10 Manifest über die Verkümmerung
Manifest über die Verkümmerung
Man hat mich kritisiert, sehr freundschaftlich und wohlmeinend sogar, muss ich zugeben, meine Blog-Beiträge seien zu lang und zu langatmig. Kleinere Häppchen brächten größeren Gewinn und sie verschafften mir ein größeres Publikum (ich weiß gar nicht, ob ich das will). Auch eine junge Pfarrerin, die ich auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof getroffen hatte, lobte mein “Thomas-von Aquin”-Buch. Nur solche schmalen und schön illustrierten Bände würden heute noch den Zugang zum Leser finden.
Bitte nicht solche Sätze, informierte man mich, in denen sich gleich drei und manchmal sogar auch noch heterogene Gedanken verbergen oder versteckt halten, die zu entschlüsseln schon harte Arbeit bedeuten und einen Normalsterblichen überfordern würden.
Was für eine Schande!, kann ich nur antworten. Verkümmert das Denken, dann verkümmert …(ihr kennt diesen Satz bereits, ich weiß, ich brauche ihn nicht mehr zu wiederholen)
Doch ja, reden wir über den Zustand der menschlichen Verkümmerung! Über die Krüppelhaftigkeit unserer Denkorgane. Um richtig funktionieren zu können, erweitern sie sich sogar schon nach Außen in die CellPhones. Ihr wisst mittlerweile, wovon ich rede. Von welch geistigen Imbezilen wir außerdem umgeben sind, ja politisch beherrscht werden. – Was ist nicht alles bei uns verkümmert? Die Lebensfreude sowieso in diesem düsteren Deutschland der Hamsterräder und Karrieristen, der Optimismus, das forschende Nachdenken und all die Erinnerungen an eine zukünftige Zeit, an eine gelungene Tradition, die bewahrt werden sollte.
Sogar die Geschlechtsorgane drohen zu verkümmern, nicht wahr. Jetzt, wo sie offen und frei da liegen dürfen, frei und bereit zu mancherlei Art von Genuss und Lust (ich erschrecke bereits über dieses seltsame Bild, das mir gerade eingefallen ist oder das mir meine Sprache zur Verfügung stellt), müssen sie untätig vernachlässigt werden, weil uns die Zeit fehlt oder wir vom vielen Arbeiten und dem täglichen Stress der Nachrichten und Reiz-Informationen (leben wir nicht in einem Informations-Zeitalter?) ganz erschöpft sind.
Ich gebe gerne zu, manchmal fehlt auch die menschliche Wärme oder ein Du, das ich mir im Internet mit einem kleinen Klick runterladen könnte, wie man so schön sagt. Aber selbst dazu bin ich nicht immer – ihr werdet mich und meine Bedenken mittlerweile verstehen – bereit.
Auch auf die zügellosen Werkzeuge der Unterhaltungs-Industrie mag ich mich nicht dauernd einlassen. Das Niveau ist niedrig, das glaube ich auch. Alle diese Dschungel-Camps, Wasserschlachten und Abenteuerspielplätze im Privatfernsehen für Erwachsene, die doch so bedenklich an der Grenze zur Pornografie angesiedelt sind.
Als wenn sich nicht schon genug Schäbiges und Bedrohliches um uns herum positionieren würde, stehen jetzt sogar Überwachungsmaschinen in unseren Wohnungen bereit, die ein Auge auf uns werfen, ohne dass wir es merken würden, auf unseren Tagesablauf, unsere Verdauung, unser Lieben und Leiden und so fort. Verkümmert nicht auch unser Freiheitswille allgemein? Bedenkenlos unterzeichnen wir einen Vertrag nach dem anderen, ohne dass wir überhaupt wüssten, was wir da unterzeichnen. Wählen wir Politiker ohne ihnen auch nur ein Wort zu glauben. Aber sie sind schön, sehen überzeugend aus. Und nur das zählt heutzutage: Schönheit und Genuss.
Ich bin ein Neon-Romantiker, ich gebe es zu. Es ist gleich, ob ich ein Arbeiter, ein Angestellter oder sonst etwas Besseres bin. Über allen hängt gleichermaßen ein künstlicher Mond, leuchten die Städte fiebrig und gemein. Ich gehe in die großen Kaufhäuser, fahre die Rolltreppen auf und ab, besuche einzelne Abteilungen, die mich interessieren. Ziellos schlendere ich zwischen den Waren umher. Die Verkäuferin sieht müde aus, ich lächle ihr zu.
Wir wachsen auf mit den Spaziergängen nachts durch leuchtende Straßen, trinken die gleichen Pulvergetränke und essen Hamburger, wenn wir noch mithalten können. Kennen die schönen Frauen und Filme und die Künstlichkeit der Mode. Die Reklamebilder lächeln uns an, wir lächeln zurück. Einem berühmten Menschen oder Star zu begegnen ist ein besonderes Glück.
Wir sind gebildet und kennen die Formen der Vergangenheit, an denen unser Herz hängt. In schönen Häusern zu wohnen, dies sei an die Adresse der Architekten gerichtet, ist schön. Politik ist überflüssig, haben wir einzusehen gelernt. Wichtige Fragen werden in den Zentralen der militärischen, wirtschaftlichen oder ideologischen Macht außerhalb unseres Einflussbereiches geregelt. Die Bürokratie sollte eingeschränkt werden.
Wir sind für Abwechslung und fahren mit unseren neuesten Schlitten, die nicht teuer zu sein brauchen, auf der Autobahn. Nach dem Glück zu suchen haben wir aufgegeben. Unserer Zufriedenheit gilt das tägliche Gebet. Wir glauben an die Träume und die Unwirksamkeit von Valium. Manche Gitter rosten. Aber die neuen Gitter sind aus einem Material, das widerstandsfähiger scheint.
Im Grunde wird alles nur schlechter, wenn es besser wird. Deshalb sollte es schlechter werden. Aber unser verantwortungsloser Zynismus kapituliert vor der Erbärmlichkeit, mit der wir Probleme zu meistern suchen. Wir lieben Psychotraining und Randgruppen. Auch die Frauen-und Männerbewegung findet unser Verständnis. Du willst dir das Rauchen abgewöhnen.
Heute Morgen habe ich unseren Etagen-Computer befragt. Meine Koordinaten, die ich eingegeben habe, waren: Psychisch lustlos. Ausgeprägte Antriebsschwäche. Arbeit anstrengend. Sexuell übersättigt. Immer die neuesten Hits im Ohr.
für Gabriele M.