65 Über Gott (2)
Nikolaus von Kues
Wo bleibt Gott, wenn man ihn mittels der negativen Theologie nicht erkennen und beschreiben kann und mittels der positiven (affirmativen) Erkenntnis-Methode immer wieder dem Relativismus und der Vergänglichkeit aussetzt? –
Mystische Erfahrung nennt man die Antithese oder komplementäre Ergänzung zum rationalen Erkennen. Der chinesische Taoismus beruft sich mit Lao-Tses “Tao Te King” darauf[1], Teile des Buddhismus und des islamischen Sufismus kennen die Mystik als Erfahrungstatsache und auch im Christentum hat sich eine eben solche Strömung der Frömmigkeit immer wieder gebildet. In Deutschland wird Meister Eckhart (1260-1328) genannt. Wesentlich beeinflusst von ihm ist auch Nikolaus von Kues, latinisiert Cusanus. Geboren ist er 1401 in Bernkastel/Kues an der Mosel, gestorben 1464 in Rom [2].
Wir sind im Jahre 1453. Eine Epoche geht zu Ende, ein Weltreich mit einer Weltstadt, die lange Zeit mehr als 500.000 griechisch sprechender Einwohner hatte, ist lebensgefährlich bedroht. Jetzt sind nur noch 40.000 Einwohner in der Stadt übrig geblieben, die ausharren und abwarten wollen. Zwanzig Schiffe mit Gelehrten sind schon in den Westen geflohen mit all ihrem Hab und Gut, mit wertvollen Schriften, Aufzeichnungen und Pergamentrollen. Das orthodoxe Russland heute erinnert noch ein wenig an die Zeit damals mit ihren zahlreichen goldenen Zwiebeltürmen, der prachtvollen Hagia Sophia, den großzügigen Stadtmauern und den über die Jahrhunderte sicheren Befestigungsanlagen.
Niemand wird der Stadt bei ihrem Untergang helfen können oder wollen. Nicht der römisch-deutsche Kaiser, nicht der Papst, nicht die Krieg führenden Könige in England und Frankreich. Selbst die Überwindung der Kirchenspaltung in ein oströmisches und weströmisches Reich wird von Byzanz jetzt angeboten und versprochen, wenn nur Hilfe kommt. So groß ist die Not.
Die osmanischen Truppen, an Zahl und Ausrüstung zehnfach überlegen, belagern schon seit etlichen Wochen die Stadt. Heute, am 29. Mai 1453 in der Nacht, wird es geschehen. Drei Tage lang wird das Töten und Zerstören Konstantinopels dauern. „Welch eine Stadt haben wir der Plünderung und Verwüstung ausgeliefert”, klagt der Geschichtsschreiber Kritobulos von Imbros.
Selbst Mehmet II, der Sieger und Zerstörer der Stadt, die lange Zeit und nach dem Untergang von Rom die Hauptstadt der Welt war, ist erschüttert. Istanbul wird er seine neue Stadt nennen.
Nikolaus von Kues, anerkannter Universalgelehrter der Theologie, Mathematik, Astronomie und Philosophie, gut vernetzt mit Papst und Kaiser, Kardinal und Bischof von Brixen, hat bereits einige Jahre vor diesem Datum, an dem man gemeinhin die Renaissance entstehen lässt, eine Studie über den Koran veröffentlicht. In einem weiteren Buch “Über den Religionsfrieden” hat er sogar eine Konkordanz zwischen Christentum, Judentum und Islam festgestellt bzw. entwickelt.Er geht von einer Verwandtschaft der drei Religionen aus, die größer sei als die Unterschiede.
Auch ihn erschüttert der Fall von Konstantinopel, hat er doch die Stadt als Päpstlicher Legat und Verhandlungsführer bereits zwei Monate lang besucht und auf der Heimreise seine Vision über die Welt der Gegensätze entwickelt. Im Pluriversum der Weltanschauungen, Sprachen, Werte und Menschen muss es permanent zu Gegensätzen kommen, die sich scheinbar gegeneinander ausschließen.
Kann es eine Übereinstimmung zwischen Islam und Christentum geben? Ja, sagt überraschender Weise Cusanus. Zwischen ost- und weströmischem Reich? Ja. – Zwischen den scholastischen Systemen des Nominalismis und Realismis? Ja! – Und so fort.
Warum diese Haltung? – Gegensätze bedingen sich nicht nur gegenseitig, wie schon Heraklit fast 2000 Jahre vor Cusanus gelehrt hat, eine Idee, die Hegel und Marx weiter entwickelt haben. Bei Cusanus fallen diese Gegensätze sogar zusammen, und zwar im Unendlichen, in Gott. Ebenso wie zwei parallele Geraden der Mathematik sich im Unendlichen schneiden, so heben sich Grenzen und Abgrenzungen der logischen Kontradiktionen auf, verschmelzen miteinander, werden deckungsgleich.
Cusanus ist der erste mittelalterliche und scholastische Philosoph, der den Begriff “negative Theologie” von Dionysius Areopagita aus dem 6.Jahrhundert übernimmt und diese einer affirmativen Theologie komplementär an die Seite stellt. Alles in unserer Welt und unüberschaubaren Vielheit, die sich immer weiter entwickelt bis ins Unendliche, ist voller Gegensätzlichkeit. Um die Wahrheit der Gegensätze, also ihre Isosthenie, begreifen zu können, muss man mystisch werden, das heißt „über alle Vernunft und Erkenntnis hinausgehen“ und sich einem wissenden Unwissen beugen. “Sich selber verlassend muss man sich der Dunkelheit anvertrauen“, verlangt Cusanus. Dort, in dieser Dunkelheit, die sogar der platonischen Sonne entgegengesetzt scheint, fallen die Gegensätze zusammen (coincidentia oppositorum), und dort ist Gott. Nicht also im platonischen Licht der Gelehrten und Wissenden, sondern im Wissen der Nichtwissenheit (docta ignoriantia) erfahren wir Gott.
Das Zusammenfallen der Gegensätze von Sein und Nicht-Sein ist bei Cusanus eine „dichte Dunkelheit des Unmöglichen“. Aber diese Unmöglichkeit ist eine Notwendigkeit, sogar eine „wahre Notwendigkeit“. Und sie bildet keinen Widerspruch zur Unmöglichkeit, sondern ist wahr, möglich, sogar notwendig.
Ein Lehrsatz aus der Mathematik besagt, dass im Unendlichen die Grenzen sich aufheben und zusammenfallen. Wenn wir zum Beispiel ein Quadrat zum Fünfeck, Sechseck und so weiter werden lassen bis zum n-Eck, so dass n immer größer wird, dann nähert sich das n-Eck immer mehr dem Kreis, und wenn n unendlich ist, fällt es damit zusammen.
So ist es mit den Gegensätzen, die sich wie alles in unserer Welt aus einer Einheit heraus entwickelt haben. In Gott ist anfänglich alles in Einheit zusammen g e f a l t e t , was in unserer Welt schließlich in Vielheit und Verschiedenheit auseinander gefaltet, “entfaltet” wird. Ich nenne dies das Pluriversum, in dem wir leben, und es ist in seiner Vielfalt der materiellen und immateriellen Welt größer als das Universum. In Gott ist alles noch eins (die heilige Eins bei Platon und Pythagoras), erst nach dem Hervorgehen aus der Einheit treten die Dinge auseinander und zueinander in Gegensätzen. Als Beispiel nennt er die Zahl 1, aus welcher sich schließlich alle Zahlen nach 1 heraus entwickeln, die positiven wie die negativen.
Diese Unendlichkeit nennt Cusanus “Ende ohne Ende“. Und eben dort ist Gott mystisch zu finden,”in der Dunkelheit des Zusammenfallens der Gegensätze”.
Cusanus schreibt: “Wenn der Geist nicht mehr mit dem Erkenntnisstreben beschäftigt ist, dann steht er im Schatten des Nichtwissens, also in der Dunkelheit. Aber hier ist Gott, den man sucht. Die Dunkelheit sei bereits ein Zeichen dafür, dass der Sonnen-Sucher auf dem richtigen Weg sei.
Nach Cusanus kann diese mystische Dunkelheit dann gefunden werden, wenn man vom Gottesbegriff alle Eigenschaften abzieht, ihn also nicht positiv zu bestimmen, zu definieren, zu erklären sucht. Auf diese Weise begegnet der Suchende zwar „eher einem Nichts als einem Etwas”. Dennoch sei man weiter als mit einer positiven Bestimmung (Affirmation) Gottes:
“Wenn man Gott auf dem Weg der Bejahung seiner Eigenschaften sucht, findet man ihn nur gemäß menschlicher Vorstellung und (somit) verhüllt, keineswegs unverhüllt “.
Nun gibt es aber auch hier den Zusammenfall der Gegensätze. Cusanus beruft sich wieder auf Dionysius: der Weg der Bejahung wie der Verneinung Gottes im Sinne einer negativen Theologie führe schließlich zur völligen “Vereinigung und Deckung” – mithin zurück wieder zu einer “allereinfachsten Einheit“. Gott steht dann sowohl über jeder negativen wie affirmativen Theologie, über jeder Vielheit mit ihren Gegensätzen und Wahrheiten, die er gleichwohl hat entstehen lassen.
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Was bedeutet das nun konkret? – Ich versuche zu übersetzen.
1 Um Gott zu erfahren muss man mystisch werden, das heißt über alle rationale Vernunft und Erkenntnis hinausgehen, „sich selbst verlassen“, das heißt der eigenen Rationalität und Überzeugung („Wahrheit“) distanziert gegenüber stehen und sich der “Dunkelheit” anvertrauen, dem Schatten des Nichtwissens, der Sprachlosigkeit. So gelangt man zu einem wissenden Nichtwissen selbst im Sinne von Sokrates („Ich weiß, dass ich nichts weiß“).Mit Wissen lässt sich Gott also nicht erfahren. Erkennen im Sinne der Affirmation ist ein unendlicher Weg der Mutmaßungen. Unser Denken versucht das Seiende von immer neuen Seiten her zu bestimmen. Wir tasten uns Stück für Stück nur an die Wahrheit heran und wieder heraus.
In dieser Dunkelheit der mystischen Erfahrung (ich nenne es bewusst nicht Wahrheit) gilt auch nicht mehr der für die Logik und Argumentation so wichtige Satz vom Widerspruch – alle Gegensätze und Isosthenien fallen in sich zusammen, implodieren quasi.
2 Gott soll nicht positiv bestimmt werden mit Begriffen, die immer nur relativ und menschenbezogen, also auch falsch und vergänglich sind. Er bleibt dann verhüllt, gefangen in den vergänglichen Bestimmungsversuchen des Menschen. Das Judentum und der Koran verbieten deshalb zumindest die bildliche Darstellung Gottes. Auf diese Weise begegnet man gleichwohl eher dem Nichts als dem Etwas (Negative Theologie); vielleicht sogar dem Nirwana Buddhas.
3 Negative wie positive Theologie fallen aber als Gegensätze ebenfalls im Unendlichen zusammen, das ist in Gott. Sie kommen dort zur Vereinigung, zur Deckung und bilden dann die allereinfachste Einheit, die sich gleichwohl immer wieder von Neuem und weiter im menschlichen Leben und Pluriversum entfalten wird. Auch die beiden Parallelen finden im Unendlichen zur Einheit zurück, indem sie sich dort schneiden und decken können.
4 Gott wird als einfachste Einheit gesehen, aus der sich die Welt mit ihrer Vielheit und Widersprüchlichkeit entfaltet. Damit ist er wieder positiv und affirmativ bestimmt – ein Widerspruch zur negativen Theologie, der sich im Unendlichen schließlich wieder auflösen wird, also in Gott.
Denn in Gott fallen Widersprüchlichkeit wie Nicht-Widersprüchlichkeit ebenfalls zusammen und bilden dann wieder “die allereinfachste Einfachheit”.
Für Friedrich Spaeth und SG
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[1] Das Buch „Tao-Te-King“ des chinesischen Religionsgründers Lao-Tse beginnt mit den agnostischen Sätzen: “Könnten wir wissen den Weg, es wäre keine ewiger Weg. Könnten wir nennen den Namen, es wäre kein ewiger Name. Was ohne Namen, ist Anfang von Himmel und Erde. Was Namen hat, ist Mutter den zehntausend Menschen…Mystisch und abermals mystisch: die Pforte zu jedwedem Geheimnis”.
Das Unendliche kann keinen Namen haben. (Dieser Satz ist ein Selbstwiderspruch. Aber über Widersprüche s.oben).
[2] Nikolaus Cusanus, Textauswahl und Kommentar Gerhard Wehr, Wiesbaden 2011 S. 122-124