80 Catull (8)
Nr. 61
Im mittleren Teil der Gedichtsammlung mit den feierlichen Gesängen Nr. 61 – 68 im erhabenen Stil beweist Catull seinen konservativen Zeitgenossen und Kritikern, dass er sich auch auf der Höhe der Gedichtkunst-Tradition befindet und nicht nur – ähnlich Rimbaud – wilde Rocksongs für die Jugend schreiben kann über Liebe, Leidenschaft und Lust.
Das Gedicht Nr.61, das ich vorstellen will, ist ein langer Hochzeits-Hymnus, also quasi ein Gebet, mit 47 Strophen zu je fünf Zeilen im altgriechischen Metrum anlässlich der Heirat eines Freundes. Wir erfahren wieder einiges über die römische Jugend, die Jeunesse dorée der damaligen Zeit und ihre Lebensform vor und nach einer Hochzeit.
Es ziemt sich jedenfalls nicht für eine hoch stehende aristokratische Persönlichkeit, dem Staat keine (wehrtüchtigen) Kinder zu schenken. Also wird von den Vätern der befreundeten Familien nach machtpolitischen oder pekuniären Gründen eine jugendliche Braut gesucht (manchmal ist sie sogar unter 14 Jahren jung) und gefunden. Mit der Heirat ändert sich alles für den jungen Mann: Aus Lust, Spiel, Übermut und Leidenschaft wie auch immer wird Pflicht und staatsbürgerliche Verantwortung*. Die Frau hütet Herd und Heim mit Kindern und Sklaven.
Ein großes Fest mit religiösen Riten wird gefeiert. Die Braut wird in einer langen Prozession mit Gesängen und Gebeten zum Haus und Ehelager des Bräutigams geleitet, der dort auf sie wartet (“Salben duftend”). Vielleicht hat sie den Ehemann noch gar nicht gesehen oder gekannt. Doch sie ist bereit, sie muss bereit sein. Liebe im romantischen oder gar funktionalen Sinn (“Ehe auf Probe”) gibt es noch nicht. Hymen, der Gott der Ehe, wird immer wieder angerufen und freundlich zu stimmen versucht:
Hymen, o Hymen, o Hymenaeus!
Finanziell ist die Braut gut abgesichert: Im Falle einer Scheidung, die relativ leicht möglich war, darf sie alle Mitgift, meist eine große und bedeutende Summe, wieder mit sich nach Hause nehmen. Wenn alles gut geht, werden Kinder, die aus dieser Ehe stammen, ihren Eltern gleichen – der Sohn ist also kein uneheliches Kind. Denn Vater und Mutter werden sich in Treue verbunden bleiben und sittsam sein:
Dein Gemahl wird nicht schändlich sich/ einer Buhlerin widmen und/ treiben leichtfertig Ehebruch/. Fern von deiner geliebten Brust/ will er niemals mehr liegen.
Die Braut wird auch sexuell immer bereit sein müssen in der Stunde des Pan (zur Zeit des Mittagsschlafes, also um die Zeit der Mittagshitze, aber auch abends):
Braut, du hüte dich, dass du nie/, was dein Mann von dir will,versagst/, denn er sucht es sonst anderswo.
Derweilen wartet der Gatte und grübelt über seine Vergangenheit nach. Schwer fällt es ihm seinen „Freundinnen“ von draußen und seinem Lieblingsknaben, mit dem er nur „Erlaubtes“ trieb, zu entsagen**:
Salben duftender Ehemann/, ungern, sagt man, entsagst du nun/ deinen Lustknaben. Lass sie jetzt!/ Sicher triebst du Erlaubtes nur/, doch als Ehemann darfst du nicht/ mehr das Gleiche wie bisher tun.
Auch der Lieblingssklave hat mittlerweile ein Alter erreicht, wo es aufhören muss mit dem Männersex – die erste Bart-Rasur, Zeichen des Erwachsenseins, steht bevor, sein Herr liebt ihn nicht mehr, besser: darf ihn nicht mehr lieben. Früher, in der Obhut seines Herren, war er etwas Besseres. Dann waren ihm die einfachen Frauen zu primitiv. Doch diese Zeit ist jetzt vorbei, er wird sich nach solchen Frauen noch umsehen müssen. Er ist nicht mehr der umworbene Günstling seines Herrn voller Privilegien:
Bisher waren zu schmutzig stets/ dir die Frauen auf dem Lande, doch/ fortan schert der Barbier auch dir/ deinen Bart: du bist arm jetzt dran/, Knabe!
Lange soll diese Ehe dauern und treu wird man sich bleiben:
Siehe hier deines Mannes Haus/, wie gesegnet und reich er ist/. Mögest stets du ihm Herrin sein/ – bis im Alter dein Haar ergraut/ und mit wackligem Kopf du/ nur mehr zustimmend nicken kannst.
Hymen, o Hymenaeus, o Hymen, o Hymenaues!
Das prächtige Ehebett wird ausführlich geschildert, die Nacht bricht an, der Gatte (so wahr mir die Götter/ beistehn, auch du bist schön!) legt sich zu seiner Braut. Die Tür wird geschlossen von den Brautjungfern und
Ihr, edele Gatten, lebt wohl/, genießt eure kräftige Jugend in/ beständiger Liebe und Lust!
Wir sind also jetzt in einer ganz anderen Welt. Vielleicht gab es dennoch immer noch Seitensprünge und „Nebenbeziehungen“. Genügend Sklaven und Sklavinnen standen jedenfalls freiwillig und gerne bereit. Doch eheliche Treue und Selbstbeschränkung, hatte man sich aus welchen Gründen auch immer einmal entschieden, waren wohl tonangebend in der Zeit und blieben es überwiegend im Moralcodex der ganzen Antike. Sie besitzen als Ideal Vorbildcharakter bis in die Gegenwart.
Es ist die Welt und Moral der stoischen, später auch der christlichen Werte, es sind ihre Sitten und Gesetze, ihre Traditionen und Tugenden. Nicht mehr Lust, Genuss und spielerischer Übermut herrschen jetzt, sondern Zurückhaltung, Enthaltsamkeit und Maß. Auch in diesem Punkt kann man die christlich – stoische Moral verstehen: Zügelloser (und auch aggressiver) als in der Antike war es später mit Ausnahme unserer Zeit und näheren Verganhenheit nie mehr wieder.
Zurückhaltung, Maß und Mitte waren schon bei Aristoteles Hauptwerte. Er hat als einer der wenigen Philosophen eine glückliche Ehe mit seiner Gattin Pythias führen können. Zu deren Tod hat er ihr eine berühmte Grabschrift gewidmet. Seinem Sohn Nikomachos hat er mit der Nikomachischen Ethik ein überzeitliches Denkmal gesetzt.
Von Aristoteles berichtet Diogenes Laertios darüber hinaus, er sei der einzige Schüler Platons gewesen, der den Vorlesungen seines Lehrers immer bis zum Ende habe folgen können und in der Akademie geblieben sei.
Verantwortung heißt dann das neue Zauberwort in unserer Zeit.
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* Einen handfesten Skandal gab es, als sich einige junge Männer der Oberschicht übermütig und in Frauenkleidern in den Tempel der Vestalinnen(Priesterinnen) eingeschlichen und dort ihr Unwesen getrieben haben. Die Empörung im Volk war so heftig, dass nur mir großer Mühe die aristokratische Oberschicht ihre Jugend vor der Todesstrafe hat bewahren können. Gottesfrevel wurde allgemein immer mit Todesstrafe geahndet, siehe auch den Tod des Sokrates in Athen. Kein Verbrechen war schlimmer als das gegen die Götter verübte.
** Dieses “Erlaubte” ist bis heute die große Unbekannte in der Geschichtswissenschaft und Soziologie geblieben. Je nach Blickwinkel und Interesse hat man unterschiedliche Antworten gefunden. Besonders bekannt geworden sind Michel Foucaults Beiträge zu einer Sexologie der Antike. Es ist erstaunlich, dass gerade Catulls Texte die lange Zeit von Verdrängung, Zensur und Repression vor allem im Mittelalter überleben durften.
Über die Weltanschauung der stoischen Philosophenschule später mehr