180 Platons “Symposion”
Über Liebe und Lust(2)
In Platons „Gastmahl“ (Symposion”) geht es weniger um die Lust und wie man mit Besonnenheit die zügellose Lust bändigen kann. Hier geht es eher um die überzeitlichen Ideen, die man kennen lernen wird, auch um die höchste Idee des Guten, die man schließlich schauen kann – also Gott – , wenn man alle Vorstufen von Lust, Liebe und Schönheit durchlaufen hat.
Ich halte mich im Nachfolgenden an den Originaltext in der Übersetzung von Otto Apelt(1). Nicht weil ich die Knabenliebe unterstützen und gut heißen würde in unserer Zeit. Im Gegenteil (siehe meine Einwendungen dazu schon im Blogbeitrag Nr.21). Sondern um wieder klar werden zu lassen, dass andere Zeiten mit anderen Menschen anders lebten und auch wieder anders leben werden. Dass es Männergesellschaften gab, welche die Homosexualität förderten und dass Förderung wie Ablehnung der Homosexualität auch in diesen Experimenten der griechischen Stämme um 400 v.Chr. ihre Ursache hat(2). Denn mit Freud glaube ich, dass sich die sexuelle Orientierung ebenso wie der Umgang mit Aggressivität – mit Ausnahmen, die es wohl geben mag – im Laufe der Entwicklung des Menschen und seiner Kultur erst bilden oder besser gesagt gebildet werden musste durch zahlreiche Einflüsse. Und dass es weder eine Zwangshomosexualität noch eine Zwangsheterosexualität geben sollte (ich habe darüber bereits immer wieder geschrieben).
Acht Männer, alle irgendwie emotional miteinander verbandelt (wir leben in einer Männerwelt ohne Fraueneinfluss, in einem Militärstaat, in welchem Intellektualität, Stärke, Aussehen und kriegerische Tapferkeit mit zu den höchsten Tugenden gehören), treffen sich zu einem Abendessen in einer Villa in Athen im Jahre 415 v.Chr. In der zweiten Hälfte des Abendessens, wenn man mit dem Weintrinken beginnt (der Wein wird zu Beginn immer noch mit Wasser gemischt) einigt man sich der Sitte gemäß auf Stegreifreden zu einem ausgewählten Thema; diesmal wird es die Liebe sein. Dafür ist der Gott Eros zuständig; und jeder der Anwesenden muss also eine Lobrede auf Eros halten.
Stegreifreden waren eine beliebte Gattung („Format“) der damaligen Zeit, wo sich nur eine kleine Oberschicht das Lesen von „Büchern“ erlauben konnte. Heutzutage sind diese Reden ganz ausgestorben und sie erleben nur in den Rap-Battles oder Spontangedichten der Jugendpoesie („Slam“-Dichtung) eine kleine Renaissance.
Platons Werk, sein Aufbau, seine Komposition ist wieder eine sehr kunstvolle, um nicht zu sagen künstliche: Einmal ein kleines Theaterstück, in welchem jeder Teilnehmer als Schauspieler solistisch auftritt und sein Können beweisen darf. Dann gibt es aber auch im Text Prosa-Stellen mit Dialogen. Gegen Ende wird die Veranstaltung von Nachtschwärmern gestört und alles löst sich in einem mehr oder weniger wüsten Gelage auf.
Kompliziert wird diese Form-Struktur durch die latente Ironie des Schriftstellers, ja schon durch die Schalkhaftigkeit des ganzen Werkaufbaus. Philologen haben oder wollen herausgefunden haben, dass die Zeit- und Personen-Zusammenstellung von Platon frei erfunden und mit hintersinnigem Humor zusammengestellt worden sind. Weder soll der Zeitpunkt des Treffens (der Schriftsteller Agathon hat gerade seinen ersten Wettbewerb gewonnen und will dies feiern) noch die Personenkonstellation der Wahrheit entsprechen. In Wirklichkeit sollen manche Personen des Festessens nicht unbedingt in Freundschaft, sondern sogar in Feindschaft miteinander verbunden gewesen sein.
Ein Drittes noch. Philologen und Philosophen versuchen seit Jahrhunderten herauszufinden, was in diesem Dialog nunmehr die Botschaft des Sokrates, was platonisch daran gewesen sein soll. Dass die Ideenlehre gegen Ende des Textes platonisch, die Ausführungen zur Lust (sie wird immer christlich mit “Liebe” übersetzt, meint jedoch eher das Begehren, um nicht von Lust auch im Sinne von Wollust oder Sexismus zu sprechen) hingegen von Sokrates übernommen worden seien und so fort.
Ich denke hingegen wieder eher im Sinne der Psychoanalyse. Dass alle vorgestellten Gedanken, selbst wenn sie schließlich abgelehnt werden (etwa der direkte sexuelle Kontakt von Sokrates mit Alkibiades) Gedanken Platons und Gedanken seiner Zeit waren, die virtuell Kultur und Gesellschaft widerspiegeln und bis in die Gegenwart sogar unsere Moralvorstellungen noch weiterhin beeinflussen. Dass in allen Zeilen sowohl Platons eigenes Unterbewusstsein als auch das archetypische Unterbewusstsein seiner Zeit (und wir als Interpreten auch unserer Zeit) deutlich wird, um mit C.G.Jung zu sprechen.
Die Komposition des Dialogs mit ihrer mehrfach gebrochenen indirekten Berichterstattung, reichlich kunstvoll also, ja fast schon künstlich gezwungen – er sagte, er habe gehört, wie dieser sagte, dass er damals (vor 15 Jahren!) gehört habe, dass… – diese Komposition zeugt von Platons Selbstbewusstsein als Künstler, wie er wieder alle von seiner schriftstellerischen Meisterschaft überzeugen will – zumal im Hause eines so erfolgreichen und gefeierten Schriftstellers. Und der realiter als Leiter einer berühmten und einflussreichen Akademie (private Hochschule) in der Stadt Athen immer wieder sein Können unter Beweis stellen musste. In der Reclam-Neuausgabe hat man nichtsdestotrotz versucht, “eine gut lesbare deutsche Ausgabe herzustellen”, hat sich sogar nicht gescheut, die sehr gekünstelt wirkende indirekte Rede von Apollodoros zu Beginn in eine direkte Rede zu übertragen.
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Das Thema heißt also Eros, und dieser Gott ist sowohl für die Liebe (nicht im romantischen und schon gar nicht im christlichen Agape-oder Caritas-Sinne gedacht) als auch für die Lust zuständig. In einem anderen Werk, im 1.Buch Kapitel 8 der „Gesetze“, äußert sich der alternde Platon anders als im jugendlichen „Phaidros“ direkt zur Thematik und Wichtigkeit von „Lust“:
„Was aber die auf Gesetzgebung gerichteten Bemühungen der Menschen betrifft, so dreht sich da die ganze Gedankenarbeit um die Erscheinungen von Lust und Schmerz sowohl im staatlichen Leben wie in der inneren Welt des Einzelnen. Denn diese beiden Quellen hat die Natur sich frei ergießen lassen, und wer aus ihnen an richtiger Stelle und zu richtiger Zeit und im richtigen Maße schöpft, der ist glücklich, ein Staat ebenso wohl wie ein Einzelner, und überhaupt jedes lebende Wesen. Wer aber dabei ohne besonnene Einsicht und ohne Rücksicht auf die schickliche Zeit verfährt, dem ist das gegenteilige Lebenslos beschieden“ (S.XIIf Apelt Vorwort).
Was die beiden Begriffe Liebe und Lust bedeuten und wie sie moralisch bewertet werden müssen, das zeigen im Einzelnen nun die Vorträge. Phaidros, bekannt bereits aus dem gleichnamigen Werk Platons, kommt gleich zur Sache. Er plädiert im idealen Sinne Platons für die erzieherische Liebe der damaligen Zeit (Knabenliebe), die meist auch die Lust mit einschloss, vielleicht sogar dominierte. Nur dann konnte ein Pubertierender zum richtigen Mann werden, wenn er sich einem solchen “richtigen Mann” als Geliebten anschloss und “hingab”. Das bedeutete wohl auch: die Schmerzen des Analverkehrs ertragen zu lernen.
Das ging damals in manchen griechischen Staaten (nicht in allen) so weit, dass in den Familien mit 15- bis 16-jährigen Knaben, wenn der Bartwuchs begann, höchste Alarmbereitschaft herrschte. Dass man den jungen Mann – selbst noch viel später im römischen Reich – auf seinem Weg zur Schule Aufpasser mitgab (einen Paedagogus), die jeden Kontakt mit erwachsenen Männern verhindern sollten. Ja dass es diesen Liebhabern unter Todesstrafe sogar verboten war (wir sind in einer Männerwelt), ihren Geliebten in die Schule zu folgen.
Doch nicht die Tatsache, dass es solche Formen von Liebe gab, war umstritten, sondern einzig und allein die Person. Ob der Liebhaber ehrenwert, wohlhabend, aus einer bestimmten Schicht stammte. Und dieser sollte aber gerade nicht – so Platons moralische Mission – seine überlegene Position sexuell ausnutzen, sondern besonnen sich zurückhalten und seinen Zögling andere Wege zum Sinn des Lebens aufzeigen. Als da zu nennen wären die typischen Tugenden eines Militärstaates: Tapferkeit, Kraft, Mut, Sportlichkeit (täglich trainierte man zusammen, nackt, Mädchen waren im Gegensatz zu Sparta nicht zugelassen 3), aber auch Liebe zur Weisheit (Philosophie), Musik, Intellektualität und zum öffentlichen politischen Diskurs (Rhetorik).
Nach dem Plädoyer von Phaidros ist “kein größeres Gut zu nennen als einen ehrenwerten Liebhaber zu haben und für den Liebenden einen ebensolchen Geliebten“. Diese Art von erzieherischer Liebe, also mit einem „ehrenwerten“ und nicht nur sexistischen Liebhaber, die die Lust einschränkt, ja sogar schließlich in die Familienplanung weiter führt (Knabenliebe und Familie schließen sich in der ganzen Antike nicht aus, siehe auch Sokrates, der Kinder hatte) wäre “der beste Leitstern für das ganze Leben“.
Eine kleine Seitenbemerkung in der Rede des Phaidros gilt auch der Wehrertüchtigung: Kein “besser gestaltetes Gemeinwesen kann es geben, als wenn sich ein Heer aus lauter Liebhabern und Geliebten” bilden würde, die bis zum Tod zusammen bleiben und zueinander halten würden. Vorbild war für diesen Gedanken, der im Jahre 380 v.Chr. sogar vom Stadtstaat Theben in die Realität umgesetzt worden sein soll (die “Heilige Schar”), der Militärstaat Sparta, wo aus eben diesen Gründen die Männerliebe sogar gefördert wurde. Denn diese Art von Liebe “begeistert zu edeler Männlichkeit“, die sogar idealiter ein Leben lang dauern konnte mit und ohne Familie.
Platon beschreibt weiter dann auf Seite 29f dieses Dialogs und mit der Stimme des Aristophanes m.E. auch indirekt selbst seine eigene Lebensgeschichte und Lebensform (er blieb unverheiratet):
„Nicht aus Schamlosigkeit tun die Jünglinge das, sondern auf Grund mutiger, tapferer und männlicher Sinnesart, sich gern berührend mit dem, was ihnen ähnlich ist. Sind sie heran gereift, so sind sie es – und nur sie allein – , die sich als brauchbar für die Staatsleitung erweisen. Sind sie aber Männer geworden, dann geben sie sich der Liebe für Knaben hin: auf Ehe und Nachkommenschaft ist ihr Sinn von Natur nicht gerichtet, sie lassen sich vielmehr nur durch den Brauch bestimmen (nämlich zu heiraten und Kinder zu zeugen), während sie am liebsten ehelos miteinander leben würden. Unbedingt also wird ein solcher ein männliches Liebesleben führen als Liebhaber und Freund, immer dem ihm Verwandten zugetan“(S.30)
Platon unterscheidet hier also das Liebesleben „als Brauch“, was wohl als ein Einfügen in die Tradition des Kinderzeugens zu verstehen ist (etwa auch mit Sokrates als Beispiel) und das „männliche Liebesleben“, das auf Nachkommenschaft verzichtet, stattdessen sich um das allgemeine gesellschaftliched Wohl kümmert und in der Liebe nur gleichgeschlechtlich orientiert sein wird. Man muss bedenken, dass alle diese Sätze immer nur für die Oberschicht gegolten haben, dass Platons „Zielgruppe“ also eine kleine auserwählte Elite war, die er später auch in seinem „Staat“ mit eben solchen Aufgaben betreute, wobei er aber den sexuellen Kontakt unter Männern schließlich im Alterswerk “Gesetze” als “widernatürlich” ganz abgelehnt hat.
Auch Pausanias, der Liebhaber von Agathon, unterstützt die Männerliebe mit dem gleichen Argument, sie sei gut für Schlacht und Krieg. Er unterscheidet aber zwei Arten von Liebe, denen er jeweils andere Göttinnen zugesellt: die “weltliche“,d.i. sinnlich-körperliche Liebe, welche beide Geschlechter und auch noch die Knabenliebe akzeptiert, d.h. der Lust und dem Begehren den Vorzug gibt. Diese Art Liebe praktiziert das einfache Volk, welches durchweg heterosexuell war mit Ausnahme einiger anderer griechischer Stämme, insbesondere Thebens und Spartas, das teilweise Vorbild auch für Platon war.
Die himmlische Liebe hingegen mit der Göttin Aphrodite als Schutzgöttin liebt jedoch mehr die Seele und den Geist als den Leib. Sie neigt sich auch mehr dem männlichen Geschlecht zu, insbesondere den jungen Pubertierenden, um diese zu “besseren Menschen” zu machen „sei es an Weisheit oder an sonstiger Tugendhaftigkeit, mit starkem Selbstbewusstsein und kräftigen Freundschaften“.
Der Arzt Eryximaches schließlich, der Liebhaber des Phaidros, plädiert in seiner Rede für ein “harmonisch maßvolles Mischungsverhältnis” von Lust und Liebe, von körperlicher und geistiger Betätigung. Als Arzt kümmert er sich um die Harmonie von Körper und Seele, weder ein Zuviel noch ein Zuwenig seien angemessen für ein gesundes Leben. Nebenbei spricht er sich auch noch für das Einhalten der religiösen Riten aus, denn sie seien die besten Vermittler einer “Freundschaft zwischen Göttern und Menschen“.
Schon jetzt wird in diesem Gesprächskreis klar, dass der platonische Geist, der Maß und Mitte und Besonnenheit walten lässt, die Lust in ihrer “Zügellosigkeit” als Gegnerin benennen wird. Liebe, sogar lebenslange Liebe im Sinne auch von fester Partnerschaft, gelingt nur mit der besonnenen Einsicht in diese Dinge, während der Körper bedingungslos nach Lust strebt.
Aristophanes, der Theater-Schriftsteller, bringt in seinem Vortrag die Mythologie ins Spiel. Vormals habe es drei Geschlechter gegeben: Den Mann (er stammt von der Sonne ab), die Frau (sie stammt von der Erde) und die Mannfrau, die vom Mond abstammt. Diese drei Geschlechter bewegten sich jeweils in doppelter Gestalt kugelförmig durch das All. Sie wurden übermütig und als Strafe von Zeus getrennt, das heißt gespalten. Aber die Sehnsucht nach Vereinigung mit ihren anderen Hälften blieb, sie wollten wieder zusammen sein: Mann mit Mann, Frau mit Frau, sowie Mann mit Frau. Die Götter ließen sich erweichen, rückten die Geschlechtsorgane an die richtige Stelle und damit war auch die Liebe und Fortpflanzung erfunden:
„Diese Verlegung der Geschlechtsorgane nach vorne und die damit verbundene Erzeugung ineinander durch das Männliche in dem Weiblichen bewerkstelligte er (Zeus) deshalb, damit, wenn bei der Umarmung ein Mann auf ein Weib träfe, zugleich eine Zeugung erfolgte zur Fortpflanzung des Geschlechtes. Wenn aber ein Männliches auf ein Männliches traf, das Zusammensein wenigstens zu einer Befriedigung führte und sie sich beruhigten und sich wieder der Werktätigkeit zuwendeten und sich der Sorge für die anderen Lebensbedürfnisse widmeten“(S.28f)
Liebe und Lust sind also den Menschen angeboren, sie führen die ursprüngliche Natur wieder zusammen und wollen aus zweien eins machen zur „Fortpflanzung des Geschlechtes“. Das Zusammenfinden aus Liebe ist eine “Heilung der menschlichen Not“, so heißt es wenig später. Dass dabei auch die Lust ins Spiel kommen muss, ist eine Sache der “Beruhigung, der Befriedigung des Körpers”. Nur so kann der Mensch in seiner Arbeits- und Kulturwelt existieren. Jeder ist nur das halbe Stück einer Ganzheit, er sucht das entsprechende Gegenstück, wobei Männer Männer und Frauen auch Frauen suchen und finden können. Durch die Liebe will man eins werden, denn “wir waren früher ganze Wesen“.
„ Fügt es sich nun, dass die Liebhaber auf ihre eigene andere Hälfte treffen, dann werden sie von wunderbaren Gefühlen der Freundschaft und Vertraulichkeit und Liebe ergriffen und möchten am liebsten auch keinen Augenblick voneinander lassen. Und sie sind es, die ihr ganzes Leben miteinander zubringen, sie, die noch nicht einmal zu sagen wüssten, was sie voneinander wollen, denn auch der bloße Liebesgenuss im Zusammensein kann es doch nicht sein, um dessen Willen der eine in Gemeinschaft mit dem Anderen eine so ernstlich gemeinte Freude empfindet, sondern etwas Anderes ist es offenbar, worauf die Seele beider voll Verlangen hingerichtet ist, etwas Unsagbares, nur in Ahnungen und Rätseln Andeutbares“(S.30).
Es ist die Idee der (geistigen) Liebe, die sich bemerkbar macht. Jetzt, im Zeichen der Verliebtheit und „wunderbarer Gefühle“ ist dieses Andere noch rätselhaft und unklar. Aber bald wird es sich auch geistig als die fehlende andere Hälfte herausstellen, die hilfreich und sogar „heilend“ unseren Lebensweg mitzugehen, mitzugestalten bereit sein wird.
Und wie findet man nun dieses Gegenstück, „wie den Geliebten finden“, was nach Platons Meinung selbst zu seiner Zeit nur wenigen gelingt? Auch Aristophanes plädiert mit einem religiösen Argument: Indem man mit Gott in Freundschaft bleibt, indem man zu Gott Eros betet, ihm opfert, ihm vertraut: “Eros führt uns dazu, den Richtigen zu finden“.
Besonders wichtig und interessant wird eben diese Stelle auf Seite 31, weil hier erstmals und nachdrücklich für eine lebenslange Partnerschaft geworben wird, die dann später auch von der stoischen Moral ebenso wie von der christlichen Lehre übernommen worden ist:
„Gesetzt, es träte, wenn sie beisammen liegen, Hephaistos mit seinen Werkzeugen an sie heran und fragte sie: Was wollt ihr Menschenkinder denn eigentlich voneinander, und wenn er die um eine Antwort Verlegenen wieder fragte: Ist euer Verlangen darauf gerichtet, so viel wie möglich an derselben Stelle beieinander zu sein, also Tag und Nacht euch nicht voneinander zu trennen? Denn wenn ihr danach Verlangen tragt, so will ich euch in Eins verschmelzen und zusammen schweißen, so dass ihr, jetzt zwei, eine Einheit werdet und euer Lebelang ein Einziger seid. Auf denn, sehet zu, ob dies euer Begehren ist und ob es euch Genüge tut, wenn euch dieses zu Teil wird.
Nach solcher Verkündung würde – des sind wir gewiss – kein Einziger Nein sagen oder einen anderen Wunsch zu erkennen geben, sondern jeder würde schlechtweg meinen eben das gehört zu haben, was er längst schon wünschte, vereinigt und verschmolzen mit dem Geliebten aus zweien eins zu werden“.(S.30f)
Liebe leitet uns zu dem “uns Verwandten zurück“, indem wir einen Geliebten finden, der ganz unserer Sinnesart entspricht. Liebe führt uns zur „ursprünglichen Natur der Ganzheit zurück“, sie hat also eine „heilende Kraft“ und macht uns „glücklich und selig“.
Diese Vorstellung hat sich geistesgeschichtlich am stärksten in der abendländischen Kultur verbreitet, ja sie existiert idealiter bis auf den heutigen Tag. Lust, Begehren, Körperlichkeit bleiben jedoch eher ausgeklammert – Platons Verdikt im Phaidros wirkt bis auf den heutigen Tag und ist erst von Psychologie und Psychotherapie infrage gestellt, ja korrigiert worden. Dies widerspricht jedoch nicht der Tatsache, dass Platon mit der Stimme des Aristophanes sowohl für die Verliebung als auch für die lebenslange Monogamie sehr schöne und nachhaltige Worte gefunden hat.
Agathon, der erfolgreiche und gefeierte Künstler, bringt einen neuen Aspekt in die Diskussion: er stimmt zwar dem vorher Gesprochenen zu, Besonnenheit bedeute Herrschaft über Lustgefühle und Begierden, doch Eros lebe auch im Gemüt und nicht nur in der Seele des Menschen.
Wo Eros auf ein hartes Gemüt stoße, mache er sich davon, wo er aber ein weiches finde, da mache er sich heimisch (S.35). Gewalt habe mit Eros also nichts zu schaffen. Als Künstler sieht er in Eros aber mehr noch den Gott der Zeugungskraft, der Kreativität. Die Liebe zum Schönen lässt ihn immer wieder aktiv werden, und er bezaubert alle Götter und Menschen eben durch diese seine Kreativität.
Ähnlich äußert sich auch Sokrates als Letzter des Gesprächs. Für ihn ist Eros jedoch ein Dämon, das heißt ein Mittler zwischen Gut und Schlecht. Von seinem Vater, der auf Erwerb und Reichtum aus war, ist er ein Sohn der Klugheit. Von seiner Mutter her, die arm und in vieler Hinsicht auch dürftig war, ist er leidenschaftlich und zügellos. Vorherrschend ist jedoch bei ihm die Liebe zu allem Schönen. Im Schönen des Körpers und der Seele will er lieben und zeugen, sei es menschliche Nachkommenschaft, seien es kreative Produkte vom Kunsthandwerk bis hin zu geistiger Kunst. Oberstes Ziel dabei ist ihm die Unsterblichkeit, die er durch „Kinder des Körpers“ und durch „Kinder der Kunst“ erlangen kann.
Die körperliche Liebe und das Begehren werden jedoch eher ablehnend betrachtet. In der berühmten Verführungsszene, über die der betrunkene Alkibiades in einem leidenschaftlichen Ausbruch berichtet (er kommt durch Zufall erst jetzt und als Nachzügler zu der Gesellschaft), lehnt Sokrates, obgleich bekennender „Liebhaber der Schönen“, das körperliche Liebeswerben des Alkibiades rundweg und mit launisch-ironischen Worten ab („Nachdem ich mit Sokrates das Lager geteilt, erhob ich mich, ohne dass etwas Weiteres geschehen wäre, als wenn ich beim Vater oder älteren Bruder geschlafen hätte“) S.72
Doch Sokrates wäre nicht Platon und Platon nicht Sokrates, wenn es nicht noch eine Steigerung geben könnte. Indem man die Schönheit liebt, ihr auch begegnet heute in dieser, morgen in jener Art von Schönheit, begegnet man schließlich und notwendig auch der Idee der Schönheit, die man liebt, die man begehrt. Indem man liebt, immer wieder liebt im Sinne von Eros, gelangt man also auch zur Idee der Liebe, und diese Idee ist wie alle anderen Ideen ewig, etwas Göttliches (4). Im konkret-körperlich Schönen begegnen wir der (abstrakten) Idee der Schönheit, in der konkreten Verliebtheit der Idee der Liebe, die unkörperlich, weil ewig ist. Das Körperliche stirbt, vergeht; nicht jedoch das Geistig-Unkörperliche. Also ist die unkörperliche (geistige) Liebe wertvoller als das Begehren und die Lust.
Und diese Ideen sind nur einer Idee noch untergeordnet: der Idee des Guten, und „das nennen alle Gott “. So kommt es schließlich bei bestimmten Menschen dazu, Philosophen vor allem, dass sie auf körperliche Schönheit, auf konkrete sinnliche Liebe ganz verzichten können: „Der Mensch lernt schließlich, dass er dem körperlich Schönen nur einen geringfügigen Wert beizumessen lernt“. (S. 58)
Damit sind wir bei der Herrschaft des Geistes über den Körper und bei der Abwertung von Begehren und Lust. In der abendländischen Geistesgeschichte haben Platons Worte jedenfalls einen Siegeszug angetreten, der in seiner Einseitigkeit viele Opfer und Kollateralschäden mit sich gebracht hat. Die immer größer werdende Ablehnung der Sexualität als „Wollust“ führt schließlich zur gänzlichen Verdammung der Lust: Sie sei des Teufels. Sie führte im Mittelalter zum Fanatismus der Hexenverbrennungen (die Lust ist eine Frau und eine Hexe) und sie führt bis heute in manchen Staaten unserer Welt immer noch zur Stigmatisierung der gleichgeschlechtlichen Liebe. Man wirft ihr vielleicht vorschnell eine zu einseitige Lust-Orientierung (Sexismus) und egoistische Unverantwortlichkeit dem gesellschaftlichen Ganzen gegenüber vor, wenn man keine Kinder zeugen und aufziehen will.
(1) Otto Apelt, Platon – Sämtliche Dialoge (Bd.III) Meiner Verlag 1998 (Reprint der Ausgabe von 1923)
(2) In einer neuen Ausgabe von Platons Gastmahl aus dem Jahre 2011 trauen sich mittlerweile die Übersetzer sogar von einer homosexuell dominierten Männergesellschaft im antiken Griechenland als Normalfall zu sprechen. Dass es üblich gewesen sei, “eine durch ein Arrangement mit den Schwiegereltern gewonnene Ehefrau zur Zeugung von Nachkommen im Hause und einen jugendlichen Geliebten für amouröse Vergnügungen außer Haus zu haben” (Platon “Das Gastmahl”, Reclam Band 18527 S.111). Auch wenn über die Praxis der Knabenliebe immer nur Vermutungen angestellt werden können, die mir in den wenigsten Fällen als glaubwürdig erscheinen.
So soll der spätere Kaiser Augustus erst sehr spät “die Männertoga angelegt” haben, was das Ende der “Knabenzeit” bedeutete mit allen Konsequenzen. Man versteht auch, warum manche Eltern, das heißt der allmächtige Vater, ihre Kinder bereits mit 14 Jahren verheiratet haben wollten. Cäsar war schon mit 17 das erste Mal geschieden.
3) Antike Vasen zeigen, dass die Vorhaut beim Sport zugeschnürt war, um Erektionen zu vermeiden.
4) Im Ideen-Himmel Platons gibt es die Idee der Liebe tatsächlich noch nicht. Es gibt nur die Idee der Schönheit. Erst das Christentum hat den überzeitlichen (ewigen) Wert von Liebe, jetzt aber mehrdeutig sublimiert im Sinne von Caritas und Nächstenliebe, in die körperliche Welt und (als Gottheit) in die Welt des Glaubens eingeführt.
Vgl.Nr. 283 die Begegnung von Sokrates und Alkibiades (Platonische Liebe)
Vgl. damit auch im „Phaidros“ Nr.22 die platonische Jugend-Auffassung.