7 Überkomplexes Denken (II) TAZ-Interview mit J.P.Dubost
Überkomplexes Denken (Teil II)
Das nachfolgende Interview ist einsame Spitze unter meinen journalistischen Veröffentlichungen. Es war aggressiv gegen den forcierten Feminismus in einer sehr vom Feminismus dominierten Zeitung gerichtet, es wendet sich gegen die Besserwisserei sogenannter Fachleute und ironisiert die Wissenschaftsgläubigkeit (Philologie, Psychoanalyse). Die von mir doppeldeutig vorgeschlagene Überschrift, wie sie unten abgedruckt ist, war selbst den sonst so offen toleranten Redakteuren der Berliner taz zu viel. Aber “Vorhaut der Emanzipation”, wie dann als Überschrift schließlich gedruckt wurde, ist vielleicht sogar noch besser.
In Thomas Brussigs Roman “Am kürzeren Ende der Sonnenallee” aus dem Jahre 1999 ist diese meine Formulierung übernommen worden, um eine Direktorin anlässlich einer politischen Propaganda-Veranstaltung in einer Ost-Berliner Schule gehörig aus der Fassung zu bringen. “Vorhaut der Arbeiterbewegung” stand jetzt auf einem großen Plakat in der Schulaula. Das marxistische “Vorhut (Avantgarde) der Arbeiterbewegung” wurde sehr erfolgreich dergestalt umfunktioniert und parodiert. Wir sind In den 80er Jahren – die Wende kündet sich in allen Bereichen an. Nicht nur im ökonomischen Desaster.
Das Interview erschien in der Berliner taz am 7.1.1988, das Interview von Teil I am 15.1.1986.
Freud und die Sphinx
Vorh(a)ut der Emanzipation
Reinhold Urmetzer: Wenn wir von der Männer- und Frauenbewegung reden, müssen wir uns zuerst klar machen, was wir unter ,,Mann”, was wir unter ,,Frau” verstehen wollen. ,,Mann” hat etymologisch vielleicht etwas mit ,,manus” (Hand) zu tun, sich in der Hand haben, etwas, ein Ding, den Penis in der Hand haben etc., während bei ,,Frau” schon im Mittelhochdeutschen zwischen ,,wip“ und ,,frouwe“ unterschieden worden ist.
Jean Pierre Dubost: Antworte ich, so bin ich schon in der Falle. Sie kennen die biblische Geschichte, die von Breughel gemalt und von Baudelaire ins Lyrische übertragen worden ist: Ein Blinder, der einen Blinden führt, der wiederum einen Blinden führt, fällt in eine Grube. In seinem Bild zeigt uns Breughel, wie gerade der erste Blinde in eine Grube fällt. Den Rest kann man ins Bild hineindenken.
Doktor Freud fiel beim Versuch, das Theater in Wissenschaft zu übertragen, auf eine tragische Art in die griechische Falle. Seine Ambition, wenn ich recht verstanden habe, bestand darin, unbedingt am Platz des Helden Ödipus zu sein, seine Rolle im Stück im entscheidenden Moment zu usurpieren.
So steigt er auf die Bühne, schiebt den Fragenden beiseite und übernimmt seine Rolle durch eine leichte textuelle Verschiebung (Hokus Pokus – der Text ist ein Diskurs). Ganz stolz verkündet er dann: ,,Es war gar kein Theater, es war theoria, also Theorie.” Die Antwort ist bekanntlich todbringend.
Anstatt also im blinden Vertrauen meine Antwort an diese folgenreiche Verschiebung anzuschließen und selber meinerseits ein Blinder, der einen anderen Blinden führt etc. (siehe oben) zu werden, möchte ich an die Verwandlung von Theater in Theoria eine kleine Umkehrmaschine anschließen.
Man könnte die Stelle zum Beispiel so umschreiben (es handelt sich natürlich nur um einen kleinen Versuch):
– Die Sphinx: ,,Herr Doktor, sie schweigen?”
– Doktor Freud (nach langem Schweigen und in wissenschaftlichem Ton): „Nun, das ist einfach. Das Wesen, das morgens auf allen Vieren kriecht, zu Mittag auf zwei Füßen läuft und abends auf drei, ist der Mann – entschuldigen Sie bitte, ich meinte: der ‘Mensch’.“
– Die Sphinx: ,,Scheiße, er hat’s gewusst!” (Stürzt sich planmäßig ins Bühnenloch).
Donnerlärm, Blitz, drei Sekunden Dunkel. Auf der plötzlich grell beleuchteten Bühne die Gipsbüste von Professor Lacan.
Das wäre also ein möglicher Metatext für den selig in die Ewigkeit hinein sterbenden Freudschen Metadiskurs. Aber ich sollte auf Ihre Frage zurückkommen.
Jede anthropologische Antwort, jeder Anthropo-Logos ist eine diskursive Ur-Mutter, ist Geier und Gaia zugleich. Diese Ur-Mutter schläft mit allen Göttern und gebiert beliebig viele Kinder. So wie Chronos alle seine Kinder frisst, spaltet die diskursive Ur-Mutter alle ihre Babies entzwei: Mann, Frau, Subjekt, Objekt, Ding, Begehren, Penis, Hand. Hat sich der Mann in der Hand, so hat die Hand den Mann auch in sich, und Hand in Hand umkreisen die Sätze der Theorie „Mann“ wie „Frau“. Beide, in der Mitte nackt und etwas eingeschüchtert, stehen vor Gericht.
Wir wissen, wie der Reigen der Wörter endet, wie im Märchen nämlich: „Aufgabe gelöst, Rätsel enträtselt, Prinzessin geheiratet.“
Von den Wörtern kann man also sagen: ,,Am Ende heirateten sie, sie führten eine glückliche Ehe und haben viele Kinder gehabt“ – Nein Danke.
Reinhold Urmetzer: Die Frauenbewegung hat manche Männer das Fürchten gelehrt. Aber hat nicht umgekehrt auch die Männerbewegung einen Einfluss auf die Frauen, so dass diese sich mit den ,,neuen“ Männern identifizieren und die Geschlechtertrennung von einer nun ganz anderen Seite her aufgehoben wird?
Jean Pierre Dubost: Wenn F ,,Frauen“ meint und F Referent, Sender und Botschaft in einem ist, dann kann natürlich F nur automobil sein. Diese diskursive Selbstmobilität heißt dann ,,Frauenbewegung“.
In der Wirklichkeit hingegen ist und macht (redet) jede Frau anders als F. Sonia Delaunay beschränkt sich auf ,,Simultan-Autos“ (nachzulesen im Konkursbuch Nr.5, S.135), und sie verwandelt dadurch ein Massenerzeugnis zum Kunstwerk. Ohne dieses Supplement wäre die Auto-Mobilität nur ,,dromoskopisch“ (Virilio).
Wenn nun F, dieses Phantom, dem symmetrischen Phantom M als Spiegel dient, entsteht das ,,Spiegelstadium der Gespenster“, also etwas im zweiten Grade Phantomatisches. Was die Selbstreproduktion der Phantasmata betrifft, siehe Antwort 1.
Diogenes sucht also heute auf der postmodernen Agora nach dem ,,neuen Mann“.
Reinhold Urmetzer: Was wäre die Schnittmenge zwischen ,,neuem Mann“ und ,,neuer Frau“? Findet das Verschwinden des Mannes demnach eher als das der Frau statt? Und was dann, wenn endgültig tabula rasa gemacht worden ist, nicht jetzt nur im Sinn eines neuen Krieges gedacht, der immer eine reine selbstzerfleischende Männerangelegenheit war?
Jean Pierre Dubost: ;,Schnittmenge“ ist mir zu mathematisch. Ich hätt’s lieber önologisch, also als Verschnitt. Wie jeder weiß, wird das Verschneiden ebenso gut zur Verbesserung des Geschmacks wie zur Herstellung minderer Weinsorten verwendet.
Gleichermaßen sehe ich nicht, warum ein ,,Verschnitt“ aus ,,Mann“ und ,,Frau“ besser oder schlechter sein sollte, was durchaus nicht besagt, dass starre Rollen weiter bestehen sollten – es war nicht Ihre Frage.
Die Frage scheint mir eher die Gefahr einer erneuten Territorialisierung zu sein. Fange ich an eine beginnende Fluchtlinie zu kategorisieren (und die Mediengesellschaft übt offenkundig einen enormen Druck auf die Sprache in dieser Hinsicht aus), so habe ich sie getötet.
Schwierig ist es allerdings, von dem zu sprechen, was neu wächst. Deleuze liefert hier die gute Formulierung: das Gras wachsen hören. Daher ist gegen jede kastrative Limitierung die Offensive der Paradoxie nötig.
Das, was die Medienköpfe am schlechtesten vertragen, ist die Verzögerung des Definitiven. Im symmetrischen Sinn ist die Illusion des reinen Beginns fatal. Die Moderne ist ein Pilz, der mit jedem neuen Regen neu wächst. Und jedes Mal heißt es: Es ist jetzt der Anfang aller Morgenröte. Deswegen ist jede tabula rasa an sich schon ein Zu-Ende-Bringen, Titel, Text und Unterschrift zugleich. Alle Zeiten sind hier im Voraus erschöpft : das Ende der (alten) Welt ist der Beginn der neuen. Diese ist schon programmatisch erfüllt (gefüllt, erfüllt und erschöpft).
Tabula rasa ist Big Bang.
Doch zwischen Weihnachten und Neujahr liegt eine Woche (Gott sei Dank). Die Bühne der Emanzipation ist immer nachträglich archäologisch rekonstruierbar. Aber wer spricht von einer Welt, die eine endlose Annäherung an einen utopischen Beginn wäre (kein Eschaton).
Ansonsten hat uns das Jesuskind schon eingeholt und wir bleiben so dumm wie der Ochse und der Esel und geben noch nicht einmal ein bisschen Wärme.
Reinhold Urmetzer: Die Phallokratie und mit ihr vielleicht sogar der ganze abendländische Logozentrismus, der gelegentlich daraus abgeleitet wird, befinden sich in einer Krise. Parallel dazu wächst jedoch auch unter den Männern und Politikern eine neue Kastrationsfurcht, die von dem forcierten Feminismus provoziert wird. Stichwort ,,Feminisierung der Sprache“ und ,,Der Mann, das geschlechtslose Wesen“.
Jean Pierre Dubost: Das ,,Große Ding“ hat noch eine lange Zukunft vor sich. Lassen wir alle stolzen Aufrichtungen sich um die Länge ihres Schattens streiten. Es befindet sich nun mal naturgemäß in der Krise, was auf Grund eigener Potenz seinen Höhepunkt erreicht.
Die erektive Krise ist geschlechtslos. Ich weiß nicht, was die ,,Feminisierung“ der Sprache sein könnte (siehe Antwort 1 und 3). Ich weiß nur, dass jeder Phallo-Logozentrismus auf jedes Loch geil ist, jede Lücke sofort stopfen möchte.
Reinhold Urmetzer: Derrida unterscheidet in einem Aufsatz über die Stile Nietzsches eine Graphik des Hymen, des Schleiers, und seine Aufdeckung, die Entjungferung, und er verbindet in der Abhandlung über die Apokalypse das ,,Zurückziehen der Vorhaut der Eichel“, die Penetration, mit dem apokalyptischen Schritt. Also: Jungfernhäutchen und Entschleierung beziehungsweise Aufdecken der Wahrheit zusammen mit dem ,,Zurückziehen der Vorhaut der Eichel“ und der apokalyptischen Offenbarung, das durchbräche den logozentrischen Diskurs?
Jean Pierre Dubost: Keine Lücke ,,verträgt“. Der Phallo-Logozentrismus kennt nur eines: 0 – 1, wahr – falsch, eins – zwei . Marsch Marsch.
Wie wär’s, wenn die eigentliche Opposition nicht Wahrheit versus Lüge, ,,Entborgenheit“ versus „Verhüllung“, sondern Wahrheit versus Lücke wäre. Abdecken oder nicht abdecken, das wäre dann die Frage. Wer heute das Ereignis ,,abdeckt”, ist der größte.
Die Mediensprache spricht hier schon immer mit rührender Transparenz. Im französischen Journalistenjargon spricht man heute ganz unbefangen von ,,couvrir l’evènement“.
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Jean Pierre Dubost unterrichtete am romanistischen Institut der Universität Stuttgart französische und allgemeine Literatur; Lehraufträge an der Universität Klagenfurt und am ,,Collège international de Philosophie“ in Paris.
Veröffentlichungen: „Don Juan oder die Stroboskopie“ (Berlin 1984), ,,Wiederholter Anlauf zu einer unabschließbaren Rede über das Verschwinden der Welt“ (Stuttgart 1985), „Einführung in den letzten Text“ (Hamburg 1986), „Marguerite Duras oder nach Auschwitz filmen“ (Stuttgart 1986), „Montaigne, Marx, Proust“ (Frankfurt 1986).