72 Catull (2)
Nr. 85
Das unten abgedruckte kurze kleine Gedicht von Catull ist eines seiner bekanntesten. Es steht fast im Zentrum des abendländischen Denkens, denn es berührt auch einen zentralen Streitpunkt der menschlichen kulturellen Entwicklung: den Stellenwert der Gefühle innerhalb einer Kultur des Geistes, der Rationalität, der Vernunft in der menschlichen Gesellschaft. Über Vernunft wurde im Rahmen der internationalen Postmoderne-Diskussion in den letzten Jahren viel gestritten. Wie vernünftig ist die Vernunft? So lautete die taz- Überschrift meines Interviews mit François Lyotard, das ich teilweise im Blog Nr. 19 abgedruckt habe.Doch niemand fragt, wie vernünftig sind die Gefühle? Allein schon diese Fragestellung scheint paradox, widersinnig. In unserem Sprachgebrauch können Gefühle nicht vernünftig sein; unvernünftig schon, oder? Und ist das Reich der Gefühle nicht eher eine Domäne der Frau, während wir Männer mit unserer Coolness und Rationalität doch ein großes Defizit zumindest im Ausdrücken von Gefühlen haben, ein Defizit, welches es nach den Maximen des Feminismus immer noch zu beheben gilt oder nicht? Gefühle und Denken, das sind die beiden Bausteine des Lebens, wobei das Denken sich wohl erst später entwickelt, entfaltet hat bis mittlerweile hin zur Computersimulation seiner selbst und des menschlichen Gehirns (Künstliche Intelligenz).Musste auf diesem Weg eine Kultur der Gefühle verkümmern?
Sind Computer-Menschen unfähig, Gefühle wahrzunehmen, auszudrücken? Und was sind “Computer-Menschen”? Das Zeitalter der Griechen mit Platon und Aristoteles als Höhepunkte hatte die Domestizierung der Gefühle, das bedeutet auch Unterwerfung der Leidenschaften, in die Wege geleitet zu Gunsten des Denkens, der Rationalität, des Geistes. Gefühle, insbesondere die der Aggression und die der sexuellen Lust, sind Relikte unserer animalischen Vergangenheit. Sie waren und sind wichtig zur Selbst- und Arterhaltung. Ohne Sexualität und ohne Aggression, also kriegerische Überlegenheit, überlebt kein Staat. Aggressivität muss instrumentalisiert, zum Instrument werden bei männlichen Männern mit Kraft, Stärke, Mut. Nur männliche Männer mit genug Adrenalin sind gute Krieger, und gute Krieger waren damals überlebensnotwendig (siehe Sparta). Dazu war sportliches Training (täglich), dazu war auch im begrenzten Sinne die invertierte Männerfreundschaft gut. Romantische Liebesnächte mit lächelnd blitzenden Sternen waren im ganzen Altertum undenkbar. Die Domestizierung, auch Kultivierung unseres Gefühlslebens – insbesondere des Sexualverhaltens – wurde erst zu Platons Zeit in den Mittelpunkt gerückt und thematisiert. Dennoch war das Denken, der Geist, die Intellektualität als solche nach und nach angesehener als das Gefühlsleben. Warum, das habe ich in diesem Blog zu erforschen versucht und erforsche es immer noch weiterhin. Soweit Platon und seine Lehre. Sie hat zwar Antipoden in die Welt gesetzt mit Epikur, Aristipp, Diogenes und anderen. Aber trotzdem blieb sie tonangebend bis in die heutige Zeit. Einen Schritt weiter jetzt in unsere Gegenwart. Während das Mittelalter sich in blutigen Kriegen wieder emotional zerfleischte – und dies unbeschadet der intellektuellen Abgeschiedenheit seiner philosophischen Intellektuellen in den Klöstern und Universitäten – ruft die Aufklärung wieder Vernunft und Verstand in unsere Erinnerung und Gesellschaft zurück. Wage es, dich deines Verstandes zu bedienen, so heißt die neue Devise. Lebe nicht einfach nur leidenschaftlich, brutal, kriegerisch, abergläubig und fanatisiert. Bändige, berherrsche deine Gefühle von Lust und Unlust, domestiziere, kanalisiere, instrumentalisiere sie, ja unterstelle sie ganz der Kontrolle des Verstandes oder anderer Autoritäten wie Sitte, Moral, Gesetz, und kämen die Handlungsanweisungen auch aus der gestrengen Feder des Papstes oder des Pietismus. Was daraus geworden ist , wissen wir nur zu gut. Lustfeindlichkeit zu Gunsten von Aufopferung und Kasteiung, Reduzierung der Sexualität auf Kinderzeugung, ora et labora – bete und arbeite. Die Unterdrückung der Sexualität mit ihren heftigen krank- oder sogar kriegmachenden Kollateralschäden, was die ganze Gesellschaft betrifft, hat Freud aufgedeckt. Bis zum heutigen Tag wollen alle psychotherapeutischen Schulen der Gegenwart gerade die Vitalität unseres Gefühlslebens fördern oder auch neu entdecken, uns quasi revitalisieren, vielleicht sogar reanimalisieren – vergeblich. Coolness ist angesagt, Selbstbeherrschung bis hin zu Versteinerungen und Maskeraden. Ich will eine Maschine sein. Unterdrückung des Gefühlsausdrucks und einer jeglichen dadurch verhinderten spontanen Regung bleibt scheinbar ein Gebot der Stunde. Vor allem der deutschen Kultur wird eine preußisch-protestantische Verkopfung immer wieder zur Last gelegt. Die Deutschen sind zwar tüchtige Ingenieure und Erfinder. In Sachen Liebe und Genuss hätten sie jedoch Nachholbedarf, sagt man. Während die südlichen Länder mit Lust und Liebe zu leben verstehen (und wir hierzulande deren Schulden mit finanzieren dürfen), mühen wir uns ab in unserem unerbittlich treibenden Hamsterrad des Geldverdienens und Arbeitslebens. Die Befreiung unserer Gefühle zu einem direkten, wenngleich auch domestizierten, manche sagen auch “kultivierten” Ausdruck ist weiterhin Aufgabe einer allgemeinen Psychohygiene der Gesellschaft, wie ich glaube.
Catull ist der erste und einzige Lyriker, der sich so deutlich zu diesen unseren animalischen Quellen bekennt. Fast scheint er Opfer seiner Gefühle, seines Gefühlslebens zu sein, auch wenn er dies nicht thematisiert. Aber er “quält sich ab”.
In seinen Gedichten geht es vorwiegend um sexuelle Gefühle, um Begehren und Sehnsucht, um Eifersucht und Trauer. Liebe und Abschied liegen bei ihm nahe beieinander. Wie überhaupt seine Liebe zu Lesbia und auch zu dem Knaben Iuventius eher traurig und voller Eifersucht als beglückend und erfüllend gewesen ist. Das folgende Gedicht ist negativ. Es schildert den Ist-Zustand eines Menschen, der scheinbar unter der Macht, ja Allmacht der Gefühle leidet. Aber es ist ehrlich. Es schildert eine Conditio humana, die fast jeder kennt. Es ist also allgemein menschlich, auch in seiner Ratlosigkeit, in seiner Ohnmacht. Und es richtet sich wie so oft bei Catull an ein Du. Doch es beginnt mit dem Hass. Nr.85 Hassen tu’ ich und lieben. Warum, fragst du vielleicht. Ich weiß nicht. Ich fühl’s – und quäle mich ab. Odi et amo. quare id faciam, fortasse requiris. nescio, sed fieri sentio et excrucior.