56 Paul Virilio
Paul Virilio
Jetzt habt ihr einen ganzen Tag lang jeweils Zeit gehabt, im Blog über jedes meiner acht Gedichte nachzudenken, ob es leicht oder schwer, sinnvoll oder sinnlos war, welche Botschaft sich darin versteckt hält von wem und an wen auch immer (der biografische Zugang! stöhn), formalästhetisch gelungen/misslungen, mutig/frei, langweilig, hässlich und dgl.mehr. Genug Fragen also für alle Interpreten und Hermeneuten dieser Welt.
Wechseln wir das Thema. Kommen wir wieder zurück zu den ernsteren Dingen, zum Thema Stress zum Beispiel. Stress hängt doch mit Tempo, Geschwindigkeit zusammen oder nicht? Zumindest manchmal, wenn ihr … ……. ( die Lücke zum Selber- Ausfüllen).
Hier steht also Paul Virilio bereit, ein weiterer französischer Schriftsteller, der wie kein anderer das Thema Zeit ins Zentrum seines Denkens gestellt hat.
Von allen französischen Autoren hat er wohl die größte Breitenwirkung in der Bevölkerung der westlichen Welt, auch wenn ihn niemand kennt, geschweige denn gelesen hat. Er ist immerhin Vater und Erzeuger der Idee der Be- und Entschleunigung.
Wie kein Philosoph jemals vor ihm hat er sich zu diesem Thema geäußert, genauer zum Thema Geschwindigkeit. Ja er hat sogar einen eigenen Wissenschaftszweig gegründet, die Dromologie, Geschwindigkeitskunde. Sich selbst bezeichnet er als Dromologen, Geschwindigkeitskundler. Zu viel Geschwindigkeit führt zum Verhängnis, zum Verschwinden ganzer Kulturen und Völker, so seine Haupt-Botschaft.
Wie Baudrillard verwendet er eine neue Sprache, die einem vielleicht noch abstruser und befremdlicher vorkommt. Er antwortet zum Beispiel in seinem Buch “Der reine Krieg¹” auf die seltsam gestellte Frage von Sylvère Lotringer “Der falsche Tag der Geschwindigkeit” sei “ein Tag, der unaufhörlich anbricht” mit:
“Früher musste man abreisen, um anzukommen. Jetzt kommen die Dinge auf einen zu, ohne dass man abreist. Worauf werden wir noch warten, wenn wir nicht mehr darauf warten müssen anzukommen?
Antwort: wir werden darauf warten, dass etwas kommt, was bleibt. Das Abreisen ist zu Ende, man kommt nur noch an…das klingt paradox, ist es aber nicht. Genau das machen bereits unsere Passagiere, wenn sie als Geschäftsleute zweimal am Tag mit der Concorde von Paris nach New York fliegen und zurück. Sie können gar nicht schnell genug nirgendwo hinkommen. Im Moment reisen sie natürlich noch ab und kehren zurück, aber eigentlich warten sie darauf, anzukommen ohne abzureisen.
Geschwindigkeit bedeutet nicht Fortschreiten oder Fortschritt, sondern Schrumpfung der Reise.”(S.70)
Dies ist eine neue Art von paradoxer Sesshaftigkeit, auch Erstarrung vor den Bildschirmen unserer Computer oder Fernseher, welcher Virilio das neue “Nomadentum” gegenüberstellt. Daraus wird später positiv dann auch im übertragenen Sinn bei anderen Philosophen das “nomadisierende”, wenn nicht sogar im Sinne Derridas das “delirierende Denken”. Ich spreche gern vom Kreuz-und-Quer-Denken, auch vom Kreuz-und-Quer-Leben sogar.
Wie Baudrillard mischt auch diese Sprache metaphorische Begriffe mit Alltags- und Pseudo-Wissenschaftssprache, ist also eine literarische Fiktion, die interpretiert, übersetzt, verständlich gemacht werden muss.
Für eine solche Sprache gibt es kein Wörterbuch, keine Wissenschaftlichkeits-
Virilio, eigentlich ein Architekt und Landschaftsgestalter, sah sich deshalb ebenso wie Baudrillard und andere in der Sokal-Affaire heftiger Kritik ausgesetzt.
Auch die Technokratie ist sein Forschungsbereich. Technik bezogen jedoch eher einseitig auf den “militärisch-industriellen Bereich”, durch welchen die Militärausgaben sich verselbständigen bis hin zu neuen Kriegen bei gleichzeitiger Verelendung der Zivilbevölkerung wie in Osteuropa vor 1989 oder gegenwärtig in vielen Entwicklungsländern zu beobachten. Aber auch Technik selbst wird kritisch hinterfragt:
“Wissenschaft und Technik sind entstanden, weil der Mensch sich Fragen über die Natur stellte. Ausgehend von jenem Wissen, das man dem Rätsel der Natur entrissen hatte, produzierte man dann Technologien. Nunmehr – seit etwa einem Jahrhundert – tendieren Wissenschaft und Technik mit ihrer Entwicklung dahin, die Stelle des Rätsels der Natur einzunehmen”.
Das heißt die Technik wird zu einem neuen Rätsel, das sich zu verselbständigen droht und eine übermächtige Gefahr für die Menschheit werden kann. Ich erspare mir an dieser Stelle die Aufzählung allseits bekannter Beispiele. Doch
“für dieses Rätsel gibt es keine Wissenschaftler und erst recht keine Techniker. Besser ausgedrückt, es gibt keine, weil man nichts davon wissen will, weil Wissenschaftler und Gelehrte angeblich die Natur der Technik kennen und ein Fragen danach nicht zulassen. Das Rätsel der Technik erweckt mehr oder zumindest genau so viel Furcht wie das Rätsel der Natur”(S.26)
Warum will man nichts von den Gefahren der Technik wissen? – Weil Technik und Naturwissenschaft unter dem Deckmantel der “Wertfreiheit” so mit dem Wirtschaftssystem und Geldverdienen verbunden sind, dass eine Trennung nicht mehr möglich scheint. Dies ist zumindest die Theorie von Jürgen Habermas und seine Technokratie-Vision.
Paradoxerweise empfiehlt Virilio sogar ein Museum der Technikfolgen, in welchem “der gestalterischen Dimension des Unfalls der gebührende Platz eingeräumt wird. Es müssten darin Zugentgleisungen, Luftverschmutzung, der Einsturz von Gebäuden etc. gezeigt werden” (S.37). Explodierende Kernkraftwerke und elektronische Überwachungssysteme ganzer Staaten wohl ebenso.
Wir sind außerdem nicht mehr die Herren der Technik, sondern ähnlich wie Baudrillard sagt, die Technik beherrscht uns:
Das Problem besteht nicht darin, die Technik zu nutzen oder anzuwenden, sondern sich darüber klar zu werden, dass man von ihr benutzt wird. (S.80)
*
Neben den Überlegungen zu Geschwindigkeit und Technik ist Virilios zweites großes Forschungsgebiet der Krieg, und in diesem Bereich sind manche seiner Voraussagen und Analysen aus den 80er Jahren mittlerweile noch realer als die Realität geworden, das heißt sie weisen in ihrer Richtigkeit weiterhin und noch bedrohlicher in die Zukunft.
Wer hätte von uns deutschen Nachkriegsgenerationen je geglaubt, dass konventionelle Kriege mit Panzer, Maschinengewehren und sogar Schwertern (Knüppeln, Schlagstöcken) noch einmal möglich sein werden? Dass neue alte Arten von Krieg wieder kommen werden, dergestalt, dass der eine Gotteskrieger dem anderen Gotteskrieger den Kopf abschlagen wird im Namen des einzig wahren Gottes?
Dass überall und fast sogar schon in den glitzernden Städten des Abendlandes die Assassinen der mittelalterlichen Kreuzzüge wieder auferstehen werden, diesmal sich gleich um die Ecke versteckt halten mit ihren selbst gebastelten Autobomben, um direkt in das Himmelreich zu kommen?
Dies alles hängt, so Virilio, mitunter mit den militärisch-industriellen Konzernen zusammen, die übermächtig und unmerklich auch im Westen immer wieder und immer mehr zur Alleinherrschaft drängen, der Bevölkerung ein demokratisches Feigenblättlein von Mitbestimmung und Transparenz zugestehen, in Wirklichkeit aber die ganze Welt mit Feuer und Gewalt, neuartigen Bomben, Gewehren und Handgranaten überziehen.
Virilio schreibt:
“Lateinamerika und in gewissem Maße auch Afrika sind Laboratorien der künftigen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die kontrolliert und kolonialisiert wird von den Ordnungskräften des eigenen Landes, oft mit Unterstützung fremder Truppen.
Das ist nicht mehr eine Kolonialisation nach Außen ( das Zeitalter der extensiven Eroberung der Welt), sondern eine Binnen-Kolonisation. Kolonisiert wird nur noch die eigene Bevölkerung. Und die zivile Ökonomie wird dabei unterentwickelt.”(S.97)
“In diesen Systemen dominiert nicht mehr eine Ideologie, sondern die militärische Ordnung. Ordnung ist die einzige Ideologie. Ganz egal, ob diese Ordnung sozialistisch, kapitalistisch oder sonstwie ist. Hauptsache, sie ist nicht politisch, also demokratisch, sondern militärisch.” (S.98)
So lässt sich das Ende des Politischen auch definieren. Wahlen sind dann nur noch ein Als-Ob.
Aus dem Wohlfahrtsstaat wird dergestalt der Verhängnisstaat, der seine ganzen Kräfte in die Entwicklung neuer und noch “besserer” Waffen und Überwachungstechniken steckt. Die Kriegsproduktion (auch im Sinne der Abschreckung) wird zur allgemeinen Ökonomie eines Staates, die wissenschaftlich-militärischen Bereiche führen zu einer Stratokratie, einer Herrschaft der Militärs.
Die Entwicklung der Kriegsökonomie endet letztlich im Verschwinden ganzer Gesellschaften: Nicht nur durch den Tod mittels Bomben, Krieg und Bürgerkrieg, sondern auch schon durch die massenhafte Flucht der Menschen, die weite Teile einer Landschaft aussterben lässt – gegenwärtig (2) gut zu beobachten im Krieg des Staates Syrien gegen die eigene Bevölkerung. Und die zahllosen Kriege in Afrika? Wer hat die Waffen dafür gebaut, welcher Wissenschaftler und Ingenieur sie entwickelt, welcher Konzern profitiert davon?
Setzen wir für den Begriff des Politischen den Begriff Soziokybernetik, für Ordnung Geheimdienste und für Macht Technokratie ein, dann sind wir gar nicht mehr so weit entfernt von einer Diktatur der technisch-wissenschaftlichen “Elite”, die genau weiß, was Untertanen glücklich machen wird oder auch nicht.
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¹ Paul Virilio/Sylvère Lotringer “Der reine Krieg” (Merve-Verlag Berlin 1985)
2 2014