68 Beispiele für Dekonstruktion
Nicht nur Systeme der Macht, was nahe liegend und bekannt ist, können dekonstruiert werden. Auch Systeme der Rationalität, der Vernunft, der Ethik, der Theologie, Philosophie, Medizin, selbst der Wissenschaftstheorie werden mit Dekonstruktions-Methoden in Frage gestellt.
Besonders umstritten in der Wissenschaftstheorie ist nicht nur die Methode der Dekonstruktion (wer dekonstruiert die Dekonstrukteure?), sondern auch und immer wieder die Wahrheitsfrage. Auch sie kann dekonstruiert werden.
Ist die Wahrheit der Naturwissenschaften kompatibel mit der Wahrheit der Geistes-oder Sozialwissenschaften?
Kann es ein Sprechen über Gott in den Naturwissenschaften geben? Ist “Liebe” in der Biologie etwas anderes als in der Poesie?
Sind alles nur Erzählungen, „Narrative“, Geschichten, von eigensüchtigen Interessen der Interpreten geleitet, wie Lyotard behauptet?
Kann das Denken über das Denken überhaupt wahr sein? Inwiefern?
Müssten wir stattdessen Neurologen befragen, die unsere Gehirnwindungen scannen und dann festlegen werden, wer die Wahrheit und warum sagen kann, sagen darf?
Sind Sätze wie “Maschinen und Roboter werden unsere emotionalen Partner der Zukunft” oder einfacher noch “Computer-Handys zerstören die herkömmlichen menschlichen Beziehungen” nun Sätze der Natur-, der Sozial- oder der Geisteswissenschaft? Und stimmen sie überhaupt?
Dekonstruktion umfasst ein weites Feld. Sogar Berufe und Rollen können in ihrer Hierarchie dekonstruiert werden. Begonnen hatte es bereits in den 60er Jahren mit den Pfarrern. Ihr Ansehen, ihre Bedeutung und Wichtigkeit schwand zusehends. Dann folgten die Lehrer. Sie standen plötzlich auf einer unteren Stufe der Wertschätzung in der Bevölkerung. Gegenwärtig sind die Ärzte an der Reihe. Ihre Omnipotenz der falschen Selbstgewissheit und Allmacht (“Götter in Weiß”) wird von immer mehr Menschen und Patienten in Frage gestellt.
Als letzter Berufszweig stehen auch die Richter vor ihrer Entzauberung. Eine harte Nuss zwar, denn ihre scheinbare Objektivität als dritte Gewalt soll in einem demokratischen Rechtsstaat unangetastet bleiben. Aber immer häufiger werden Fehler, Parteilichkeiten und Eigensinn trotz aller Verheimlichung bekannt, die sogar das Rechtssystem in Frage stellen können( ganz zu schweigen von den abschreckenden Beispielen einer “unabhängigen Justiz” in den totalitären Gesellschaften.
Besonders ausgeprägt ist gegenwärtig in der Wissenschaftstheorie der Streit, was als rational, was als irrational definiert werden soll.
Kräuter werden z.B. bei Vollmond um Mitternacht geerntet und zu einer Salbe verarbeitet (dies geschieht gegenwärtig und mit großem finanziellen Erfolg bei einer in Schwäbisch Gmünd ansässigen Firma). Ist das wissenschaftlich zu vertreten? – Humbug, sagen die Naturwissenschaften.- Gutes Geschäftsmodell für leichtgläubige Amerikaner, sagen die Ökonomisten. – Sinnvoll, sagen Ärzte und Psychologen, wenn es die Selbstheilungskräfte aktiviert und stärkt und so fort.
Und was sagen die Wissenschaftstheoretiker in den Hochschulen dieser Welt, die sich um die Wahrheit kümmern müssen und ob man mit Steuergeldern ein solches Vorgehen unterstützen sollte?
Die sagen: Alles geht.- Aber das sagt auch wiederum nur eine Philosophen-Schule, zum Beispiel in Berkeley/California ( bei San Francisco).
Die so auf dogmatische Rationalität (“dogmatische Rationalität?”) bedachte Universität von Cambridge/England würde einem solchen Arzt und Quacksalber die Lehrerlaubnis entziehen.
Künstler hingegen finden das alles lustig und inspirierend.Vielleicht würden sie sich auch in solch spannenden Vollmondnächten an eben diesen Plätzen einfinden und bei der Ernte mitmachen, um inspirierende Gefühle von Leben, Liebe und Weisheit und Wahnsinn mitnehmen zu können und zu verarbeiten.
Und was sagt der Verbraucher? – Richtig! Er sagt genau das! (Was?)
—————
vgl. Auch 314 „Blasen“ – die philosophische Auseinandersetzung mit dem Rationalitätsbegriff