66 Antwort von SG
Nikolaus von Kues
Spontan habe ich Bauchschmerzen, Cusanus und die Mystik so eng zusammen zu rücken. Für mich war er immer ein Rationalist. Aber ehrlich gesagt habe ich nie ein komplettes Werk von ihm gelesen, erst recht nicht im lateinischen Original, sondern immer nur kürzere oder längere Zitate in Sekundärliteratur. Bei Gelegenheit kopiere ich einmal den Text von Alfred Gierer über ihn, von dem ich sprach. Er schaut mit der naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Brille auf Cusanus.
Diese Woche las ich in “Einmal Unendlichkeit und zurück” von John D. Barrow (Physiker in Cambridge) mit dem Untertitel “Was wir über das Zeitlose und Endlose wissen”. Auch darin würdigt er in der historischen Übersicht Cusanus für seine der Mathematik entlehnten Bilder (z.B Polygon mit unendlich vielen Ecken, Kreis mit unendlichem Durchmesser). Ich halte diese Bilder gerade theologisch für wertvoll, weil sie zeigen, dass viele der Probleme, die wir spezifisch mit dem Denken und Sprechen über Gott verbinden, auch schon in der Mathematik auftauchen und generell überall dort, wo wir Unendlichkeiten verwenden (also z.B. in den Paradoxien von Zenon bis Russel).
Bei all diesen Problemen lasse ich Gott deshalb gern unerwähnt, weil man ihre Struktur dann besser versteht. Wenn die Probleme schon in Mathematik und Logik auftreten, wir aber dennoch erfolgreich und sinnvoll Mathematik betreiben, kommt uns das Sprechen über Gott nicht mehr so exotisch oder unangemessen vor.
Herzlichen Gruß
SG
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Ich füge einige Zeilen von Cusanus in der zugegeben holprigen Übersetzung aus dem Lateinischen bei, damit man einen Eindruck von seiner Sprache und seinem Philosophieren erhält, dieser seltsamen Mischung aus Mathematik und Mystik, wie ich immer noch denke. Wie kann ein Kreis “Güte und Weisheit” besitzen? Damit ist doch wohl eher in einem gedanklichen Sprung ( oder einer schlechten Übersetzung) Gott gemeint. Auch die Mischung von Dauer und Größe und Macht, bezogen auf den Kreis, gibt m. E. keinen Sinn. Die sprachlichen Paradoxien passen zwar ganz in das Denken von Cusanus, aber passen sie auch in das Denken der Mathematik?
“Der Kreis ist die vollkommene Figur der Einheit und Einfachheit. Das Größte, unter dem Bilde des unendlichen Kreises betrachtet, ist daher die absolute Einheit und Identität seines Wesens, ohne Verschiedenheit und Anderssein, so dass seine Güte nicht anders ist als seine Weisheit, sondern dasselbe. Alle Verschiedenheit ist in ihm Einheit. Da mithin seine Macht, wenn ich so sagen darf, die geeinteste ist, so ist sie auch die stärkste und unendlichste. In der geeinigten Dauer des Größten ist die Vergangenheit nicht etwas anderes als die Zukunft und die Zukunft nichts anderes als die Gegenwart – Ewigkeit ohne Anfang und Ende.
Da im größten Kreise auch der Durchmesser der größte ist, und es nicht mehrere Größte geben kann, so ist der größte Kreis so sehr geeint, dass Durchmesser und Umkreis eins sind. Ein unendlicher Durchmesser hat aber auch eine unendliche Mitte oder Zentrum. Im größten Kreise sind mithin Zentrum, Durchmesser und Peripherie eins. Daraus folgert unser System des Nichtwissens, dass das Größte auch das Vollkommenste in allem ist, einfach und unteilbar, weil das unendliche Zentrum außer allem ist, alles umfassend, weil als unendliche Peripherie alles durchdringend, weil unendlicher Durchmesser.
Nur das Eine bemerke ich noch: Die ganze Gotteslehre ist kreisförmig und bewegt sich im Kreise, so dass die göttlichen Attribute sich gegenseitig bewahrheiten: Die höchste Gerechtigkeit ist die höchste Wahrheit, und die höchste Wahrheit ist die höchste Gerechtigkeit. Denkst du diesen Gedanken weiter aus, so werden dir viele theologische Bereiche, die dir jetzt noch verborgen sind, ganz klar werden (S.33f)
Die Unendlichkeit als solche ist weder zeugend noch gezeugt, noch hervorgehend… Im Ewigen ist Unendlichkeit, Idee, Ausübung. Hilarius von Poitiers will sagen: Obwohl wir in der Ewigkeit nur die Unendlichkeit sehen können, so kann doch die Unendlichkeit, die die Ewigkeit ist, weil negativ, nicht als zeugend aufgefasst werden, wohl aber die Ewigkeit, weil sie die Affirmation der Einheit oder größten Gegenwart ist. Sie ist daher der Anfang ohne Anfang. Die Idee ist der Anfang vom Anfang, die Ausübung ist das Hervorgehen aus beiden” (S.37).
Aus: Nikolaus Cusanus, Textauswahl und Kommentar von Gerhard Wehr(2011)
Wenn das, geschrieben 1440, kein delirierendes Denken ist!