9 Vorhut, Vorhaut, Vor-was?
Vorhut, Vorhaut, Vor-was?
Das ironische Spiel mit den beiden Worten in meinem Blog-Interview Nr.7 hat eine lange Geschichte und geht bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück.
Vorhut (Avantgarde) war ein von den Marxisten und Kommunisten besetzter Begriff. Er bezeichnete den Inbegriff von Fortschritt, Fortschrittlichkeit und sozialem Denken. Da die Arbeiterklasse von Meisterdenkern definiert worden war als die Partei des Fortschritts, der Fortschrittlichkeit etc. (s.o,), war der Begriff automatisch immer gekoppelt an den Begriff “Arbeiterbewegung”. Und wer war die Vorhut der Arbeiterbewegung? – Richtig: die Partei. Besser gesagt die Einheitspartei von Kommunisten, Sozialisten. Zeitweise und vor langer langer Zeit gehörten auch noch die Sozialdemokraten dazu. Das ist vorbei, reine Nostalgie, wer anders denkt und plant…
Doch wer war die Partei des Fortschritts? Bis auf den heutigen Tag ist es eine abgeschottete Clique von Mächtigen, die sich nach Platon durch Können, Wissen, Klugheit und Umsicht für das Gemeinwohl auszeichnet. Das heißt, idealiter sollten sie zu den Besten gehören, die uneigennützig einen Staat leiten und lenken können.
Doch die Wirklichkeit zeigt immer wieder, dass dem oft so nicht ist. Vor allem wenn sich die Herrschaft verfestigt und institutionalisiert. Nach Popper ist immer, wenn man das Paradies mit Gewalt hat errichten wollen, daraus die Hölle geworden. Im schlimmsten und bis in die unmittelbare Gegenwart hinein reichenden Fall stützt sich diese Clique der Mächtigen “auf die Macht der Gewehre”, wie Mao Tse Tung sehr richtig in seiner roten Mao-Bibel aus dem Jahre 1972 dargelegt und damit auch die Guerilla-Taktik des bewaffneten Kampfes begründet hat.
Die Vorhut des Fortschritts wird allzu leicht also zur Diktatur einer Clique, die sich auf die Macht der Gewehre stützt. Dass sich eine solche Herrschaft – Platon nannte sie Tyrannei – auch auf die Macht des Geldes stützen kann – Platon spricht dann von Oligarchie – oder auf den Willen des Volkes (Demokratie), das hat die Weltgeschichte auch immer wieder bewiesen. Bis in die Gegenwart.
Heute ist das Wörtchen Vorhut ganz ausgestorben. Weiter lebt es jedoch in dem Begriff der Avantgarde, den die Kunst und manche Künstler immer noch für sich beanspruchen. Auch wenn die postmoderne Bewegung die Avantgarde zur (französisch) “Arrièregarde” (Nachhut) degradiert hat. Ganz voran die sogenannte Neue Musik, deren leninistische Kader eine hörphysiologische Untertanen-Umerziehung immer noch in den Rundfunkanstalten und Schulen quasi als eine der letzten Ideologien durchsetzen möchten.
Der Begriff Vohaut hat sich im Diskurs der französischen Philosophen aus dem Lexikon der Sexualkunde urplötzlich in die Sprache der Philosophie hinein geschlichen. Jedoch nur zur Auflockerung und ironischen Attacke.
So spricht Derrida in einem hochphilosophischen Vortrag über die Apokalypse, wir sind in den 80er Jahren!, unsere Köpfe rauchen schon, nicht wahr, Müdigkeit stellt sich ein, wozu das Ganze, fragen wir uns nachdrücklich, alle diese langen Sätze, fremdsprachigen Zitate – Derrida zitiert besonders gerne deutsche Philosophen, die wir selbst noch nicht einmal verstehen. Was für ein …
In eben diesem Vortrag “Über einen neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie” (Passagen 1985) taucht unvermittelt und sehr zur Überraschung von uns Zuhörern oder Lesern die Formulierung auf vom “Zurückziehen der Vorhaut der Eichel “. Die “Entjungferung” durchbräche den logozentrischen Diskurs, also das Sprechen des Mannes, das immer nur logisch, das heißt in Derridas Terminologie auch “phallokratisch” orientiert und ausgerichtet sei. Oder, wie Jean Pierre Dubost im vorangehenden Interview formuliert hat, “jedes Loch will gestopft werden”. Egal welches – der Frage, der Wissenschaft, der Logik, der Sexualität…
Da sind sie nun, die sexuellen Reizworte, die Derrida rhetorisch so geschickt immer wieder in seine Vorträge einzubauen wusste. Solche satirischen Attacken auf unsere Vorstellung von Wissenschaftlichkeit oder auch nur von Logik und Rationalität haben ihm einige heftige Feindschaften in der Welt der Wissenschaften eingebracht, vor allem in Großbritannien mit seiner alles beherrschen wollenden diktatorischen Philosophy of Science. Ich schätze Derridas ästhetische, manchmal sogar dadaistische Provokationen jedoch sehr und mehr als künstlerische Erweiterungen sowie Infragestellungen des zweckrationalen Diskurses, der so oder so nicht an ein Ende im Sinne einer undogmatischen Wahrheitsfindung gelangen kann. Es sei denn, man ist mit Technik, Geld oder Macht verbandelt und von diesen Mächten korrumpiert. Dann fällt eine jede Dogmatisierung leicht, oder nicht?
Ich will euch direkt ansprechen, ihr neuen und jungen Menschen mit klingenden Namen wie Alexandre, Arthur, Evgeny, Frank, Alexey, Marie-Therèse, Enni, Julia oder Albertina, die ihr jetzt dies zu lesen, meine Worte zu verstehen, mich zu interpretieren versucht. Auch wenn ihr doch, wie man sagt, nicht mehr lesen wollt oder könnt, da ihr so hoffnungsvoll oder auch hoffnungslos (?) verknüpft seid mit elektronischen Apparaten, zugechattet und überinformiert, immer mehr abhängig von euren externen Gehirnhälften und dennoch gierig nach Leben, Liebe, Kunst und Abenteuer (ich übertreibe).
Sind nicht Geld, Geldverdienen und Karriere euer neuer Gott, der euch aus der weltanschaulichen Orientierungslosigkeit jederzeit in einen Taumel von Freude, Kauf, Rausch und Ablenkung führen kann? So oft gelingt es mir nicht mehr, euch zu verstehen, eure Sprache, eure Sehnsucht (“meine Mission ist”…), euer Denken. Und umgekehrt. Alexandre, auch dich verstehe ich nicht mehr und du verstehst mich nicht! Ich habe keine Sprache mehr für dich, es gibt keine Schnittmenge mehr zwischen dir und mir, wir können uns nicht mehr verständigen. Stumm und sprachlos sind wir geworden (Seufz). – Woran liegt das? – Mache, dass ich zu dir reden kann, heißt es bei Maurice Blanchot.
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Sex und Marxismus (Freudo-Marxismus) waren durchaus und lange Zeit ein Thema im intellektuellen Diskurs, welche Hand in Hand einträchtig zusammen gingen. Wenn es sich um Befreiung handelte, dann nicht nur vom materiellem Elend in den Fabriken oder Bergarbeiter-Minen, sondern auch von den Fesseln einer verklemmten und sogar krank (neurotisch) machenden Sexualmoral, so dachte man zumindest in der langjährigen Nachfolge Freuds. Spätestens seit dessen Schüler Wilhelm Reich Kriege und Aggression allgemein tiefenpsychologisch als eine Fehlleitung und Verirrung des (männlichen) Sexualtriebes postuliert hatte.
Auch Herbert Marcuse baute Ansätze dieser Theorie in seine Philosophie zur Änderung der Gesellschaft ein. Leicht trivialisiert funktionierten die Hippies diese These dann in ein “make love, not war” um und sie lebten auch danach bis in die hintersten Stuben des Hochschwarzwaldes (Ehe auf Probe, Wohngemeinschaften, Sexualität etc). Diese Ansätze waren immer experimentell, das heißt offen auch für eine Ablehnung. Die Diskussion um Päderastie bedeutete noch lange nicht eine Zustimmung. Aber offen wollte man sein, neugierig, man war bereit, vieles auszuprobieren einschließlich LSD etc. Dann erst kam die Entscheidung ja oder nein. Im Falle der Päderastie war das Urteil ziemlich schnell und eindeutig, insbesondere auf Druck der Frauen (Mütter): nein.
Wir sind also bei den Turbulenzen und Übertreibungen der sexuellen Revolution in den 60er und 70er Jahren angekommen. Ob die Befreiung des Sex auch eine Befreiung des Menschen einschließt und damit auch aggressive Auseinandersetzungen verhindern kann, wage ich zu bezweifeln. Die Befreiung des Sex hat sicher zur Befreiung des Sex, nicht jedoch zur Befreiung des Menschen geführt. Dennoch spricht einiges für die These, dass der Mensch dazu neigt , wenn er sein Leben auf Lust, Wohlstand, Konsum hin orientiert, dass er diese Lebensform beizubehalten versucht und sie nicht in selbstmörderischen Kriegen zu opfern bereit ist.
Nach Freud kann es jedoch keine Herrschaft des Sex, also der Triebe, des Es und in seinem Gefolge des Lustprinzips geben. Das Es muss kanalisiert (sublimiert) werden in Arbeit, Kultur, Liebe, gesellschaftliche Tätigkeit. Ohne dies würde ein Staat zugrunde gehen.
Nur auf Lust kann keine Gesellschaft aufbauen. Marcuse widerspricht dieser These angesichts von wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritten innerhalb der westlichen Kultur der Zukunft und er propagiert stattdessen eine “Entsublimierung” der sexuellen Libido – er war also eher ein Anhänger Aristipps als der Stoa.
Die taz der 80er Jahre war wie die ganze Gesellschaft und Mode der Zeit anti-repressiv, das heißt gegen Sublimierung und für die Befreiung der Lust. Wer hatte diesen nackten Mann mit lasziv erigiertem Penis (lasziv?) ganzseitig nur in die taz lanciert? Es wird noch eine Pornographie-Anzeige geben, befürchteten wir alle. Die Feministinnen der Frauenseite? Die Homosexuellen-Fraktion? Als Untertitel unter dem Photo stand zu lesen: “Jetzt, wo der Betrachter nackt ist”. Also nicht die Betrachterin, sondern ihr männliches Gegenüber ist nackt. – Jedenfalls war dieses Photo eines der spektakulärsten Attacken der taz auf die bürgerliche Wohlanständigkeit in den 80er Jahren.
Insbesondere die amerikanische Emanzipationsbewegung der Homosexuellen hatte auch in Europa Fuß gefasst. Hand in Hand mit einem forcierten Feminismus, dem die “Schwanzfixiertheit” des männlichen Geschlechts immer schon ein Dorn im Auge war. Besser sollen die Männer ihre Schwänze aneinander oder gegeneinander reiben (ich drücke mich so despektierlich aus) und untereinander “jedes Loch stopfen”, als die Hurerei der Ehe (Arthur Rimbaud) um Haupt- und Nebenbeziehungen auch noch zu erweitern.
Ich bin jedoch bis heute überzeugt, dass der frühe Feminismus Probleme mit der männlichen Sexualität, dem männlichen Begehren allgemein hatte. Und umgekehrt. Dass ein Mann Begehren und Körperlichkeit der Frau nicht immer richtig einzuschätzen weiß. Dass die Natur das Begehren der Frau unterbewusst auf die Fortpflanzung richtet und beim Mann nur auf die Lust, nicht auf die Vaterschaft. Selbst wenn die Fortpflanzung sich aus dem weiten Bereich der Lust auch bei der Frau mittels der Pille hat ausdifferenzieren können, bleiben doch große Teile des weiblichen Körpers immer noch strukturell auf das ursprüngliche Ziel hin festgelegt.
Doch wir sind schon mittendrin in meinem neuen Buchprojekt über “Liebe und Lust” und bei einer Thematik angelangt, über welche ich noch grübeln und forschen muss und bei der ich vielleicht als Mann gar keine Antwort werde geben können. Die Brille des Mannes ist eine andere als die der Frau, auch wenn wir trotz aller Fremdheit Menschen sind, Menschen werden oder doch auch Menschen bleiben möchten.