73 Catull (3)
Nr. 5 und Nr.16
Leben, Lesbia, wollen wir, und lieben !
Vivamus, mea Lesbia, atque amemus!
Was für ein schöner Beginn für ein Gedicht! – Ein Ausrufezeichen schmückt diesen Satz an seinem Ende, und wer von uns möchte ihn nicht unterschreiben.
Doch etwas macht uns stutzig. Leben wollen wir – ist das nicht eine Selbstverständlichkeit? Wir in unserer behüteten Umwelt, die wir weder Kriege noch Katastrophen noch größere Schicksalsschläge bislang haben ertragen müssen?
Nein, es ist keine Selbstverständlichkeit! Wir sind im Rom der Zeitenwende, wo alles drunter und drüber geht. Ein heftiger Bürgerkrieg wütet, aus dem dann Caesar als Sieger schließlich hervor gehen wird. Täglich und überall ist dieses Leben gefährdet. Wir sind in einem martialischen Militärstaat, wo zwar die Männer der Oberschicht einschließlich Catull sich ein dolce far niente dann und wann leisten konnten. Aber auch nur sie, das heißt nur eine Handvoll Männer (wir sind in einer Männerwelt). Die Frauen leben mit ihrem “Hofstaat” zusammen mit Sklaven und Kindern in den Hinterzimmern der Macht. Und überall wartet der Tod.
Denn nach diesem fast schon enthusiastischen Aufruf zum Leben und Lieben folgt in Catulls Gedicht sogleich eine Antithese: Wie klein ist doch der Mensch angesichts des Universums, wie kurz nur und schwach leuchtet sein Licht, das bald erlischt und dann in Nacht und Schlaf ewig verschwunden sein wird.
Freuen wir uns also des Lebens, unseres Körpers und der Stärke seiner Glieder (so ähnlich heißt es tatsächlich in einem anderen Gedicht wenig später), und so lange es noch geht. Und freuen wir uns jetzt!
Nicht mit Essen und Trinken, mit teuer eingekauften Kostbarkeiten wie Vasen oder Statuen für die Villa auf dem Palatin oder auf dem Landsitz. Nein, tausend Küsse müssen es sein und nochmal Tausend
und nochmal…
Zwei streng getrennte Teile hat dieses Gedicht. Der obere Abschnitt, in fast philosophischer Art und Weise die Bedingungen des Menschseins kurz und knapp in Erinnerung rufend – als da sind Leben, Lieben, Sterben – genug davon! Erfreuen wir uns im unteren Teil an der Gegenwart mit ihrer rauschhaften Verführung zu Liebe und Lust.
Nr.5
Leben, Lesbia, wollen wir und lieben!
Was sie schwatzen, die allzu strengen Alten,
Soll uns alles nicht einen Pfennig wert sein!
Sonnen sinken hinab und kehren wieder;
Unser winziges Licht, erlischt es einmal,
Dann umfangen uns Nacht und Schlaf für ewig.
Gib der Küsse mir tausend und dann hundert,
Dann noch tausend und noch ein zweites Hundert,
Und so immerzu tausend und noch hundert.
Sind’s dann recht viele Tausend, bringen wir sie
Durcheinander, auf dass wir nichts mehr wissen
Und damit uns kein schlechter Mensch es neide,
Wenn er weiß, dass es so viele Küsse waren.
*
Nr.16
Das Gedicht Nr.16 bezieht sich direkt auf das oben stehende. Es ist fast eine Antithese, die auch einen Blick auf die Werte und Lebensform der Männergesellschaft erlaubt. Wer eine Frau liebt, sich sogar in sie verliebt, ist ein Weichei, kein richtiger Mann. Richtige Männer bleiben unter sich, vergnügen sich untereinander, wie sie es in der Pubertät gelernt haben mit ihren älteren Liebhabern.
Angegriffen auch wegen der Thematik, die in anderen Gedichten noch weit mehr und heftiger zur Sache kommt – die Gedichte sollen sexuell anstacheln, sie sollen geil und schlüpfrig sein, verteidigt sich Catull und sie sind gedacht nicht für die jungen Freunde Aurelius und Furnius, sondern vor allem für die älteren Jahrgänge. Ob Catull dabei gleich an Masturbationshilfen gedacht hat, wie Wikipedia unterstellt, wage ich zu bezweifeln.
Wann ist denn Mann ein Mann? – Im Rom der Jahre 50 v. Chr, wo selbst Caesar „jedermanns Frau und Mann war”, wie es in einem Triumphzugslied der Soldaten seiner Zeit heißt, war man kein männlicher Mann, wenn man leidenschaftlich in eine Frau verliebt war und sie der gleichgeschlechtlichen Liebe mit Freunden sogar vorgezogen hat. Ganz zu schweigen von einem Familienvater, den der kriegerische Staat doch so dringend benötigte.
Warum Kinder in die Welt setzen? – In der Oberschicht wollten einfach keine Kinder mehr in die Welt kommen. Dies ist auch ein in der Geschichtswissenschaft ungeklärtes Phänomen. Nicht weil Verhältnisse wie in Sparta geherrscht hätten, sondern die Frauen dieser Schicht (oder auch die Natur) wollten einfach nicht. Siehe Ciceros Familienleben und das etlicher anderer auch. Selbst Caesar hatte nur eine leibliche Tochter, wenn auch einige Adoptivkinder. Neben Oktavian, dem späteren Kaiser Augustus, auch noch einen Sohn mit Namen Brutus, der angebliche Cäsar-Mörder (“Auch du mein Sohn Brutus”, soll Caesar in seiner Todesstunde gesagt haben).
Man ist jung, unbeschwert, in einer privilegierten Stellung, lebt nur einmal. Das eigenwillige Sexualverhalten des Staatschefs ist Catull ein Schmähgedicht wert, wofür er sich entschuldigen muss und dann von Caesar in Gnaden wieder aufgenommen wird. Catull ist beliebt, ein Star der oberen Zehntausend – wer denkt da an Familie und weitere Verpflichtungen?
Man beachte bei der ersten und letzten Zeile des Gedichtes die Varianten, die ich aus den beiden Übersetzungen von Werner Eisenhut und Rudolf Helm ausgewählt habe. Auch das alte Rom war aller Sexualtechniken kundig und erfahren, zumindest was Abwechslung und Subtilität betrifft. In der ganzen Weltkultur tauchen diese auf, verschwinden wieder, tauchen wieder auf…
Furius und Aurel, ihr geilen Freunde beide,
weil ihr glaubt, ich sei wie meine Verse
etwas weichlich und wenig ehrbar, grad wie diese.
meint ihr, doch meine Verse, sag ich, die haben’s nimmer nötig,
sie haben erst dann wirklich Witz und Feinheit,
wenn sie weich sind und nur wenig sittsam
und, was geil ist, anzustacheln verstehen;
die schon steif in den Lenden nichts mehr rühren können.
Weil ihr lest bei mir von tausend Küssen,
glaubt ihr, ich kann kein Mann sein.
Werd’s euch unten und oben schon besorgen.
Ihr versteift euch ( “versteifen”?) nur auf das eine Geschlecht und wollt mir und uns dauernd einreden, ja fast schon nötigt ihr uns und die ganze Männerbewegung dazu, dass wir allesamt doch schwul wären und es nur noch nicht wüssten. Es fehlt also der Märchenprinz, der uns wach küsst. Nein Danke.
Über Zwangshomosexualität und Zwangsheterosexualität später
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