85 An diesem Abend (Novelle)
Novelle
Es folgt jetzt an dieser Stelle, damit ihr nicht allzu einseitig festgelegt werdet (Entschuldigung), eine neue “Novelle” von mir. Sie stammt aus einer kleinen Sammlung von Erzählungen, Kurzgeschichten, Reflexionen oder wie auch immer man sie benennen mag, die ich als Appendix an das in statu nascendi befindliche Buch “Über Liebe und Lust” anhängen will.
Es sind keine Novellen, wenn man darunter die poetische Beschreibung oder auch Verzauberung von Alltags-oder Lebensabschnitten versteht. Eher das Gegenteil, Anti-Novellen, Entzauberung unserer Wirklichkeit. Alles im Text ist in meiner unmittelbaren Umgebung gefunden, nichts erfunden. Aber aufpassen, der Erzähler bin ich persönlich nicht! Nur teilweise, manchmal auch gar nicht. Denn alle diese hier geschilderten verworrenen Lebensformen voller “Liebe” und “Pläsier” zeugen von einem traurigen Endstadium, nicht von einem Aufbruch ins Neue und Helle und Andere, das ich mir doch so sehr wünsche.
An diesem Abend
Der Sommer war traurig, voller Nachdenklichkeit und Sorge. Wir hatten ein Abendessen geplant im Garten unseres Landhauses und dann ist es zu dieser hässlichen Auseinandersetzung gekommen.
Ich weiß nicht, warum du dich mit ihnen nicht verstehst. Warum ihr beide immer so aufeinander losgeht und heftig werden müsst. Als wenn eine Eifersucht im Spiel wäre, wo doch sie, wie wenn sie deine Rivalin wäre, fest gebunden scheint an ihn und seine Geliebte. Sind vielleicht die Kinder ein Hinderungsgrund? Mag sein. Du wirst sie vermissen, denke ich, wo sie doch so fest und liebevoll eher zu dir gehören. Aber dass du so zusammen gebrochen bist an diesem Abend, hat mich erschreckt, ja erschüttert, zumal ich dich noch nie so erlebt habe und deine warnenden Worte doch voller Glanz, Wärme und Eindringlichkeit gewesen sind.
Du hattest dein schönes rotes Kleid an und verführerisch wie immer wolltest du die Nacht aufleuchten lassen in uns allen.
Doch was ist es für eine Nacht geworden! Der Sommer war fast vorbei, und eine Traurigkeit, ja Schwermut legte sich plötzlich auf mich, die mich zu erdrücken schien. Alles war wieder so vergeblich und abgründig und fremd geworden!
Was sind „Lebensabschnittsgefährten“, was heißt „Nebenbeziehung“? Was ist mit “virtueller Beziehung” gemeint? Stimmt es, dass ein einziger Mensch nicht alle Belange in einer Zweierbeziehung abdecken kann? Dass wir auch andere Einflüsse, Menschen und Liebesverhältnisse einfordern dürfen, dass wir nicht immer und für alles gerade stehen oder verfügbar sein müssen?
Du hast mit einer Antwort gezögert, als ich dich nach deinem Mann fragte, was er mache, wo er lebt, wie fühlt er sich in seinem neuen Job.
Sein achtzehnjähriger Sohn hat mit einer jugendlichen Freundin gerade ein Kind bekommen. Ok, die Mutter hat nichts mehr von ihrer Tochter wissen wollen, hat sie verstoßen wegen einer neuen Beziehung, die sie kennen- und lieben gelernt hat und die sie jetzt im Gefängnis heiraten wird. Sich dort mit einer Frau zu verbinden fällt leicht, umso leichter wird auch der Hass auf den Ehemann sein, weil er sie bei dem Prozess im Stich gelassen hat.
Ich erinnere mich noch gut an das Fest mit ihr damals, wo eine russisch sprechende Frau sogar von zwei Männern gleichzeitig geliebt, umworben und uns auch so vorgestellt worden ist. Mit dem einen Geliebten hatte sie eine zehnjährige Tochter, mit dem anderen war gerade ein kleiner Junge unterwegs.
Dass auch die beiden Männer in Liebe verbunden waren, hatte ich nicht bemerkt. Neu war es jedenfalls für mich, zumal auch keine Eifersucht im Spiel zu sein schien. Ebenso seltsam war, dass alles von allen an diesem Abend mit einer großen Gleichmütigkeit und Unaufgeregtheit ertragen worden ist. Selbst ich habe mich nicht mehr gewundert.
Dann tönte wieder die traurige „Summertime-Sadness“-Musik aus dem Lautsprecher der Musikanlage[1]. Wir hielten inne in unseren Gesprächen und warteten. Yvonne war angekommen und sie war noch schöner als je zuvor. Ich blickte sie an und unsere Augen trafen sich einen Augenblick lang, wie wenn es etwas zu sagen, etwas zu besprechen geben würde. Ich erinnere mich noch sehr gut daran. Auch sie hatte sich fein gemacht mit ihrem langen Kleid, das ich noch nicht kannte. Sie führte uns ins Haus, setzte sich an den Flügel und spielte diese Komposition von dir mit einer Akkuratesse und Leichtigkeit, wie ich sie noch nie vorher gehört hatte[2]. Wir applaudierten stürmisch.
Doch was für eine Schwermut, was für eine tänzerische Kraft steckte in dieser Musik! Vielleicht hat sie gerade an diesem Abend und zu meiner Stimmung in diesem Augenblick genau gepasst. Wie wir alle gefangen sind in einem Bann, der uns aufrecht hält und nährt mit einem grausamen Zwang. Der uns trotz seiner harten Fesseln dazu aufruft wegzugehen, wegzufahren, wegzulaufen wer weiß wohin. Laufe, springe, fliege davon, blick nicht zurück, heißt es doch in einem deiner Gedichte.
Wir schauten auf den Vulkan in dem großen Bild von Régis Frank, das du hinter dem Flügel an der Wand hast aufhängen lassen. Der Vulkan leuchtete in die Nacht hinein, und wie vor einem Ausbruch glänzte die ganze Vegetation, die Umgebung, die Erde. Alles, was schön war um uns herum auf diesem Fest und in dieser Nacht, leuchtete plötzlich seltsam irrlichternd auf. Auch deine Worte, die du an uns wieder gerichtet hast – wie schön, geschmeidig und kunstvoll waren sie, als wenn sie alles hätten verbergen wollen und können, was an diesem Abend und in dieser Nacht gerade nicht ausgesprochen werden konnte.
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