88 Über Befreiung II
- Die Studentenbewegung
Ich muss mich des folgenden Textes wegen bei manchen von Euch entschuldigen. Er ist etwas lang geworden, umfangreich und vielleicht auch vielschichtig. Schon beim Text Nr.82 “Über Befreiung I”, die psychologische Kehrseite quasi der Medaille, hat sich abgezeichnet, dass es etwas Zeit brauchen würde mit Thema und Schreiben, Lesen und Verstehen. Doch mit dem nachfolgenden Text “Über Befreiung II” wage ich mich in’s Herz der Finsternis, um Joseph Conrad zu zitieren, der damit den Dschungel Zentralafrikas und den seiner Seele meinte (Hallo AR*!). Es geht nämlich um Politik, um die Studentenbewegung. Ich gehörte dazu. Es geht auch um Missverständnisse, Vorurteile und Fehleinschätzungen. Hallo JS!**
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I
Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts war ich ein engagierter Studentenführer im Allgemeinen Studentenausschuss (AStA) der Hochschule für Musik und Schauspiel Saarbrücken und deshalb auch als Vertreter der Studentenschaft Mitglied im Senat der Gesamt-Hochschule des Saarlandes. Ich war also mittendrin in den heftigen Wirren der Hochschul- und Tagespolitik, die international von den Universitäten ausgegangen waren und dort ihr Herz und ihre Keimzellen besaßen.
Im Studentenparlament meiner Musik-und Theaterhochschule gab es unterschiedliche politische Strömungen und Fraktionen. „Undogmatische“ linke Gruppierungen überwogen, aber es gab auch den CDU-nahen RCDS, die DDR-freundlichen „Spartakisten“, Jungliberale und andere. Grüne gab es noch nicht, ganz zu schweigen von rechtsorientierten Gruppierungen, deren Eltern man ja in der Studentenbewegung gerade aufs Heftigste bekämpfte. Man vermutete nicht ganz zu Unrecht überall noch versteckte Alt-Nazis: In den politischen Institutionen, den Parteien, in der Bürokratie ebenso wie in den Erziehungspraktiken der Familien oder in der allgemeinen Moral. Selbst im sexuellen Bereich setzte sich nur sehr langsam „Aufklärung“ durch. Nackte Frauen an den Plakatwänden der Stadt, geschweige denn in Unterhose posierende Männer wären vollkommen unmöglich gewesen.
Besonders gerne erinnere ich mich an die Fraktion der Maoisten im Studentenparlament mit ihrer kleinen roten Mao-Bibel, denn sie war dominiert von Schauspielern und Schauspielerinnen der Schauspielschule. Diese Spezies Mensch hatte trotz aller Aufregung, Hektik und Aggressivität der Zeit einen eher spielerischen Zugang zur Tagespolitik und zu so ziemlich allem in der Welt. Was wohl bis heute gilt und auch auf mich nicht nur gelegentlich zutreffen mag.
Ich selber gehörte keiner Fraktion an, wollte über den Parteien stehen und war deshalb, wie man später sagte, „undogmatisch“ – jedes Dogma, sei es von links, sei es von rechts, wurde einer Kritik unterzogen („hinterfragt“), bis es schließlich auf dem Müllhaufen der Geschichte verschwand. Ich kann also kein 68er gewesen sein, denn diese Spezies Mensch war alles andere als undogmatisch – sie waren als Antiautoritäre oft überaus autoritär (zum Beispiel nicht nur im Sexualverhalten Frauen gegenüber) und manchmal auch fanatisiert. Die Spontis waren jedenfalls ganz bald als eine Nachfolgegruppe geboren mit ihren grün-bunten Ideen, die sowohl links wie rechts sein konnten und es bis heute geblieben sind. In Italien nannten sie sich “Indiani Metropolitani” und sie hatten nichts mit den sexuellen Vorwürfen zu tun, die man heute fälschlicherweise den so genannten deutschen “Stadtindianern” in die Schuhe schieben will.
Gleichzeitig studierte ich, nur wenige Kilometer von der Musikhochschule entfernt, an der Universität des Saarlandes Philosophie. Besonders Karl Otto Apel hatte mich fasziniert, seine Persönlichkeit, sein Wissen, seine Thematik. Er bot Vorlesungen an, die alle Fakultäten betrafen und interessierten. Themen waren beispielsweise „Ethik in der modernen Industriegesellschaft“, „Wahrheit in der Psychoanalyse“, „Emanzipation als Wissenschaft?“ Apels Veranstaltungen mussten wegen Überfüllung in das Auditorium Maximum (Audimax) verlegt werden und er hatte eine große, auch internationale Hörerschar. Zusammen mit Jürgen Habermas ist er immer noch einer der international angesehensten Philosophen im Lager der Kritiker einer rein analytisch ausgerichteten „Philosophy of Science“.
II
Der politische Brand der Studentenbewegung war plötzlich und unvermittelt Mai 1968 in Paris ausgebrochen. In der internationalen Tagespolitik und jenseits der universitären Tiefen brodelte nämlich ein heftiger politischer Konflikt, ein „kalter Krieg“ zwischen West und Ost. Der Studentenprotest war so schlimm, dass sich die mittlerweile eng befreundeten Staatschefs Frankreichs und Deutschlands, Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, heimlich und per Hubschrauber zu einer spontanen Lagebesprechung in Straßburg getroffen haben, wie man dem politischen Studenten-Protest angemessen begegnen könne.
Geistiges Zentrum in Deutschland war Frankfurt, hier die Studentenzeitschrift Fuzzy, später Pflasterstrand genannt (daraus hat sich nicht zuletzt auch die Berliner taz später entwickelt). Politische Auseinandersetzungen gab es auch im eingesperrten Berlin, in Kalifornien mit seiner geistigen Hochburg Berkeley (nahe dem San Francisco der Hippies) – in vielen Städten der westlichen Welt berichtete man von Auseinandersetzungen und Demonstrationen. Schließlich gab es weitere und noch heftigere Straßenschlachten mit Verletzten und sogar einem Toten, Benno Ohnesorg, in Berlin. Dieser war 1967, das stellte sich erst viel später heraus, von einem Spitzel des ostdeutschen Staatsschutzes (Stasi) in westdeutscher Polizeiuniform auf einer Demonstration erschossen worden. Denn die Studentenbewegung – obwohl antikapitalistisch und äußerst systemkritisch – war auch dem DDR-Regime alles andere als sympathisch. Im Gegenteil. Man hatte Angst, berechtigte Angst vor Systemkritik.
Die Gesellschaftskritik der Studenten ging wesentlich von den Soziologie-Instituten der Universitäten aus und stützte sich vor allem auf Herbert Marcuses Kritik an der westlichen Gesellschaftsform, wobei dieser aber, der Tradition der Frankfurter Schule treu bleibend, östliche Alternativen definitiv ablehnte und ausschloss. Das heißt seine Kritik richtete sich sowohl gegen West wie gegen Ost, eine geistige Position, die viele nicht verstehen konnten. Wofür waren denn die Studenten? Wie sollte eine befreite Gesellschaft, eine neue Gesellschaftsordnung aussehen?
Selbst Marcuse wollte diese Ziele nach einer Umgestaltung der Gesellschaft nicht festlegen. Nach der „Revolution“ werde man die angemessenen neuen Lebensformen schon finden. Macht erst einmal kaputt, was euch selbst kaputt macht, hieß es plakativ in einem Song der Popgruppe „Ton, Steine, Scherben“. Musiker tendierten jedoch allgemein und unter dem Einfluss der US-amerikanischen Vorbilder (Woodstock) weniger zum radikalen Anarchismus als eher in Hippie-Richtung wie die meisten anderen Rockgruppen auch in Deutschland.
Rückendeckung erhielt Marcuse von den Psychologen der Frankfurter Schule. Ihre Forschungen über den autoritären Charakter und autoritäre Familienstrukturen hatten schon in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts zu dem niederschmetternden Ergebnis geführt, dass der autoritäre Charakter, die autoritäre Struktur allgemein unweigerlich zur Nazi-Persönlichkeit führten musste. Anti-autoritär zu sein war also gleichbedeutend mit anti-faschistisch und es war ein Weg in die richtige Richtung, wenn auch nicht klar war in welche.
Wohin mit der verlogenen Sprache der Werbung, ihrer Verführungsmöglichkeit, wohin mit dem Wirtschaftssystem und seinen Tendenzen zu Entfremdung und Ausbeutung sowohl physisch wie psychisch, hatte Marcuse gefragt. Wohin auch mit der Sexualität – ihre Unterdrückung (Repression) führt zu Deformationen im Charakter, in der Persönlichkeit, die diese empfänglich für autoritäre Strukturen selbst im Sinne der Nazis werden ließen. Ich wiederhole mich. “Selbstbefreiung” im Sinne von Freud und Psycho-Schulung kam parallel zu der politischen Zielsetzung einer Umgestaltung der Gesellschaft außerdem immer mehr in Mode und ist es – anders als die zeitkritische Thematik – bis heute geblieben (siehe Text Nr.82 “Über Befreiung I” im Blog).
Befreiung war auch das Schlagwort in vielen universitären Instituten und auf der Straße. In der Soziologie ging es um die Befreiung der unterdrückten Klassen, Völker und Minderheiten. Schließlich auch un die Befreiung der Frauen – der Feminismus war geboren. In der Psychologie wollte man sich von Verhaltensweisen befreien, die Neurosen und Charakterdeformationen verursachten. In der Pädagogik gab es die bahnbrechenden Experimente Alexander Neills, einem Freund Wilhelm Reichs, in Summerhill, in der politisch engagierten Kunst – überall tauchte das Wort „Befreiung“ auf.
In den politisierten philosophischen Seminaren, denn diese gab es auch, sprach man jedoch lieber gut marxistisch von „Emanzipation“ und diskutierte die Frage, ob Marx überhaupt ein Marxist gewesen sei – eher nein – und ob der Anarchismus mit dem Marxismus, Maoismus oder Trotzkismus überhaupt kompatibel sein könnte; ebenfalls nein. Leo Trotzki hatte nur vergleichsweise wenig Anhänger in der Studentenschaft. Er proklamierte die permanente Revolution, deren erschütternde Ergebnisse man später am Beispiel von Maos Kulturrevolution studieren konnte. Er selbst ist schon 1940 wegen seiner gegen jeden Dogmatismus sich wendenden Thesen einer “permanenten Revolution” von Stalin in seinem Exil in Mexiko ermordet worden.
III
In Apels Seminar kümmerten wir uns wenig um die Tagespolitik auf der Straße oder um Marcuses Befreiungsbibel „Der eindimensionale Mensch“. Es ging um Feinheiten und Freiheiten der aktuellen Philosophie, es ging nicht um Adorno in Frankfurt oder um das bedingungslose und zum Scheitern verurteilte „Wehrt euch“(das wurde ziemlich bald auch vor Gericht deutlich), sondern es ging um die Abgrenzung gegenüber Luhmanns Systemtheorie (der immerhin zusammen mit Jürgen Habermas ein Buch heraus gegeben hatte). Vor allem aber ging es um die anglo-amerikanische Sprachphilosophie, ihre Definition von Sinn und Unsinn im philosophischen Diskurs, und es ging um die neue wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit der Philosophy of Science.
Nicht die Frage, wie die Welt sein sollte oder könnte, also das Ziel jeder gesellschaftlichen Veränderung, auch Verbesserung, untersuchten diese eher naturwissenschaftlich orientierten Wissenschaftler, sondern nur wie die Welt ist. Dazu wurde auch die Sprache untersucht: Deine Sprache ist deine Welt (und umgekehrt). Dieser „Linguistic Turn“ der Philosophie, der von Wittgenstein und der anglo-amerikanischen Analytischen Philosophie ausgegangen war, wurde von den linken Theoretikern als untauglich, von politisierten Forschern sofort als reaktionär verworfen.
Der neue (Un-)Geist der Gegenwart hatte für die Linken noch einen anderen Namen: Neo-Positivismus. Der Begriff war ein Schimpfwort und “positiv” wurde auch ganz anders als heute verstanden. Es war ein Wiederaufleben des naturwissenschaftlich orientierten Positivismus des 19. Jahrhunderts: Nur die Oberfläche der Welt und ihre Probleme sollte wertneutral und im Namen von (Natur-)Wissenschaft, das heißt auch durch Messen und Rechnen und Statistik, beschrieben werden.
Mit den Methoden des Positivismus, geschweige denn des Neo-Positivismus war tatsächlich keine Revolution zu machen, die von geschichtlich notwendigen Abläufen und Zuständen sprach. Die wertneutrale Beschreibung von Strukturen und Formen sei für die Beschreibung einer Gesellschaftsform in ihrem Endstadium zu oberflächlich, kritisierte man. Sie kümmere sich nicht um die akuten politischen Probleme, etwa um die zahlreichen Toten des Vietnamkrieges, Hungersnöte, Unterschiede und Ungerechtigkeiten innerhalb der Klassen, Ethnien und Schichten.
Die sogenannte „Wertneutralität“ im Namen der wissenschaftlichen Wahrheitssuche (sie steht sogar als “Wertfreiheit” und Freiheit der Forschung im deutschen Grundgesetz) sei nur ein Vorwand und eine Täuschung zur Unterdrückung der arbeitenden und entfremdeten Bevölkerung. Wer bezahlt all diese “wertneutralen” Lehrer und Professoren, die sich nicht um das Wohl und Wehe der Bevölkerung kümmern? – Das Volk. – Und wofür? – Dass bessere Arbeits-und Lebensbedingungen herrschen, forderte man im Namen eben dieses Volkes, das keinen Zugang zu den universitären Zirkeln hatte.
Nicht geht es diesen Neo-Positivisten um Wahrheit, Erkenntnisrelativität und Methodologie, wurde kritisiert. Und nicht kümmerte man sich darum, wie die Welt sein sollte oder sein könnte, um utopische Ansätze und Kritik, sondern nur noch darum, wie Welt und Gesellschaft sind.
Wahrheit, Erkenntnis, Gerechtigkeit – all diese schönen und klugen Begriffe sind nur Begriffe der Mächtigen, um ihre Position zu festigen und nichts ändern zu müssen, sagte man. Einig war man sich zwar in der Ablehnung der östlichen Staatsformen und dass deren Philosophie, der dialektische Materialismus, den die Schüler der östlichen Welt auswendig lernen mussten wie eine Bibel, wissenschaftlicher Unsinn sei. Aber damit endete auch bereits der philosophische Konsens.
Die Schwachstelle der Revolutions-Fanatiker war demgegenüber nach Meinung der Gegenseite, also die der analytischen Sprachphilosophen, die marxistische Geschichtsphilosophie. Deren Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein sei vollkommener Unsinn. Geschichte ist gar keine Wissenschaft (siehe Text Nr. 20 “Über Wahrheit und Wissenschaft” im Blog). Sie kann nicht mit Zahlen, direkter Beobachtung und Messgeräten bewiesen werden. Es gibt kein wissenschaftliches Interpretieren (etwa der marxistischen Texte). Jede Interpretation ist subjektiv. Also lassen wir lieber diese pseudowissenschaftliche Vorgehensweise, die sich “Hermeneutik” nennt, und bleiben wir bei den Fakten. (Wobei das Verstehen des Begriffs “Fakten“, seine Definition, bereits ein typisch hermeneutisches Problem darstellt).
Es gibt auch keine Klassen und Klassengegensätze, die sich antagonistisch bekämpfen müssten bis schließlich das kommunistische Paradies daraus entstehen würde und so fort. – Auch die Sprache Heideggers und vieler anderer Philosophen wurde als rein literarische “Begriffsdichtung” nicht mehr akzeptiert. Selbst Platon wurde von Popper als protofaschistisch heftig abgelehnt.
Dass es dieser Art von unpolitischer Philosophie nicht mehr um Wahrheit oder Weisheit ging, sondern nur noch um die Unterstützung bestehender Machtverhältnisse selbst in den Weisheitstempeln der Universität, das war den Anti-Autoritären sehr schnell klar. Und dieses Denken wurde abgelehnt, ja bekämpft wie im Mittelalter im Universalienstreit, das heißt sogar mit Gewalt. Professoren der falschen Richtung wurden mit Eiern und Tomaten beworfen. Es herrschte höchste Alarmstufe. Ganze Institute mussten vorübergehend geschlossen werden. Ab einem bestimmten Punkt der Konfrontation wurden sogar Professoren, die nicht links genug waren – etwa Jürgen Habermas, der die protestierenden Studenten als “Linksfaschisten” bezeichnet hatte – beschimpft. Adorno in Frankfurt resignierte 1969 ganz und gab seinen Lehrstuhl ab.
IV
Und wie endete schließlich die Studentenbewegung, die eine soziologisch-philosophische und politische Kontroverse (Notstandsgesetzgebung, Bürgerrechte, Vietnam) auf die Straße getragen und zu Straßenschlachten geführt hatte? – Wie endete diese bis heute immer noch einflussreiche und lebendig-aktive Bewegung?
Positiv gesehen (jetzt “positiv” im gegenwärtigen Sinn verstanden) hat es als Folge eine Annäherung der gegensätzlichen philosophischen wie politischen Systeme in Ost und West gegeben. Die langjährige Vormacht der CDU als Regierungspartei war zu Ende. Willy Brandt (SPD) führte eine neue Politik der Ost-West- Annäherung ein, die schließlich den Zusammenbruch des östlichen Imperiums 1989 zur Folge hatte.
Gegenwärtig gibt es unter der Ägide der neuen Kreml-Herrscher in Russland jedoch den deutlichen Versuch einer Restauration des alten Sowjetimperiums. Es wiederholt sich genau das, was Horkheimer und Co. schon in den 30er Jahren postuliert hatten: Der autoritäre Charakter neigt zu faschistoidem Verhalten und er führt schließlich zu einem blindwütigen, auch selbst zerstörerischen Krieg. Die Fußspuren des Autoritativen sind immer blutig. Deshalb sollte jede Art von Macht kritisiert, zumindest hinterfragt werden dürfen. Dies ist und war schließlich die neue Stimme der französischen Anarcho-Philosophen seit 1989. Gleiches gilt m.E. gegenwärtig auch für den Schiiten-Sunniten Religionskrieg weltweit, insbesondere für die Stellvertreter-Kriege in Syrien oder dem Iran.
Führungspersönlichkeiten haben darüber hinaus immer eine bestimmte Charakterstruktur mit ihren Deformationen und Blessuren. Woraus sich ihr Verhalten erklären und prognostizieren lässt. Auch wenn diese meine jetzt vorgetragene Theorie in den 60er Jahren, vor allem auch in den Jahren des politischen Terrorismus danach, von den sogenannten Aktivisten als eine unzulässige Psychologisierung oder auch Psychiatrisierung (Hitler, Stalin) eines politischen Problems belächelt und abgelehnt worden wäre. Aber schon Platon hat über den Gegensatz von Theorie und Praxis nachgedacht und dennoch nicht – im Gegensatz zu Adorno – resigniert.
Negativ gesehen zerfielen die einzelnen politischen Positionen der Studentenschaft von 1968 alsbald in sich heftig bekämpfende Gruppen und sektiererische Grüppchen, die schließlich im Terror der RAF (Rote-Armee-Fraktion) und der italienischen Roten Brigaden mündeten. Diese desavouierten mit ihrem Fanatismus die ganze Studentenbewegung, die teilweise (einschließlich mir) doch eher nur naiv und idealistisch von einer neuen besseren und kriegsfreien Welt geträumt hatte und deren Hippie-Blütenträume von der harten Wirklichkeit überholt worden sind. Es ging darüber hinaus auch um L o v e vielleicht sogar im Sinne von Wilhelm Reich, und nicht um Attentate, Bomben oder Flugzeugentführungen.
Auf dem Stuttgarter Dornhaldenfriedhof gleich neben dem Waldfriedhof liegen drei dieser ….. RAF-Führer (mir fehlt an dieser Stelle ein passendes Attribut) begraben: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. 1977 hatten sich diese in Stuttgart-Stammheim inhaftierten Terroristen zu einem kollektiven Selbstmord entschieden, als ihre Lage ausweglos geworden war. Ensslins Vater, ein evangelischer Pfarrer aus Esslingen, habe ich auf der Debattier-Kanzel in der Stuttgarter Mensa Holzgartenstraße noch persönlich erlebt. Nebenbei: Seine Argumentation hatte uns junge Leute damals allesamt überzeugt. Sein Enkel, ein Kunstprofessor, wohnt jetzt nur wenige Schritte entfernt von mir in einem Nachbarhaus.
Ein anderes Idol der Studentenbewegung, Che Guevara, Guerilla-Kämpfer von Fidel Castros Gnaden, ist bereits 1967 im Dschungel von Bolivien erschossen worden.
V
Und wo stehen wir philosophisch heute, September 2014? – Es gibt gegenwärtig in den Akademien des Denkens drei führende philosophische Schulen mit Untergruppierungen. Es gibt immer noch und weiterhin die Analytische Philosophie (A), die naturwissenschaftlich ausgerichtete „Philosophy of Science“; vielleicht ist sie mittlerweile erweitert und entdogmatisiert worden durch Niklas Luhmanns Systemtheorie (Mein langes Gespräch mit ihm werde ich demnächst an dieser Stelle abdrucken).
Dann gibt es die Frankfurter Schule (B) weiterhin mit ihrer „Kritischen Theorie der Gesellschaft“, die zwar ihre alten Prämissen von politischer Wissenschaft, Gesellschaftskritik und Mitbestimmung/Konsens noch nicht ganz aufgegeben hat. Sie scheint jedoch im weiten Reich der analytischen Sprachphilosophie und Terminologie, welcher sie sich angeschlossen hat, vielleicht sogar hat anschließen müssen, verloren gegangen zu sein. Viele Wissenschaftler vermögen manchen Theorien und Erläuterungen etwa von Jürgen Habermas selbst im Sprachverstehen nicht mehr zu folgen. Andere Frankfurter Studentenschaftsführer, etwa Joschka Fischer oder Daniel Cohn-Bendit, sind weiterhin gesellschaftspolitisch engagiert bis in die bürgerlichen Parteien, Führungsgremien und Parteispitzen hinein.
Eine neue dritte Richtung hat sich mit den französischen Philosophen in den 80er Jahren gebildet (Schlagwort Postmoderne). Ausgehend von einem wissenschaftstheoretischen Anarchismus im Sinne des Schweizer Philosophen Paul Feyerabend, einem Nachfolger von Herbert Marcuse auf dessen Lehrstuhl in Berkeley, sind sie die Vertreter eines „undogmatischen“ Denkens geworden, welches Wahrheit nur von Fall zu Fall gültig sein lässt und deshalb auch keine Probleme damit hat, jeweils die Position A und dann auch wieder die antithetische Position B als richtig und wahr anzuerkennen. Dergestalt sind sie auch im Vorfeld der Jubelfeiern zur Französischen Revolution (1789-1989) zu heftigen Kritikern einer jeglichen Revolution und des links-dogmatischen Denkens geworden. Nicht zuletzt lassen sie sich auch vom künstlerisch orientierten Stil und Philosophieren Friedrich Nietzsches beeinflussen.
Sie haben mittlerweile einen weltweiten Einfluss in vielen Bereichen und sie werden sogar dank ihrer intellektuellen Brillianz in der Hochburg der Analytischen Philosophie, der Universität Cambridge, als Diskussionspartner akzeptiert. Nur nicht in Deutschland. Dort werden sie von manchen Vertretern – nicht jedoch von Habermas, Apel oder Luhmann – im Namen eines der Aufklärung verpflichteten und neo-modernen Denkens immer noch als irrational diskreditiert (vgl. dazu mein taz-Interview mit Jean Francois Lyotard über die “Wahrheit der Vernunft” im Blog Nr.19).
Die Namen dieser Philosophen brauche ich an dieser Stelle und in diesem meinen Blog wohl nicht mehr zu wiederholen.
Danke für’s Durchlesen!
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Es folgt im Blog Nr.89 eine Lektüreliste für diejenigen unter Euch, die des Lesens von Büchern noch kundig sind (Entschuldigung). Es wird von den vorgeschlagenen Texten wohl noch keine E-Reprints geben. Ihr werdet also das schwere Gewicht von Büchern, den Geruch vergilbter Antiquariatsseiten und das mühsame Umblättern von weiß gebleichtem Papier wohl oder übel doch auf Euch nehmen müssen.
* Mit AR tausche ich mich immer wieder über den Dschungel unserer Seelen aus. Sofern es das geben kann. Wenn nicht, dann wird etwas anderes mit im Spiel sein. Doch Afrika und der Dschungel und die Seele haben in meinem Leben und Denken immer wieder leitmotivisch eine sehr wichtige Rolle gespielt.
** JS ist mein Zahnarzt. Er schimpft über die “Alt-68er”, wozu er mich fälschlicherweise immer wieder rechnet. Und ich gerate mit ihm jedes Mal in einen Disput, zumal ich ihn vom Gegenteil zu überzeugen suche. Nein, als Musikstudent (u.a. Piano, Komposition, Dirigieren) war ich eher ein Hippie, kein Revoluzzer, wie man damals sagte. Viel zu ängstlich, viel zu vorsichtig! Die meisten Künstler verstecken sich vor Tränengaswolken und Wasserwerfern. Vergeblich. JS lässt sich nicht überzeugen. – Dergestalt lenkt er mich jedoch mit seinen ironischen Sprüchen und lustigen Provokationen durchaus von der Ernsthaftigkeit seines eigentlichen Unterfangens ab (ächz, was für ein Deutsch!), das ganz schön unangenehm und schmerzhaft sein kann (Ihr wisst was ich meine), so dass mir mittlerweile sogar die Besuche beim Zahnarzt Freude machen können. Wenn das keine gute und fortschrittliche Entwicklung ist!
Nr. 82 Uber Befreiung I (Psychoschulen)
Nr. 98 Uber Befreiung III (Coming Out, Sexualität)