69 Scholastisches Denken
Wilhelm von Ockham
Das mittelalterliche Geistesleben der Scholastik war überaus rege und effektiv. Da alles Geistige die materiellen Dinge einschließlich Wohlstand, Lust und Sexualität an Wertschätzung bei Weitem überragte (Gott war Geist, reiner Geist auch schon bei Platon, der sich im Wort mitteilte, christlich gedacht auch “offenbarte”), gab es überall in Europa neu gegründete Zentren (“Universitäten”), die in einem fruchtbaren Wettbewerb zueinander standen.
Größtes Zentrum war lange Jahre, wenn nicht sogar Jahrhunderte die Universität von Paris. Auch Köln hatte mit Albertus Magnus und Thomas von Aquin einiges zu bieten. Mit den Arabern (Mauren) im benachbarten Spanien stand man in einem nützlichen Wettbewerb. Diese studierten bis dahin unbekannt gebliebene Philosophen wie Aristoteles und brauchten sich nicht an die christliche Dogmatik zu halten. Ja sogar atheistische Strömungen drangen deshalb von dort nach Zentraleuropa vor. Auch wenn es im antiken Denken Griechenlands und Roms immer schon atheistische Ansätze gab, z.B. bei Epikur.
Ein großer Diskussionspunkt der Sprachphilosophen des Hohen Mittelalters war zum Beispiel der “Universalienstreit”, ob Allgemeinbegriffen Wirklichkeit entsprach oder ob sie nur ein von der Stimme erzeugter “Lufthauch”, ein flatus vocis wären. Wenn sie nur künstliche Gebilde unseres Verstands wären, also Schimären, denen nichts in der Wirklichkeit entsprach, dann ist auch Gott eine Schimäre. Nicht auszudenkende Komplikationen wären dann zu befürchten. Und wenn sogar der Papst im Namen Gottes seine Machtansprüche erheben darf, dann waren diese ebenso hinfällig, ohne Realitätsbezug, und alle Könige und Fürsten dieser Welt könnten ab sofort eben solche Machtansprüche stellen, was dann tatsächlich geschah und womit ein endlos langer Krieg in Zentraleuropa begann.
Man duellierte sich sogar wegen dieser Streitfrage – ob die Universalien (die platonischen Ideen oder Allgemeinbegriffe wie Gott, Geist, Farbe, Zahl, Frieden, Liebe etc.) real oder nur Erfindungen unseres Geistes wären, die man nicht ernst zu nehmen brauchte. Die Philosophiegeschichte zeigt, dass die sogenannten Nominalisten Recht behielten, zumindest viele der nachfolgenden Jahrhunderte lang. Wir geben den Dingen Namen, benennen sie. Auch die Allgemeinbegriffe sind nur von uns erfundene Namen. Selbst Gott, unsere Vorstellungen von ihm, seine vielfältigen Namen, sind menschliche Erfindungen, die richtig, die falsch sein mögen.
Es folgt an dieser Stelle jetzt ein Textbeispiel von Johannes von Ockham (1285-1347), einem Anhänger des Nominalismus. Er spielt als geistiger Führer eine große Rolle in Umberto Ecos Mittelalter-Roman “Der Name der Rose”. Er hat maßgeblich Logik, Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie, Naturphilosophie und Gesellschaftslehre seiner Zeit beeinflusst mit deutlichen Auswirkungen auch auf die Politik und zeitgenössische Theologie.
Als Mitglied der revolutionären franziskanischen Spiritualen der Ketzerei angeklagt, musste er 1328 vor Papst Johannes XXII in Avignon erscheinen, dann an den bayerischen Königshof fliehen, um nicht als Häretiker verurteilt zu werden. Dort blieb er bis zu seinem Tod als Hauptgegner des Papstes in Avignon und des Prinzips Papsttum – er war für die Trennung von Papst und Kaisertum, von weltlicher und geistlicher Macht.
Bekannt wurde als methodologisches Prinzip das “Ockhamsche Rasiermesser”: “Eine Vielheit ist nur anzunehmen, wenn sie notwendig ist”. Das heißt zuerst zählt im Streit um die Allgemeinerkenntnis das Konkrete, Subjektive, Körperliche, Einzelne, vielleicht auch Materielle. Dann kommen erst die Allgemeinbegriffe, die Abstraktionen.Wenn wir mit dem Konkreten oder dem Einfachen weiter kommen, eine Lösung finden, brauchen wir keine Abstraktionen; wir können sie entfernen (“Rasiermesser”). Wir brauchen auch keine Komplexität, wenn die Einfachheit zum Ziel führt. “Zwecklos ist es, etwas, das durch Vieles zustande kommen kann, ebenso sehr aber auch durch Weniger zustande kommen könnte, zu bevorzugen”.
Heute spricht man von “Komplexitätsreduzierung”: Die Vielheit, Verallgemeinerungen, die Abstraktion, Komplexität sind nicht notwendig, auch überflüssig, wenn man das Einzelne, Wenige, auch Einfache mit gleich großem Erfolg stattdessen anwenden kann.
Im Universalienstreit, ob den Allgemeinbegriffen Wirklichkeit entspricht und woher sie stammen (sind Allgemeinbegriffe, also auch die platonischen Ideen, nicht nach Augustinus die “Gedanken Gottes”?), nimmt Ockham eine gemäßigte Rolle ein, auch wenn er letztlich die Begriffe durch menschliche Setzung entstehen lässt. Sie sind einerseits natürliche Qualitäten im menschlichen Geist, also angeboren (auch das sagen heutzutage manche Sprachphilosophen, die von “angeborenen Ideen ” reden). Andererseits sind sie aber auch Produkte der menschlichen Setzung, Festlegung, Definition. Die Namen der Dinge sind von uns gemacht. Sie sind so vielfältig wie die Menschen und ihre Sprachen.
Es folgt ein Beispiel aus einer scholastischen Abhandlung von Ockhams “Summa Logicae” über das Singuläre (Besondere, Konkrete) und das Allgemeine. Ich zitiere wieder ein solches Dokument, um auch das geistig-sprachliche Niveau der Zeit darzustellen, welches in Nichts der gegenwärtigen Sprachphilosophie oder den Sprachforschungen der antiken Stoiker nachsteht. Selbst die gedanklichen Ergebnisse etwa über den Universalienstreit bleiben bis heute diskutabel bzw.gültig.
(…) Es bleibt festzustellen, dass eine einfache Supposition¹ in dem Fall gegeben ist, wenn ein Terminus für eine ideelle Sinngebung supponiert, die vermittels einer Prädikation über Mehreres allgemein ist, bisweilen aber nur einem Einzigen eigen ist. Der Grund dafür besteht darin, dass es nichts Dingliches gibt, das nicht schlechthin ein Singuläres ist. Daher führte der Irrtum all jener, die glaubten, dass es etwas Dingliches außer dem Singulären gäbe und das Menschentum, das von dem vielen Singulären verschieden ist, etwas in den Individuen Existierendes und ihr Wesen Bestimmendes sei, sie in diese und viele andere logische Irrtümer.
Dies gehört jedoch nicht zum Untersuchungsfeld des Logikers, sondern ein Logiker hat nur festzustellen, dass eine einfache Supposition nicht für das zum Terminus gehörende (von ihm Bezeichnete) steht. Handelt es sich um einen allgemeinen Terminus, so muss der Logiker feststellen, dass eine einfache Supposition für etwas steht, das dem vielen vom Terminus Bezeichneten gemeinsam ist. Ob dieses Gemeinsame aber dinglich real oder nicht ist, geht ihn nichts an.
Ein Wort wird über ein Wort und eine Sinngebung über eine Sinngebung prädiziert, jedoch nicht für sich genommen, sondern an Stelle eines Dinges. Durch den Satz ” Der Mensch ist ein Lebewesen” wird also nicht angegeben, dass das eine Wort mit dem anderen oder die eine Sinngebung mit der anderen identisch sei, wenngleich ein Wort über ein Wort und eine Sinngebung über eine Sinngebung prädiziert wird.
Es wird damit vielmehr angegeben, dass jenes, wofür das Subjekt steht oder supponiert, mit demjenigen identisch sei, wofür das Prädikat steht oder supponiert. Die Aussage “Pfeffer wird hier und in Rom verkauft” ist wahr, jedoch ist kein dazu gehörender singulärer Satz richtig; der Satz ist nur insofern wahr, als “Pfeffer” in einfacher Supposition steht; dabei supponiert er aber nicht für eine Sinngebung, also steht eine einfache Supposition nicht für einen Sinngebung. –
Dazu ist Folgendes zu sagen: Steht in diesem Satz der Prädikat -Verband als Einheit, so ist der Satz schlechthin falsch, da jeder dazu gehörige singuläre Satz verkehrt ist. Der Satz ist auch falsch, wenn “Pfeffer” eine einfache Supposition hat, da ja niemand “Pfeffer” im Allgemeinen kaufen will – mag er dinglich real oder nur im Geist sein –, vielmehr will jeder ein einzelnes Ding kaufen, das er nicht besitzt.
Jener ist jedoch wahr, wenn er als zusammengesetzter Satz verstanden wird, d.h. so lautet: “Pfeffer” wird hier verkauft, und Pfeffer wird in Rom verkauft”; denn beide Teile sind wahr für jeweils verschiedenes Einzelnes. Daher ist der Satz “Pfeffer wird hier und in Rom verkauft” nicht wahrer als der Satz “einzelner Pfeffer wird hier und in Rom verkauft”.
1 Supposition ist die Gebrauchsbedeutung eines Begriffs. Mit Gebrauch ist nur die Funktion eines Ausdrucks in einem Satz gemeint. Die Signifikation hingegen ist die Wortbedeutung eines Ausdrucks. Supposition bezieht sich also auf den Satzbau, die Grammatik. Wortbedeutung bezieht sich auf die semantische Ebene.
Aus: Wilhelm von Ockham, “Summa logicae” Teil I / Kap. 66 In: Hans-Ulrich Wöhler, “Geschichte der mittelalterlichen Philosophie”(Berlin 1990) S.211ff
auch als Reclam-Band 8239: Wilhelm von Ockham, “Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft”