67 Über Dekonstruktion
Einführung zur Begriffsbestimmung
Wenn Homogenität (die Einheitlichkeit, Geschlossenheit) von heterogenen Elementen gestört, aufgebrochen, verwirrt, in Frage gestellt oder bereichert, ergänzt wird, wenn diese sich manchmal sogar unmerklich in oder unter den alten Zustand der geschlossenen, manchmal auch verschlossenen Einheitlichkeit mischen, so nennen wir dies
D e k o n s t r u k t i o n .
1 Dekonstruktion ist m. E. eine zwangsläufige Entwicklung in der Natur und in der Gesellschaft.
Dekonstruktion kann nur im Bereich von Antithesen fruchtbar werden und sich nur dort entfalten und etwas bewirken.
2 Dekonstruktion als das oft fremde Andere bringt immer das negative Element der Änderung, der Zerstörung, der Infrage-Stellung mit sich.
Diese Zerstörung führt vor allem in den Übergangs-Phasen zu großer Unsicherheit und Verwirrung, wenn auch nur vorübergehend. Sie kann einen chaotischen Zustand im Nicht-Anderen verursachen.
Das Heterogene ist das Fremde, Neue, Unbekannte, das meist Angst macht. Aber die Angst vor diesem manchmal antithetischen Anderen ist oft unbegründet, zumal sich dieses Andere als das Bessere erweisen kann.
Alles Gewisse wird ungewiss und zerfällt in Isosthenien und Heterogenitäten.
3 Wie in jedem Chaos besteht jedoch die große Chance eines positiven Neubeginns, eines Neuanfangs mit neuen Regeln, Zeichen und Sprachen, neuem Glück.
Das Alte mag untergehen, aber das Neue kann sich kreativ entwickeln und entfalten in diesem labilen Zustand.
4 Das Heterogene wird deshalb als das Andere vom Nicht-Anderen meist bekämpft. Man versucht es zu integrieren, zu assimilieren, es sich einzuverleiben oder auch zu eliminieren.
Das Heterogene ist dergestalt für das Homogene ein Feind der Zersetzung.
Heterogenes und Homogenes stehen sich meist fremd gegenüber. Fremd und sprachlos.
Fremdheit kann jedoch auch etwas überaus Positives sein.
5 Das Alte war nicht mehr brauchbar. Bis sich jedoch das neue Andere entfaltet hat, das heißt seine Stärke und Brauchbarkeit bewiesen hat, dauert es eine Zeit.
6 Wenn die Homogenität, die Einheitlichkeit und Geschlossenheit eines Systems sich bereits in einem Zustand der Auflösung, vielleicht sogar Implosion befinden, kann das Heterogene als Katalysator der Entwicklung überaus nützlich sein.
7 Heterogenität wird in der Bildenden Kunst abgebildet durch die Collage. Entweder mit fließenden und unmerklichen Übergängen oder auch mit harten Brüchen, die die Fremdheit deutlich machen.
Collagen entstehen meist in Umbruchphasen, wenn das Alte vergeht und das Neue sich noch nicht gefestigt hat. Es ist auch in der Kunst ein Zustand der Labilität, Gefahr und Verwirrung.
8 Vermischen sich Weltanschauungen, spricht man von Synkretismus. Auch wir leben in einem Zeitalter des Synkretismus. Götter sterben, werden neu geboren, neu eingeführt, importiert, erfunden.
9 Unter Pluriversum verstehe ich eben diesen Zustand von Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Offenheit in Zeiten des Umbruchs.
Solche Epochenumbrüche und Epochenwandel sind stürmische und kreative Zeiten. Wir leben m.E. gegenwärtig in einer solchen Zeit. Früher dauerte der Wechsel Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte. Doch heute in unserem beschleunigten Zeitalter wird sich das Neue schneller unter das Alte schieben können und es zersetzen und schließlich ablösen.
Damit meine ich, dass sich Lebensformen, Strukturen der Gesellschaft, ihrer Steuerung und Überwachung sowie der Kommunikation immer wieder ändern werden. Ändert sich die Kommunikation, ändert sich die Gesellschaft. Der Buchdruck hat die Religionskriege beschleunigt, die ägyptischen Papyrusrollen oder das Lesen und Schreiben überhaupt hat im alten Griechenland erst die Kultur, das Denken, die politische Willensbildung in die Welt gesetzt.
Ich denke auch, dass sich die Reproduktion der Art ändern wird ebenso wie sich auch die Geschlechter-Differenz angleichen wird. Herbert Marcuse glaubte sogar an ein androgynes Zeitalter.
Kurz: dass es auch im Bereich der Mitmenschlichkeit andere und neue Arten des Lebens und Liebens geben wird.
10 Es wird Versuche geben, das Rad der Zeit anzuhalten, sogar zurück zu drehen – die Nostalgie ( was mache ich anderes mit meinen Renaissance-Liedern).
11 Paul Feyerabend, Schweizer Philosoph und Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Herbert Marcuse in Berkeley/California, ist der Vater dieser Ideen. Er spricht jedoch immer von Destrukturierung. Jacques Derrida hat den Begriff der Dekonstruktion, ein Begriff aus der Architektur, eingeführt in die Philosophie und Philologie (Lehre der Interpretation von Sprachspielen und Lebensformen).
12 Dogmatische Positionen werden zum Wanken und Einstürzen gebracht mit ästhetischen Kunstgriffen, mit Rhetorik, geschichtlichem Bewusstsein und Phantasie.
Dekonstruktionen wenden sich wesentlich gegen Verfestigungen, also Dogmatismen. Auch wenn sie selbst dabei zu einem neuen Dogmatismus werden können. Dann muss auch die Dekonstruktion dekonstruiert werden.
Wer dekonstruiert die Dekonstrukteure?
13 Achtung: Dekonstruktion als Gestaltungsmittel ist nur mit ästhetischen, also künstlerisch-kreativen und weniger mit argumentativen Mitteln möglich. Selbst die Methoden Derridas etwa in seinen späteren Vorträgen waren ausschließlich ästhetisch und gewaltfrei orientiert.
Das gewaltsame Vorgehen mit Aggression, Waffen, Terror etc. zum Herbeizwingen eines neues Zustandes ist unorganisch, also auch unnatürlich und vorzeitig, zu früh.
Er ist darüber hinaus überaus kontraproduktiv! Er verschärft und verfestigt nur noch mehr die Antithesen, dogmatisiert das herrschende System (Sprachspiel) und seine angebliche Homogenität und erzwingt den Neuanfang nur mittels Unglück, Leid, Tod und Katastrophen.
14 Eine beliebte Methode der Dekonstruktion ist auch die Desinformation, sind Desinformations-Kampagnen der Staaten gegeneinander. Mittlerweile ist Vieles, was aus der politischen, sogar parteipolitischen Ecke kommt, Zweckpropaganda. Wobei Fakes und Desinformationen mit dazu gehören. Alles, was der Dekonstruktion des Gegners nützt, und seien es auch nur Fake-Nachrichten, wird mit Hilfe einer geschickten Steuerung der Medien mit verwertet.
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15 Poststrukturalismus: Strukturen aufblähen, fingieren, simulieren, vermischen, brechen, ironisieren, in Frage stellen und abgleiten lassen.
Sie destabilisieren, an den Ecken und Enden ihrer Lebensform ansägen,
Risse vergrößern nicht nur in den Denkmälern der Zeit.
Zentralbegriffe in diesem Denken sind Offenheit, Pluriversum, Alles geht, Destrukturierung, Schöpferische Indifferenz, Ruine, Labyrinth, Maske, Chaos, Kunst.
Sprich fremde Sprachen im eigenen Land.
Die Collage einer globalisierten und nach-westlichen Kultur wird also sein: assoziativ, offen, beweglich, spezifisch und doktrinlos.
Nach-westliche Menschen werden sich im Pluriversum wie in einem
Mosaik bewegen, und sie werden Mosaik wie Collage sein, hin und her pendeln zwischen den Welten von Gegenwart und Vergangenheit, von Ideologie, Überzeugungen und Wahrheit.
Die Offenheit wird die Maske hinterfragen und relativieren; die Kunst wird aus dem Chaos ihre Energie gewinnen; Ruine und Labyrinth verweisen uns auf die schöpferische Indifferenz: dass alles akzeptiert werden kann innerhalb gewisser Grenzen, dass jede Position auf wackligem Grund nur sich behauptet; dass man kreativ sein soll.
Demnächst: Post-Amerikanismus, post-amerikanisches Zeitalter
Vgl.auch Reinhold Urmetzer, Ästhetik Band 2 “Kunstbuch – Sieben Vorträge zu Poststrukturalismus und Dekonstruktion” S.29ff