eine daraus abzuleitende Krankheit.
Ich habe in den beiden Blogbeiträgen über Verführung und Begehren eine typische Pseudo-Rationalität, Pseudo-Logik, Pseudo-Argumentation im Stile Baudrillards nachzuahmen versucht (1). Die Spitze meiner Ironie war schließlich erreicht, als ich am Ende des Blogs Nr.43 “Über Verführung” sogar die irrationale These in den Raum gestellt habe, dass ich es vielleicht sogar gar nicht bin, der diesen Blog geschrieben hat. Wer denn sonst? – Irrationalisten mögen jetzt vielleicht sogar irrationale Antworten bereit halten, die Autoren wie Jorge Luis Borges und andere (mich vielleicht auch) überzeugen könnten.
Doch mein Vorgehen war ein heuristischer Trick, ein Hilfsmittel, das, was mir wichtig erschienen ist, deutlich zu machen, und sei es auch nur mit einem Knall-Effekt, einer Provokation. Selbst Sextus Empirikus verteidigt in seiner Abhandlung über die Skepsis (s. Im Blog die Nr. 34 ) das Phänomen, dass manchmal auch schwache Argumente zur Darlegung eines Problems sinnvoll sein könnten (3).
Und denkt ihr an Ende einer solchen Abhandlung nicht auch über das Verführen und das Begehren nach?
Ihr interessiert Euch nicht für Fallstudien und empirische Untersuchungen? – Aber Begehren und Verführung sind euch bekannt? Leben wir nicht in einem Zeitalter des Narziss, der mit Schönheit, Äußerlichkeiten und Maskerade verführen will? In einem Zeitalter der Lust, des Vergnügens und der Blendung?
Wie soll man an das Thema “Verführung” naturwissenschaftlich heran gehen? Indem wir die verschiedenartigsten Untersuchungsergebnisse in den einschlägigen Fachzeitschriften durchblättern? Die Theorie der Wirkung von Duftstoffen auf das Sexualverhalten von Mann und Frau kennen lernen oder in Frage stellen? Und so fort.
Dann ist mir die Methode Baudrillards oder noch extremer Virilios schon lieber. Mit wenigen Kunstgriffen benennen diese Schriftsteller ein Problem und zwingen uns zu einer Entscheidung: ja – sic oder nein – non.
Die Autoren selbst bleiben derweilen eigentümlich vage in ihrer scheinbaren “Neutralität”, was zur Methodik ihrer Vorgehensweise gehört. Oder sie lachen uns sogar aus, was ich weniger menschenfreundlich finde. Jacques Derrida hat seinen New Yorker Vortrag “Über die rechte Hand Heideggers” überlegen lächelnd mit diesem Satz beendet: Die größte Leistung des abendländischen Denkens sei – das Schweigen. Er spielt damit auf den berühmten Satz Wittgensteins an, dem Vater und Meisterdenker der analytischen Philosophie: Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.
Demnächst: Das Denken der analytischen Philosophen
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1 Mein dritter Band der “Ästhetik”, das “Musikbuch”, atmet sehr stark Stil und Einfluss Baudrillards, insbesondere dort das 2.Kapitel: “Öl – Was bleibt uns vom Absoluten?”
2 Jürgen Habermas, “Erkenntnis und Interesse” (Frankfurt 1968); ders.: “Wissenschaft und Technik als Ideologie”(1968)
3 Sextus Empiricus, “Grundriss der pyrrhonischen Skepsis” a.a.O. S.299 (“Warum der Skeptiker zuweilen absichtlich überzeugungsschwache Argumente aufstellt”)