71 Catull 1 (Römische Lektüre 2)
Leben und lieben
Ich denke, es reicht nun eine Zeit lang mit dem philosophischen Denken und dem ” Denken des Denkens”, eine Formulierung von Aristoteles, das selbstkritische Nachdenken über das Denken.
Wenden wir uns wieder dem Körper zu und seinem Begehren. Nicht dem Essen und Trinken, den Körperertüchtigungen oder wie man den “Leib“ schön und gesund erhält. Zumal wir ja wieder zu einer neuen Sesshaftigkeit tendieren vor unseren geliebten elektronischen Geräten, wie sie uns einen guten Tag wünschen, uns anlächeln und in jeder Hinsicht ganz zu erfreuen verstehen.
Siri in meinem CellPhone (ihr bemerkt, wie ich die Werbung zu umgehen versuche?) hält tatsächlich einige treffende und sogar vernünftige Ratschläge bereit. In Englisch sind sie meist witziger. Aber als Hilfe, die geistig-seelische Lebenslangeweile zu überwinden, sind sie auch in Deutsch brauchbar.
Das Thema meines Buches, an dem ich schon eine ganze Zeit lang arbeite, sogar in spirituellen Zentren wie Fatima/Portugal gearbeitet habe, heißt ja “Liebe und Lust”. Abschnitte daraus habt ihr gelegentlich schon hier lesen und studieren, überfliegen oder ignorieren können( “die freie Auswahl” nennen das die Werbeleute).
Doch kommen wir zum Ende dieser weitschweifigen Einleitung. Gehen wir wieder zurück in die Antike, nach Rom (Roma = Amor), knüpfen wir an die ersten Texte dieser Blog-Serie an, von der ich noch nicht einmal weiß, wie lange ich sie fortsetzen werde. Catull, einen Lyriker möchte ich euch vorstellen, ihn und seine Zeit. Er ist einer von uns oder wir sind einer aus seiner Zeit (Stichworte Imperialismus, Macht, Luxus, Pansexualität, Heterogenität)(1).
Catull hat scheinbar all sein Leben und Lieben immer intensiv und leidenschaftlich gelebt. Er war ein Luftikus, ein manchmal zweifelnd-verzweifelter Lebenskünstler, lustfreudiger (oder besser im Sinne von Freud und Wilhelm Reich “lustfähiger”?) Hedonist und windiger Geselle. Geboren in Verona um 87 v.Chr., aufgewachsen in der Oberschicht Roms und als Dreiunddreißigjähriger 54 v.Chr. früh gestorben. Er lebte in der Zeit von Cicero und Caesar, die er persönlich gut gekannt hatte.
Leidenschaftlich und auch leidenschaftlich unglücklich war Catull immer wieder. Er war ein expressiver Stürmer und Dränger, kein langweiliger Klassizist mit Wissen und Vernunft, tiefgründigen Verschlüsselungen und Zitaten wie etwa in Ovids Liebeslyrik.
Wenn man Catulls Gedichten glauben kann, war seine Zeit ebenso sexualisiert, ebenso lust- und vergnügungssüchtig wie unsere Gegenwart. Zwar hatte man bedeutend mehr Muße für die schönen und angenehmen Dinge des Lebens, man war gebildet und informiert. Es gab Sklaven aus aller Welt, die die Arbeit verrichteten; man hatte einen sehr geregelten Tagesablauf (nach 14h ging man gewöhnlich täglich in die Badanstalt, die Thermen). Aber es ging zu Catulls Zeit emotional wohl noch mehr drunter und drüber als heutzutage. Aggressiv, wie die Zeit war, gab es dauernde Auspeitschungen (der Sklaven) ganz ohne Gerichtsprozess. Kinder, die notwendig gezeugt wurden, werden einfach getötet, das heißt ausgesetzt, sofern sie nicht jemand adoptiert. Selbst wenn man verheiratet war, konnte der Pater familias als Herrscher über alles das neu geborene Kind ablehnen und aussetzen.
Auch bei diesem Künstler und Schriftsteller ist nicht klar (wie überhaupt immer, Alexandre!), ob er ein literarisch-fiktives oder ein biografisches Lebenswerk geschrieben hat. Wer weiß schon, ob ein Künstler die Wahrheit sagt, schreibt, malt, dichtet. Doch wir wollen in unserer Neugierde wissen, ob das, was der Autor da auf dem Papier vor unseren Augen geschrieben hat, aus seinem persönlichen Leben stammt oder ob alles nur Erfindungen sind.
Wie bereits im Falle der Platonischen Texte erläutert, denke ich, dass beides in einer Mischung vorhanden sein wird, selbst in den ausgewiesenen Autobiografien. Doch alles ist Interpretation, jedes Zeichen, jede Botschaft wird mit der Brille des Aufnehmenden verarbeitet. Selbst eine mathematische Gewissheit und Eindeutigkeit lässt sich nicht finden (hallo SG!) – wer mit den Zahlen oder Mengen oder Vektoren nicht umzugehen weiß, wird auch von der Mathematik nicht viel verstehen.
Aus den Textzeilen, Zeichen und Botschaften lässt sich darüber hinaus das Unterbewusstsein des Autors und sogar seiner Zeit archetypisch dechiffrieren, auch wenn der Text rein fiktiv ist. Eine Methode der Interpretation, die ich gerne anwende, selbst wenn sie dem Autor nicht gerecht wird. (Ein wichtiger Punkt, auf den ich später wieder zu sprechen kommen werde).
Achtung Abschweifung in die Philosophie! (Schon wieder eine solche Abschweifung. Soll der Autor doch endlich mal beim Thema bleiben!). Ich muss auf einen weiteren Streitpunkt in der Wissenschaftstheorie zu sprechen kommen. Diesmal die Frage, ob Geschichte und in ihrer Konservierung als Geschichtswissenschaft Wahrheit vermitteln kann.
Nein, sagen die analytischen Philosophen der anglo-amerikanischen Richtung. Behauptungen der Geschichtswissenschaft sind unbeweisbare Phantasien. Zum Beispiel die Frage, ob Catulls Werk biografisch zu verstehen ist (hat er jetzt diese Frau oder sogar Prostituierte geliebt oder ist alles nur seine Erfindung?). Wahrheiten müssen mit Zahlen messbar, empirisch beweisbar, kritisierbar sein.
Doch, sagen die Geisteswissenschaftler. Es geht bei geschichtlichen Fragen weniger um Zahlen als um die Anwendung geschichtlicher Problemlösungsversuche für die Gegenwart. Ob wir aus Fehlern der Geschichte lernen können. Ob es Verhalten und historische Zeiten mit Vorbildcharakter gegeben hat und umgekehrt. Ob die Geschichte eine Entwicklungslogik besitzt und so fort. Wir möchten Handlungsanweisungen für die Gegenwart, “wie man zur werlte sollte leben“(Walther von der Vogelweide). Und dazu braucht man historisches Wissen.
Die erste Vorgehensweise nennt man das Erklären von Tatsachen, die zweite das Verstehen. Zu diesem geisteswissenschaftlich vorgehenden Verstehen gehört auch das Einfühlen (die Empathie), das Interpretieren, das Deuten. Natürlich können Liebes-Gefühle im Testosteronspiegel gemessen werden. Aber der gesprochene Satz „Ich liebe dich“ schließt eine Komplexität ein, die von Messapparaten nicht in ihrer Totalität erfasst, gesteuert, manipuliert oder prognostiziert werden kann.
Diese Kontroverse nennt man die „Verstehen-oder-Erklären- Kontroverse“ in den Wissenschaften und sie hat sehr stark die Wissenschaftstheorie der letzten Jahrzehnte beeinflusst. Meist wird das Thema am Beispiel von Cleopatras Selbstmord per Schlangenbiss abgehandelt.
Was bedeutet das nun konkret? – Wenn die Geschichtswissenschaft nur „Geschichten“ erzählt, dann steht auch die ganze Theorie des dialektischen Materialismus, das heißt die langjährige Weltanschauung des kommunistischen Imperiums, auf wackligen Füßen. Selbst Hegels Modell des Weltgeistes, der irgendwann am Ende der Geschichte in einer globalisierten Welt mit Weltkultur, Weltregierung, Weltsprache etc. zu sich selbst kommt, wird fragwürdig.
Bei Catull weiß man also nicht, ob seine Liebesgedichte fingiert oder real waren. Ob sie tatsächlich an eine ältere Frau, die Ehegattin eines einflussreichen römischen Politikers, gerichtet waren. Ob die obszönen Texte dem Stil und Wunsch der Zeit entsprachen und eine persönliche Wahrheit ans Licht brachten oder eher nicht. Ob seine Lesbia wirklich und tatsächlich so existiert hat. Ob sie vielleicht sogar – wie bei Proust – ein Mann war und so fort.
Zumindest zeigen Catulls Texte, dass – wie auch bei zeitgeschichtlich anderen Stürmern und Drängern – immer Liebesleidenschaft im Spiel war sowohl Männern wie Frauen, Prostituierten wie jungen Lieblingsknaben gegenüber. An alle diese Personen sind Gedichte des Künstlers gerichtet, immer wieder Liebe, immer wieder Eifersucht und Hass, welche die Zeiten überdauert haben und vielleicht auch überdauern werden.
Ob sie real oder fiktiv sind – mir ist es egal. Zumindest zeigen sie eine Einstellung zu Liebe und Lust, die es heute nicht mehr gibt. Es sind weder die romantisch-verträumte Verliebtheit noch die geistig-philosophische Liebe selbst im Sinne Epikurs, es sind weder pornografische Sexsucht noch ein Rückzug in die falsche Idylle einer glücklichen Familie darin zu finden.
Catull ist also weder neuzeitlich cool noch romantisch verwirrt, weder Familienvater tauglich noch der Unterwelt der Sexbars oder Internetpornografie verfallen. Auch zum geistigen erotischen Genuss zieht es ihn nur dann und wann. Er bevorzugt jedenfalls Leidenschaft und Lust, nicht die Liebe. Das wird in vielen seiner Gedichte deutlich.
Und da wir trotz aller gespielter modischer Coolness immer doch auch die Leidenschaft suchen, weil wir Menschen sind und noch keine elektronisch gesteuerte Maschinen, weil unser Körper das Ziel und die Richtung weiterhin vor gibt; weil wir in so vielen bioenergetischen oder anderen psychotherapeutischen Übungen unser emotionales Ich kennen gelernt haben, das sich gegen das vernünftige Ich und das gestrenge Über-Ich samt dessen Geboten und Einschränkungen lustvoll durchzusetzen weiß, nicht wahr, weil wir also so lange und so heftig trainiert haben, deshalb lieben wir Catull. – Vielleicht habe ich übertrieben. Aber irgendwie und irgendwo stimmt es doch.
Catull ist tatsächlich einer der beliebtesten antiken Autoren auch der Gegenwart. Nicht so gestelzt und voll mit mythologischem Wissen wie die intellektuelle Poesie des Wissens und der Erziehung, auch nicht so künstlich verschlüsselt oder avantgardistisch wie experimentelle Poesie unserer Modernisten, nicht so plakativ-aggressiv wie Rapper und Hip-Hopper, Popstars oder Allerwelts-Entertainer. Er ist nur – was heißt nur – leidenschaftlich. Er liebt, er hasst. Und das mit einer sehr kunstvoll gestalteten Sprache, die sich weitgehend an die Tradition hält.
Catull verliebte sich in Männer wie Frauen. Das war normal. Das war auch in der Romantik und im Sturm und Drang oder in anderen Zeitaltern normal. Von Bisexualität wurde nicht gesprochen(2). Ob es zu sexuellen Handlungen gekommen ist, ist unklar. Man hat jedenfalls noch nicht damit kokettiert. Als natürliche Geburtenkontrolle ist die Zweigeschlechtlichkeit m.E. von der Natur und Kultur erfunden und dann und wann, sofern es erlaubt und gesellschaftlich gewünscht wird, eingesetzt worden. Sie war manchmal sogar willkommen (dies als kleiner Tipp für China mit seiner seltsamen Ein-Kind-Familienpolitik).
Wobei die Liebe der Frauen untereinander auch in der Antike existiert hat, zwar mit anderen Vorzeichen und Intensitäten wie m.E. heute auch. Nur kenne ich mich in diesem Gebiet zu wenig aus; den Theorien von Alice Schwarzer habe ich zu lange geglaubt.
Teil 2 stellt einige Gedichte Catulls vor.
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(1) Ich besitze zwei Ausgaben mit Catulls Werken. Die erste wohlfeile (“wohlfeil”?), bei Reclam erschienene Sammlung (6638) ist schwerer zu lesen, hält sich dagegen strenger an die kunstvolle Vorlage. Außerdem hat sie Angst vor den zahlreichen obszönen Stellen und bietet gezwungene Verkünstelungen dafür an.
Die zweisprachige Artemis&Winkler-Ausgabe in der Sammlung Tusculum hält sich ebenfalls an die griechischen Metren, ist in der Wortwahl und Übersetzung weniger zimperlich und verwendet sogar das Wort “Schwanz” (Entschuldigung, aber es ging nicht anders).
(2)Umstritten und weniger gern gesehen war die Knabenliebe. Platon war schon 350 Jahre tot. Seine moralische Stimme war mächtig und einflussreich geworden fast wie ein Gott. Denn Intellektualität war neben der politischen Machtfrage der wichtigste Faktor im öffentlichen Diskurs, das heißt nach der Arbeit in den Männerwelt-Badeanstalten der Stadt. Doch Knabenliebe war nicht gern gesehen, obwohl es sie immer wieder gab. Sogar öffentlich und im Leben Catulls.