6 Überkomplexes Denken (I) TAZ-Interview mit J.P.Dubost
Überkomplexes Denken und Schreiben (Teil I)
Es folgen hier zwei von vier spektakulären Interviews mit Jean Pierre Dubost, die ich in der Berliner Tageszeitung die taz in den 80er Jahren veröffentlicht habe. Die taz war in ihrer Anfangsphase sehr experimentell, frech, politisch undogmatisch und ihr Vorbild war die Pariser Tageszeitung Libération: Jede Art von Macht in Frage stellen, Diktaturen überall in der Welt bekämpfen (vor allem die Stalinisten drüben im Osten), und einmal wenigstens soll der Leser auch etwas zu lachen haben. Provokationen waren an der Tagesordnung, auch in Sachen Sex und Feminismus (siehe meinen Beitrag in Teil II). Es ging jedenfalls sehr temperamentvoll zu in den Redaktionsstuben an der Kochstraße und man stand auch immer kurz vor dem finanziellen Ruin.
Jean Pierre Dubost war Assistent von François Lyotard gewesen, später wechselte er an das romanistische Institut der Universität Stuttgart. Er war einer der wenigen Vertreter des neuen französischen Denkens in der deutschen Diaspora. Stuttgart war eine Stadt, die gerade einen besonders schönen und ausgeprägt postmodernen Staatsgalerie-Neubau vorzuweisen hatte. Mit dem Ergebnis, dass die hiesigen Bauhaus-Architekten dem englischen Architekten Stirling “Protofaschismus” vorwarfen. In der damals sehr aktiven und quirligen Schwabenmetropole hatte sich bald eine kleine francophile Gemeinde gebildet, die zusammen mit den Konkursbuch– und Tumult-Zeitschriften sowie dem Merve-Verlag das Banner des neuen Denkens hoch hielt.
Das Interview und meine Fragen waren tatsächlich “semio-dadaistisch”, provozierend, ironisch, manchmal absurd. Dubost antwortet in bekannt überkomplexer Manier (vgl. meinen Blogbeitrag Nr.5 “Über Sprechen-und Verstehen-Können”). Der ersten, scheinbar unbedarften Journalisten-Frage von mir, was denn eine gute Zeitung heutzutage ausmache, entgegnet er mit einer subtilen Sinn-Verschiebung, als hätte ich nach der Form, der Gestaltung, dem Design gefragt. In Wirklichkeit wollte ich wissen, was den inhaltlichen Erfolg einer guten Tageszeitung ausmache und nicht wie sie aussehen soll. Diese meine Formulierungs-Schwäche hat er geschickt ausgenutzt. – Solche Subtilitäten sind andauernd im Gespräch zu finden. Aber auch meine Fragen sind ironische Fallen (besonders im 2. Interview), als wenn ich das ganze Thema nicht ernst nehmen könnte und das Prinzip Interview quasi parodieren, in Frage stellen wollte. Was tatsächlich auch geschieht (vgl. im Interview II die Fragen über die Frauenbewegung).
Alle Interviews mit Dubost waren gestellt, das heißt der Philosoph erhielt von mir die Fragen schriftlich und er antwortete ebenso schriftlich darauf. Vgl. meine Reihe “Gespräche mit Zeitgenossen”, worin ich Interviews mit Niklas Luhmann, Francois Lyotard, Olivier Messiaen, Helmut Lachenmann, Bob Wilson, Wolfgang Rihm etc.(insgesamt sind es mehr als 25 Beiträge) in loser Reihenfolge wieder herausgeben werde. Vorab-Veröffentlichungen erscheinen jeweils an dieser Stelle.
Bei den Dubost-Interviews genügt schon eine Seite tägliches Studium. Die Sätze müssen zerlegt werden wie eine lateinische Satzkonstruktion. Das ist tatsächlich eine starke Provokation unserer Einstellungen dem Lesen oder der Informationsvermittlung gegenüber. Aber nur eine solche Sprache und solche Texte wirken nachhaltig meiner Meinung nach. Und beim Lesen bzw. Studieren immer auch daran denken, dass vieles ironisch überspitzt und provokativ formuliert ist. Ich selbst muss auch jetzt noch immer wieder lachen, wenn ich diese Texte lese. Und ich bewundere den Mut der damaligen Kulturredakteure (Christiane Peitz, Arno Widmann u.a.), die diese Texte abgedruckt haben. Das war alles möglich damals im finster-glitzernden zweigeteilten Berlin.
Und täglich die Mogenröte des Gestern
Der Philosoph Jean Pierre Dubost über die Tageszeitung, die Untergrundarbeit der Wörter, über Politiker auf Ego-Trip, lächelnde Metzger, sudanesische und Genfer Rituale…
Wie soll eine gute Tageszeitung aussehen?
Sie haben recht, der look ist alles. Es wäre sogar wünschenswert, dass le m o t und la ch o s e sich an ihren Ursprung erinnerten. Also sollten sie zeitigen, und zwar den Tag: Abends die Schau des Tages, morgens die Morgenröte des Gestern. Das heißt: eine Tageszeitung sollte nicht wie zum Einschlafen aussehen. Wenn ich in Paris bin, werde ich immer beim ersten Tageswitz von Libération wach. Dass der Horror jeden Tag überall ist und zu uns kommt, muss nicht unbedingt Furcht und Mitleid in meinem Bauch zusammenbrauen. Ich finde die Entladung durch den Witz dezenter als die Logik des Schlimmeren, ich meine die Apathie. Das ist etwas anderes als die Langeweile. Oder um es literaturwissenschaftlich auszudrücken: Besteht die höchste narrative Information in der Enthaltung der Darstellung, dann müsste eine Zeitung gerade das zeitigen, was der Erzähler uns vorenthält. Die meisten Kravatten-Lyriker der Information scheinen wirklich zu glauben, daß sie Dichter sind. Über die brutale Gewalt der informativen Enthaltung möchte ich lieber nichts sagen. Ich hoffe, damit Ihre Frage gut beantwortet zu haben.
Findet sich in der „Nacht des Schreibens“ der heimliche Narzissmus des Lesers nicht zuletzt doch mehr im Schreibenden als im Geschriebenen wieder?
Ich glaube, das Problem dieses unglücklichen Jungen war eher der Spiegel. Dazu gehören mindestens Licht und Reflexionsfläche. Erwartet man vom Reflektierenden etwas mehr Licht, so reicht der Spiegel nicht aus. Angenommen, ich fände die Stelle, wo mir in der Nacht mein Gesicht begegnen könnte, so würde ich mich tatsächlich in diese Begegnung verlieren. Wie Sie sehen, könnte es durchaus sein, dass dieses nette Märchen auf eine unheilbare Art in sein eigenes Wasser hinein geplumpst ist. Lassen wir also lieber die Ertrunkenen die Ertrinkenden ertränken.
Kann die Ekstase des Journalismus, wie sie sich etwa in der Springer- Presse, in der Zeit oder im Spiegel manifestiert, noch irgendeine Bedeutung besitzen? Anders ausgedrückt: Kann die Lüge in der Sprache oder im bizarren Ego-Trip von Politikern wie Genscher und Vogel noch von irgendeiner Tragweite für den einzelnen sein? Ist nicht bereits die Politik, wie sie über die Medien vermittelt wird, reine Fiktion, jede Hoffnung auf Veränderung oder Verbesserung Illusion?
Im Sudan besteht zwischen dem Erzähler und dem Kreis seiner Zuhörer folgendes Ritual:
– Ich werde euch eine Geschichte erzählen.
– Einverstanden, einverstanden.
– Es wird nicht alles wahr sein.
– Einverstanden, einverstanden.
– Aber es wird nicht alles falsch sein.
– Einverstanden, einverstanden.
Die Sufisten der Banalität singen falsch und machen Musik mit lächerlichem Flohmarktschmuck. Was die Metzger betrifft, so sind sie immer besonders höflich, haben Sie das nicht bemerkt? Mein Metzger jedenfalls lächelt immer, aber ich glaube, fast alle lächeln. Das Wort ,,Bedeutung“ klingt ein wenig semio-dadaistisch. Es geht gar nicht um Bedeutung, sondern um Rituale.
Ob die lachhaften Szenen der politischen Selbstvideos ,,weit tragen“? Scheinbar ja, sonst hätte das Kabarett schon längst Konkurs gemacht. Ob die Politik ,,reine Fiktion“ ist, können wir erst entscheiden, wenn wir über eine solide Kritik der reinen Fiktion verfügen werden. Wahrscheinlich sind wir auf dem Weg dazu, aber es ist noch viel zu tun. Ich glaube nicht, daß die Politik „über die Medien vermittelt wird“, ich glaube eher, dass das Medium selbst die Politik ist. Die sakrale Ferne eines geheimen Gesprächs am Kaminfeuer in Genf ist die Videoinstallation, die das Double des militärischen Weltnetzes zur Erscheinung bringt. Die Fiktion ist insofern rein, als die besten Szenarien Kaffeesatz sind. „Vermittlung“ ist also zuviel gesagt. Eher müsste man die öffentliche Geheimsprache als das süffelnde Winseln des modernen Kravatten-Cäsars auffassen, wenn er mit kleinen Sätzen oder watschelnd, aber behend Position bezieht, um vor der eigenen Aura photographiert zu werden.
Hoffnung reicht nicht mehr, wir müssen uns auf eine lange Untergrundarbeit der Wörter gefasst machen. Die Sache eilt, geben wir uns Zeit. Lassen wir nichts ungezollt passieren, Wort für Wort. Das Denken ist das Terrain einer diffusen Zurückeroberung. Wer diese Grausamkeit noch nicht erreicht hat, der ertappt sich noch beim Daumenlutschen.
Inwiefern stimmen Sie der These zu, dass Tageszeitungen immer nur für die Vergangenheit, weniger für die Gegenwart oder die Zukunft konzipiert seien?
Ich habe an seltenen Tagen nur Zeit, Tageszeitungen zu lesen. Am liebsten möchte ich mich regelmäßig krank melden dürfen, um diesen Roman ganzer Monate lesen zu können. Ich weiß nicht, was Sie mit Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft meinen. Das Archaischste hat heute Zukunft, wo ist es? Die Postmodernität ist das Zeitalter der Gespenster, sie hat also kein Alter und ist keine Zeit. Morgen kehrt gestern durch heute zurück, wir sollten die geometrische Linie vergessen und auf der Höhe der Komplikation sein.
Ich wünsche mir von der Tageszeitung die Spur einer nicht vorstellbaren Zukunft.
Das Gespräch führte Reinhold Urmetzer