82 Über Befreiung I (Antwort)
Über Befreiung (Brief an Lucilius 1)
Ich bin von dir gebeten worden, nicht immer nur abstrakt über unterschiedlichste Themen zu schreiben, sondern auch lebenspraktische Fragen aufzugreifen, die viele Menschen betreffen und interessieren würden.
Ich soll also konkreter werden, wird gewünscht, was ich verstehen kann. Vielleicht sogar unter Einschluss meiner Lebensgeschichte und meiner Lebenserfahrung. Wie man “zer werlte sollte leben”, schreibt Walther von der Vogelweide (“Ich saß uf einem steine“…)
Fangen wir also einmal mit mir an.
Nachdem ich letzten Sommer so viele emotionale und künstlerische Ausbrüche produziert habe, fast schon Ejakulationen meiner Seele, die etliche Kinder gezeugt haben (Gedichte, Texte, Musik), soll an dieser Stelle jetzt eine rationale Erörterung über Befreiung folgen. Nicht im politischen, sondern im individual-psychologischen Sinne. Vielleicht liegt dir diese Thematik und diese meine Sprache jetzt mehr.
Selbst wenn das Politische immer doch auch individuell und das Individuelle politisch ist. Viele Fragen und Probleme hängen mit Politik, dem Allgemeinen, Abstrakten zusammen, und deine Befreiung geht immer auch uns alle an. Selbst wenn du noch so zurück gezogen und solipsistisch leben willst vor und alleine mit deinem Computer oder deinen elektronischen Geräten.
Ich versuche also meine individuelle Person als ein subjektiv-emotionales Wesen zurück zu stellen und kalt, nüchtern, “objektiv” an die Sache heran zu gehen. Eben mit der Sprache des Mannes, der das Wesentliche und Wichtigere zu verstecken sucht und weiß – durch diese kalte, nüchterne, objektive Sprache, die Sprache des Mannes und seiner Art zu denken.
Welche Sache meine ich? – Ich habe im letzten Gespräch mit dir über Potential, Entwicklung und Befreiung gesprochen. Auch wie man sich selber helfen kann, wenn es nötig sein sollte.
Ich habe eine Schnittmenge gefunden, die ich mit vielen Menschen teile, ebenso auch mit dir: die neurotische Grundstruktur. Sie ist eine seelische Prägung (“Programmierung”), die aus einer schmerzhaften Erfahrung aus der Kindheit oder Jugend stammt (Ur-Situation).
Neurosen schränken einen mehr oder weniger stark ein, je nach Typ und Stärke. Jeder Mensch unserer Kultur hat irgendwelche neurotische Störungen. Ob sie behandelt werden müssen, hängt von einem selbst und dem Leidensdruck ab. Andererseits begrenzen sie das Entwicklungspotential einer Person. Die wenigsten Menschen schöpfen dieses Potential in ihrem Leben ganz aus.
Neurotische Menschen sind jedoch auch feinsinnig und sensibel, also für die Kunst aufgeschlossene Menschen, ambivalent, das bedeutet gleichzeitig offen und ängstlich Vielem gegenüber. Nach Freud schaffen es nur die Künstler, ihre Neurose selbst zu heilen (durch ihre Kunst).
Am Anfang eines solchen Heilungsprozesses steht jedoch immer die Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis. Daraus wird dann die Selbstentfaltung des eigenen Schicksals. Das ist vielleicht zu optimistisch von mir gedacht, aber irgendwie stimmt es doch, so hoffe ich.
Eine wichtige Anmerkung muss noch hinzu gefügt werden: Die Selbstbefreiung gelingt nicht mittels Lesen, Denken oder Wissen. Bücher über Symptome zu lesen verändern den Zustand nicht. Dazu braucht es harte Arbeit zusammen mit einem Fachmann, i.a. einem Coach oder Therapeuten.
Aus der Neurose resultiert nach Freud eine starke Sensibilität, das heißt auch Sensibilität für die Pan-Sexualität im Es. Daraus resultieren auch Angst und Ambivalenz, eine Zerrissenheit und Gespaltenheit diesem vielen Verbotenen gegenüber einschließlich der (am häufigsten vorkommenden) Homosexualität bei Männern wie Frauen.
Verdrängung spielt außerdem eine wichtige Rolle. Diese zu erkennen und den von ihr geschaffenen emotionalen Panzer aufzubrechen ist der erste Schritt – zum Gespräch und zur Heilung.
Neurose ist etwas ganz anderes als Psychose. Psychotische Störungen sind bedrückend und eine richtige Krankheit, die belastet und unfrei macht. Sie wird meist in einer Klinik behandelt, oft mit Medikamenten, oft ohne Erfolg.
Auch hierüber hat Freud eine Theorie aufgestellt. Aber niemand weiß so recht, was heißt normal, was unnormal, was ist krank, was nicht, da diese Definitionen sehr von kulturellen Faktoren abhängig sind. Ganz umstritten ist z.B. die Theorie der Schizophrenie. Der Psychiater Roland D. Laing hält manche schizophrenen Zustände für “normal”, manchmal sogar für nützlich. Manche Hippies wollten solche schizoiden Zustände deshalb künstlich mit Drogen herbei führen (LSD) und fanden sie künstlerisch interessant, sogar wertvoll.
Als Faustregel für Normalität und Krankheit gilt vielleicht die Tatsache, dass eine Person an sich oder die Umwelt an dieser Person leidet oder auch beides zusammen. Dann kann wohl von “Unnormalität” gesprochen werden, die auch manche neurotischen Symptome betrifft. Ob diese “Unnormalität” behandelt werden muss oder kann, das ist jedoch eine andere Frage. Homosexualität galt viele Jahre lang als eine therapiewürdige Krankheit mit zweifelhaften Heilungschancen.
Ich habe meine Ur-Situationen und kindlichen Traumata, die auch in die Sexualität gehen, schon als Student bearbeitet und überwunden, mich also befreit. Nicht mit Psychoanalyse – die war mir zu teuer und dauerte zu lange.
Ausschlag gebend für diesen Entschluss war bei mir ein Philosophie-Seminar mit Karl Otto Apel: “Die Wahrheit der Psychoanalyse“, in dem sehr ausführlich auch das dies bezügliche Buch von Jürgen Habermas “Erkenntnis und Interesse” durchgearbeitet worden ist. Habermas und Apel sind zwei Hauptvertreter der Kritischen Theorie der Gesellschaft oder auch Frankfurter Schule, die sich bereits in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts gebildet hat. Sie hatte einen großen Einfluss auf die Studentenbewegung. Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse und Theoder W. Adorno heißen die Gründungsväter dieser Freudo-marxistischen Schule.
Dieses Apel-Seminar (es waren damals vielleicht nur 25 Studenten anwesend) hatte mein Interesse an psychologischen Fragen geweckt und mich mit dem Begriff der Emanzipation bekannt gemacht, der eine so wichtige Rolle im Denken der Sozialwissenschaften der damaligen Zeit gespielt hat: Emanzipation des Mannes, der Frau, der Schwarzen, der sexuellen Minderheiten, der Menschen am Rande, der unterdrückten Völker, Bevölkerungsgruppen etc. – Oder auch Befreiung von der Übermacht des Geldes, der Industrie, der Mode, der Kulturindustrie, der Ideologien, der Lüge und Manipulation etc. Herbert Marcuse glaubte am Ende seines Lebens nur noch an die Möglichkeit einer Emanzipation der Frau.
Psychoanalyse ist eine sozialwissenschaftliche Methode der Problemlösung, die mit eher geisteswissenschaftlichen Mitteln arbeitet. Mit Hilfe einer gelenkten Selbsterkenntnis (“Bewusstmachung”) erfolgt die Befreiung (“Heilung”, Emanzipation). Ohne Fremd-Manipulation, ohne Medikamente, ein Lern-und Reifungsprozess: die Selbstentfaltung.
Es gibt mittlerweile neben der Psychoanalyse viele effektive weitere psychologische Methoden je nach Ziel und Absicht, die sich bewährt haben.
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Hier einige Methoden der Befreiung (sie gehen alle irgendwie auf Freud zurück):
1 Aussprechen und Zuhören ohne Wertung (Gesprächstherapie, die häufigste Methode gegenwärtig)
2 Transaktionsanalyse (gefällt mir zur Zeit an besten): das Ich zwischen dem emotionalen Kindheits-Ich (Gefühlen), das nach dem Lustprinzip leben will, und dem um Rationalität bemühten Eltern-Ich (Gebote, Verbote). Dazwischen steht das Erwachsenen-Ich, das irgendwie eine Mitte jetzt finden muss zwischen diesen unterschiedlichen Ansprüchen.
3 Verhaltenstherapie: Sie wird zur Zeit häufig angewandt, dauert nicht lange, hilft gut, ist billig und sehr erfolgreich z.B. bei Angst-Verhalten. Als angewandte Philosophie des Behaviorismus und Konditionierungs-Technologie selbst ganzer Populationen (!) ist sie mein wissenschaftstheoretischer Intim-Feind. Für die gesellschaftliche Psycho-Hygiene des einzelnen ist sie jedoch oft sehr nützlich und sinnvoll. Auch wenn die “Selbstentfaltung des eigenen Schicksals”, wie ich es oben metaphorisch und vielleicht etwas zu optimistisch genannt habe, dabei zu kurz kommen mag.
4 Körpertherapie: Wunden der Vergangenheit werden durch einen schmerzlichen Prozess wieder zum Bluten gebracht und dann geheilt:
a) Bioenergetik: Mittels einer speziellen Körper-Massage werden Muskel-Blockaden gefunden, die auf die Ur-Situation hinweisen und gelöst/gelockert werden, so dass man wieder darüber sprechen kann und die Lebensenergie aktiviert wird.
b) Gestalttherapie: Traumfragmente werden wie in einem Rollenspiel von einem selber gespielt. Auch jetzt folgt eine emotionale und anschließend eine rationale Aufarbeitung einer Ur-Situation, die schmerzhaft ist. Man nennt diese Methode auch Psycho-Drama.
c) Psychoanalyse: Träume werden in einem langwierigen Verfahren analysiert und führen zurück zur traumatischen Ur-Situation, die dann mittels Selbsterkenntnis wiederholt und bewältigt wird.
Mehrere Schulen der Psychoanalyse haben sich gebildet. Freud und Reich führen alles auf die frühkindliche Sexualität zurück, C.G.Jung auf kulturell vorgegebene Muster (Archetypen) auch im Sexualverhalten, aber nicht nur und eher bedeutend weniger.
Nach W. Reich soll man sogar schon die frühkindliche Sexualität zulassen, ja fördern, um seelische Krankheiten zu verhindern. Auch Kinder haben bereits sexuelle Gefühle, glaubt Reich, selbst Babys.
5 Systemisches Vorgehen: von Fall zu Fall und je nach Person werden die unterschiedlichen Ansätze von 1-4 miteinander verbunden und gemischt. Gängige und effektive Methode in der Sozial-Psychologie und Sozial-Pädagogik. Neu einbezogen werden auch Ergebnisse der Neuronenforschung, der Konditionierungstechnologie (s.o.) sowie der Hypnose. Sehr verbreitet (und deshalb auch wissenschaftlich umstritten) in der Laien-Therapie, die gleichwohl sogar von Freud angeregt und diskutiert worden ist. Auch Methoden der Resilienz-Stärkung werden diskutiert.
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Frei sein, nicht Gefangensein, das ist, glaube ich, mein wichtigstes Ziel. Nicht die Lust und nicht die Liebe oder das Glück. Auch nicht Kunst, Pflicht oder Verantwortung. Aber nach Hegel ist Freiheit nur die Einsicht in die Notwendigkeit der Beschränkung. Freiheit ist bei ihm – und ebenso auch bei Marx – also Einsicht in die und Akzeptanz der Unfreiheit.
Die alten Römer sagten (Epikur): Keine falschen Götter anbeten oder sich von ihnen terrorisieren lassen. Um das zu verhindern hat Epikur an gar keine Götter geglaubt – er war Atheist. Ich denke, auch im gegenwärtigen selbstmörderischen Schiiten-Sunniten-Religionskrieg der Muslime gegeneinander wäre der (vorübergehende ) Atheismus beider Seiten die beste Lösung.
Frei sein bedeutet jedoch nicht Solipsismus, das heißt frei sein für sich allein und nur zum eigenen Nutzen. Wir sind gesellschaftliche Wesen, ein Zoon politikon, ein politisches Wesen sogar, sagt Aristoteles. Deshalb ist Kommunikation, sind Hilfe, Verantwortlichkeit und Freundschaft wichtig. Freundschaft ist jedoch nur mit gegenseitigem Vertrauen möglich. Vertrauen ist nur mit Aufrichtigkeit möglich. Aufrichtigkeit nur mit Sprechen, Sprechen nur mit Vertrauen. Vertrauen nur mit Freundschaft – ein Zirkelschluss also, der oft nicht viel weiter bringt.
Doch das ist ein anderes Thema. Freundschaft hat Epikur sehr beschäftigt. Darüber später mehr.
Was ich jetzt geschrieben habe, hängt weniger mit Freundschaft oder Aufrichtigkeit zusammen. Es sind Interpretationshilfen zur Selbsterkenntnis, basierend auf Wissen und Erfahrung. Man kann sich davon inspirieren lassen oder auch nicht. Die freie Entscheidung.
Wir sollten uns gut fühlen zusammen und nur das, meine ich. Nichts mehr und nichts weniger. Das wünsche ich mir und dir.
Ostende/Scarborough(8/2014)