11 Über Schönheit und Genuss
Über Schönheit und Genuss
Ich bin bei meiner Gellius-Lektüre der “Attischen Nächte“(ca.150 n.Chr.) auf einen Buchtitel des griechischen Meisterdenkers Chrysipp gestoßen (er war einer der Begründer der stoischen Schule) mit dem Titel “Über Schönheit und Genuss“. Schönheit und Genuss waren zwei wesentliche Werte in der Antike und sie sind es heute ebenso wieder (geworden). Denn spielen nicht Schönheit und Genuss eine wesentliche Rolle auch in unserem Alltag, selbst wenn wir es gar nicht bemerken?
Steht nicht Genuss in Form von Konsum und Konsumieren an erster Stelle in der Rangordnung unserer Werte? Und wie steht es mit dem Konsumieren des menschlichen Körpers?(das musste jetzt ja wohl kommen!) Konsum zum Genießen von Schönheit? Gar nicht fragen will ich nach der Schönheit der Körper oder Gegenstände, der Kleider und Artikel, die ihr begehrt, nach euren Muskeln (Entschuldigung), Haarfrisuren, Sprache, auch eurem Geist… Aber ihr seid ja gerade dabei, auch dieser Art von mentalem Bodybuilding zu frönen, damit die allgemeine Verkümmerung des Geistes nicht Überhand nimmt (Entschuldigung) und uns allen zusetzt. Jetzt reicht’s aber, höre ich euch durchaus verstimmt einwenden. Stimmt, es ist genug. Wechseln wir die Tonart!
Was ist Genuss anderes als Konsum? In Latein bedeutet “sumere” so viel wie “verbrauchen“, “verzehren”, “an sich nehmen“, und “con“bedeutet “zusammen, mit jemandem“. Also mit jemandem zusammen etwas “an sich nehmen, verbrauchen, verzehren”. Konsum befriedigt also vornehmlich sinnliche Bedürfnisse, im Idealfall auch nicht alleine. Doch was wird beim Sex verzehrt und verbraucht? Bis schließlich nichts mehr da ist? Was ist nicht mehr da? Womöglich unsere Lust-und Genuss-Organe, um nicht – wie bei den Handwerkern – von Werkzeugen zu sprechen?
Wohl gibt es jedoch auch geistigen Genuss, der vielleicht unerschöpflich ist und sich nicht so schnell verbraucht. Gute Kunst beweist sich immer dadurch, dass sie nicht oder nur wenig altert. Immer wieder lässt sich Neues finden, entdecken, entschlüsseln.
Zum Beispiel jetzt auch, wenn ihr diese Zeilen lest nicht nur um Begriffe zum Begreifen von Welt und Wirklichkeit zu finden, sondern um euch auch an stilistischen Feinheiten der Sprache oder an verstecktem Humor zu erfreuen. Und Freude ist doch eine Funktion von Genuss, oder?
Kann man auch das Leid genießen, die Schwermut, Regen und Sturm, körperlichen Schmerz und Leidenschaft? – Das wohl auch. Also schließt das Genießen körperliche wie geistige Tätigkeiten mit ein. Und es sucht nicht ausschließlich nur die Freude.
Doch ob man einen Text mit sprachlichen Dissonanzen, mit Widerhaken, Stolper-Fallen und Stil- Verführungen auch einfach nur konsumieren kann, wage ich zu bezweifeln.
Bei Konsum wird meist das Attribut “schnell” mit angehängt oder mit gedacht. Konsum geht schnell. Doch das Denken, das stockende Denken, Durchdenken, Grübeln, Wieder-und Nachdenken geht langsam.
Wäre also das Denken die Antithese zum Konsum? – Kaum. Denn beides geht. Es gibt lustvolles Denken und lustlosen Konsum. Es gibt lustloses Denken und lustvollen Konsum. Also gehen Lust und Geist, Denken und Konsum und Genuss zusammen. Alles geht!
Michel Foucault, ein wichtiger Vordenker der französischen Philosophie, ein Mann des Geistes und des Körpers hatte bei seinen Vortragsreisen durch die weite Welt auch seine Folter-und Fesselwerkzeuge mit dabei, um nach dem anstrengenden Denken und Reden sich mit seinesgleichen vergnügen zu können wie auch immer. Die Angelegenheit ist bei Zollkontrollen in Japan publik gemacht geworden. Einer seiner Jünger hat dem Meister in Paris schließlich kurz vor ( beider) Tod das Buch gewidmet: “Der Mann, der mir nicht das Leben gerettet hat”(wohl weil er ohne Schutz Geschlechtsverkehr hatte). Und Kant, der große Meisterdenker von Aufklärung, Geist und Vernunft, soll täglich masturbiert haben. Wenn man es glauben kann.
Doch wie finde ich jetzt vom Masturbieren, einer reichlich unappetitlichen Angelegenheit, wie ich denke ( oder auch nicht) den Übergang zurück zur Schönheit? Ganz leicht! – Auch Schönheit hängt mit Lust, und Lust mit Genuss zusammen. Nach Platon (“Phaidros“, ich werde immer wieder auf dieses Buch zu sprechen kommen) will das Schöne im Schönen zeugen. Ich muss euch also enttäuschen. Ich werde nicht konkret von schönen Frauen und männlicher Verfallenheit dann und wann berichten, sondern mich in den weiten Gefilden der antiken Abstraktion aufhalten. Bei der Idee des Schönen zum Beispiel, bei Schönheit als geistiger Abstraktion.
Zum Zeugen, auch kreativ werden, brauchen wir das Schöne, welches wir begehren. Und begehren kann sowohl geistig als auch körperlich sein. Doch der antike Gott des Zeugens, Eros, war ursprünglich kein Gott des Geistes, schon gar nicht der Vernunft. Eher einer des Körpers. Denn seine Mutter war die Liebesgöttin Aphrodite, sein Vater war der Kriegsgott Mars – Liebe und Zeugen, auch das kreative Erfinden hängen also sowohl mit Zärtlichkeit und Schönheit als auch mit Macht, Gewalt und Begehren zusammen. Und in der Umgebung des Liebesgottes waren so zwielichtige Gestalten wie Pan, Nymphen und Satyrn. Der große Meister Dionysos hatte sie alle im Griff, um zu seinen Mysterien und Ekstasen der Lust zu gelangen.
Nun hängt Zeugen im Allgemeinen immer mit Lust zusammen, selbst beim kreativen Akt. Und wenn man verliebt ist, egal ob in Töne, Worte oder Menschen, liebt man das Schöne. Selbst wenn das Schöne in den Augen anderer das Hässliche sein kann. Über die verwirrende Isosthenie der Allgemeinbegriffe, insbesondere der Ideen, habe ich bereits gesprochen.
Doch welche Funktion hat das Begehren in der Dichotomie von Schönheit und Genuss? Ist geistiges Begehren die Neugierde, der Drang nach Wissen, nach Wahrheit, Erkenntnis, mithin die Sehnsucht nach den Ideen, die uns als Menschen vom Gott Eros ebenso eingepflanzt, mitgegeben worden ist?
Das körperliche Begehren richtet sich nach der Art-und Selbsterhaltung, wobei erstere nach Meinung mancher Anthropologen im Vordergrund steht, selbst ohne dass wir es wissen. Nun ist aber die Arterhaltung nicht mehr notwendig an die Lust gekoppelt, im Gegenteil. Die Lust hat sich aus dem System der Arterhaltung spätestens seit Erfindung der Empfängnisverhütung ausdifferenziert und sie führt ein glücklich selbst bestimmtes Leben, nicht wahr, braucht keine Rücksicht mehr zu nehmen auf Schwangerschaft oder auch nur Geschlecht.
Doch warum gibt es Schönheit? Nur der Arterhaltung wegen? Ein schöner Mensch ist nur deswegen schön, weil er sich im Schönen fortpflanzen will, fortpflanzen muss zur Arterhaltung? Gut, die vielen hübschen jungen Leute in der Blüte ihrer Jugend, wenn man sie so ansieht…Sie scheinen nur das Eine im Sinn zu haben, Spaß und Vergnügen und Lust…Will diese Schönheit immer “genossen” werden? Das heißt, muss sie immer mit den Sinnen aufgenommen werden?
Gibt es auch eine geistige, das heißt auch unsinnliche Schönheit? – Nach Platon schon. Selbst die Liebe zu einem schönen Menschen soll zur rein geistigen Liebe der Schönheit als Idee, also als etwas Göttlich-Unkörperliches, und nicht zum Körper führen. Liebe zum Körper ist primitiv, den Tieren gemäß. Wie überhaupt jede Art von Gefühlshaftigkeit zwar menschlich, aber nicht immer zuträglich ist. Diese Idee ist vom Christentum aufgegriffen worden und es hat der allgemeinen Aggressivität des Menschen im Besonderen den Kampf angesagt. In Platons Staatsmodell gab es eine kleine Nische mit ausgewählten Menschen, die nur für die Arterhaltung zuständig waren. Hitler hat bekanntlich dieses Modell mit seinen Züchtungs-und Lebensborn-Experimenten nachzuahmen versucht.
Die Ideen von Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit sind für Platon Attribute Gottes, der die Idee des Guten repräsentiert, und sie bleiben somit überzeitlich gültig und beständig. Was aber, wenn die Sprache stirbt, die Gedanken Platons und vieler seiner Nachfolger nicht mehr gelesen, nicht mehr verstanden werden können? Sind wir nicht bereits soweit?
In der Wissenschaftstheorie spricht man von einer gelungenen (“schönen?”) “Theorie-Architektur”, in der Mathematik von vollkommenen Zahlen und schönen Strukturen samt deren Visualisierungen. Also existiert zumindest in diesem Bereich der Naturwissenschaft die Idee des Schönen weiterhin.
Doch mit diesem Schönen geht immer das körperliche Gefühl der Freude einher, und Freude ist nun einmal ein sinnliches Empfinden, ein Gefühl. Und Gefühle sind Ableitungen von Genuss, und geistige Gefühle kann es doch wohl nicht geben – sie wären ein Widerspruch in sich.
Die soziale Funktion von Wahrheit und Gerechtigkeit ist einsichtig. Nur die Schönheit, wenn sie zur Arterhaltung nicht mehr gebraucht wird, wozu ist sie gut? – Platon würde antworten: um uns zur höchsten Idee, der Idee des Guten, hinzuführen. Im Schönen begegnen wir dem Göttlichen rein geistig. Dieses Göttliche einfach nur genießen zu wollen, das wäre ein Frevel. (Auch die sexuelle Begegnung nur für eine Nacht ist deshalb manchen Zeitgenossen immer noch ein Frevel.)
Die Materialisten und Marxisten werden sagen: Schönheit ist gut, um die Kassen klinge(l)n zu lassen und um Zwängen freiwillig zu folgen, die von den Geld-Mächten dieser Welt uns auferlegt worden sind. Am besten ohne dass wir es bemerken würden. Alles soll wie selbstverständlich sein. Von unbekannten Mächten beherrscht werden, die über Sinn und Zweck von Schönheit zu philosophieren nicht bereit sind, weil sie diese Sprache gar nicht mehr verstehen oder verstehen wollen.Seufz.
Der tägliche Lippenstift, die Nass-Rasur, Haar-Gel, Löcher in den Punk-Hosen,Muskeltraining oder ONS lassen uns einem Zwang folgen und gehorchen, der von Außen gesteuert ist und uns glücklich macht, weil Genuss im Spiel ist, körperlicher Genuss.
Wir stehen vor den Spiegeln unserer Allmacht und Omnipotenz, die uns eingeredet wird, und versuchen uns heraus zu putzen, wie es nur geht. Wofür und für wen? – Doch nur für uns. Denn Narziss küsst und liebt nur sich selbst. Da es nicht mehr um Partnerfindung oder Arterhaltung geht (darüber später mehr), sondern nur noch um das Geliebt-, Bewundert-, Begehrt-Werden, unterwerfen wir uns jedwedem Zwang, sofern er auch noch öffentlich und publik wird und gefilmt werden kann. Denn dies definiert unser neues Ideal von Schönheit: ein auf den Bildschirmen unserer Massenmedien Wieder-erkannt-Werden, das Abgelichtetsein und Gepostetwerden wer weiß wohin und wer weiß von wem und womit und wozu.
So wie jetzt auch. Hinausgesendet werden meine Gedanken wer weiß zu wem und wohin. Ihr kennt mich nicht und ich kenne auch euch nicht. (Seufz) Auch ich bewege mich also in einem Zirkel, den ich sogar noch selbst gewählt habe. Ich gehöre weiterhin zu dem Kreis, den ich infrage stellen will. Also befinden wir uns in einem Labyrinth, wo noch nicht einmal der Minotaurus, den es zu bekämpfen gilt, sichtbar wird. Er hält sich geschickt versteckt. Auch der Ariadnefaden, der uns Wege nach Außen und in die Freiheit zeigen sollte, ist verloren gegangen.
Doch genug für heute und danke wieder für’s Mitlesen und Mitdenken!
P. S. Ich hänge das Literaturverzeichnis von Chrysipp an (282-209 v.Chr.), damit ihr einen Einblick habt, womit man sich früher geistig beschäftigt hat und wo wir heute stehen. Noch nicht einmal manche Fragestellungen sind uns in diesem Verzeichnis verständlich, geschweige denn die Antworten. Die Bücher dieses griechischen Philosophen sind alle verschollen.
Nur das Verzeichnis ist enthalten in Diogenes Laertius, “Leben und Meinungen berühmter Philosophen”, geschrieben im 3.Jahrhundert nach Chr.