90 Zahlengeheimnisse
Nikolaus von Kues (III)
Im Rahmen unserer gemeinschaftlichen Erkundungen und Forschungen über Nikolaus von Kues (1401-1464) und sein Anliegen, philosophische Sätze – soll ich sagen Wahrheiten? – in mathematischen Zahlen auszudrücken, füge ich an dieser Stelle einen Beitrag von SG ein, damit er nicht in den Kommentarspalten untergeht.(Die Kommentarspalte ist zur Zeit wegen der vielen Spams geschlossen).
Die Umwandlung von möglichst allem in Zahlen, bevorzugt in die Zahlen 0 und 1 (Digitalisierung), scheint gegenwärtig das dringendste Anliegen der international agierendenTechnokraten zu sein. Selbst in der Handlungstheorie der Soziolinguistik ist mittlerweile eines ihrer wichtigsten Forschungsgebiete: Wie man möglichst effektiv menschliches Handeln digitalisieren könne.
Das heißt, dass man (wer ist „man“?) dieses Handeln meist auch unwissentlich der Allmacht der Computer-Maschinen zu unterwerfen versucht. Das Handeln ist dergestalt dann leicht und unbemerkbar zu steuern, das heißt zu manipulieren, zu konditionieren. Damit meine ich nicht die allüberall anzutreffenden Cookies, sondern die Steuerung unseres Denkens, vielleicht sogar Fühlens, ohne dass wir es bemerken würden. Womit wir wieder bei meinem Thema wären. Aber darüber geht es an dieser Stelle heute weniger.
SG stellt das Thema Zahl und Zahlen aus einer anderen, metaphysischen (das Wort erlebt an dieser Stelle eine wirkliche Auferstehung!), fast schon mystischen Perspektive vor. Er geht davon aus, das gewisse Zahlen wie etwa die Chaitin-Konstante „tiefere Geheimnisse enthalten könnten“. Er reaktiviert die uralte Idee also, dass Zahlen das Wesen oder die Wahrheit von physischen Dingen enthalten könnten.
Für Cusanus ist die Eins unbezweifelbar die Drei – ich schreibe sie sogar ganz im Sinne der Geisteswissenschaften schon mit Buchstaben – und umgekehrt, womit mathematisch sogar bewiesen werden könne, dass Gott auch in drei Personen existieren kann.
SG schreibt:
“In einem gewissen Sinn enthält die Chaitin Konstante Antworten auf alle Probleme, die sich mittels einer endlichen Folge von Schlüssen aus einem Satz von Axiomen lösen lassen. Zudem kann gezeigt werden, dass sie diese Information in der dichtest möglichen Form enthält. Leider kann aber auch bewiesen werden, dass sie unberechenbar ist. So exotisch ist manchmal Mathematik: Wir wissen, dass es die Zahl gibt. Wir wissen, dass sie Antworten auf unendlich viele Probleme enthält. Und wir wissen, dass wir sie niemals kennen werden.
Die Idee, dass bestimmte Zahlen das Wesen oder die Wahrheit von physischen Dingen enthalten, war ja seit der Antike populär. Noch Kepler war ganz begeistert, als er meinte, entdeckt zu haben, dass die Bahnen der Planeten im Sonnensystem sich wie ineinander geschachtelte platonische Körper verhalten (Tetraeder, Würfel, Oktaeder, Ikosaeder). Er hielt dies für wichtiger als seine heute noch gültigen Gesetze über die Planetenbewegung.
Noch heute liest man in esoterischen Büchern von dieser “Himmelsharmonik” oder “Sphärenmusik” und ich meine mich zu erinnern, dass einige moderne Komponisten dies gern für wahr genommen haben.
Ansonsten ist heute die Idee, dass bestimmte besondere Zahlen oder Zahlenverhältnisse eine tiefere Bedeutung haben, nicht mehr verbreitet.
Ich fand es deshalb in meinem Studium kurios, dass ausgerechnet in der Mathematik, genauer der Informationstheorie, in den 70er und 80er Jahren Zahlen beschrieben wurden, die in ungeheurer Dichte unendlich viele Wahrheiten verschlüsseln.
Das bekannteste Beispiel ist die Chaitin Konstante. Es ist ziemlich schwierig nichtmathematisch zu erklären, was sie ist. Deshalb hier zwei Zitate aus der einzigen teilweise allgemein verständlichen Veröffentlichung, die ich auf die Schnelle im Internet gefunden habe:
“Omega … embodies an enormous amount of wisdom in a very small space … in as much as its first few thousand digits, which could be written on a small piece of paper, contain the answers to more mathematical questions than could be written down in the entire universe.”
“Throughout history mystics, philosophers have sought
a compact key to universal wisdom, a finite formula or text
that would provide the answer to every question. The use of
the Bible, the Koran and the I Ching for divination and the
tradition of the secret books of Hermes Trismegistus and the
medieval Jewish Cabala exemplify this belief or hope.
Such sources of universal wisdom are traditionally protected from
casual use by being difficult to find as well as difficult to un-
derstand and dangerous to use, tending to answer more quest-
ions and deeper ones than the searcher wishes to ask.
The esoteric book is, like God, simple yet undescribable. It is om-
niscient, and it transforms all who know it. The use of clas-
sical texts to foretell mundane events is considered supersti-
tious nowadays, yet in another sense science is in quest of its
own Cabala, a concise set of natural laws that would explain
all phenomena.
In mathematics, where no set of axioms can
hope to prove all true statements, the goal might be a concise
axiomatization of all “interesting” true statements. Ω is in many senses a Cabalistic number. It can be known
of through human reason, but not known. To know it in detail
one must accept its uncomputable sequence of digits on faith,
like words of a sacred text.”
This is Martin Gardner’s and Charles H. Bennett’s
revised version of a passage from Bennett’s paper
“On Random and Hard-to-Describe Numbers,” 1979.
http://plus.maths.org/content/os/issue37/features/omega/index
Danke SG für diesen Ausflug in die Mathematik. In die Platonische Akademie durfte nur eintreten, wer Mathematik konnte. So exotisch scheint mir die eben beschriebene mathematische Inkontingenz nicht, eher schon paradox. Sie erinnert mich in gewisser Weise an Maurice Blanchots Roman „Warten, Vergessen“, wo der Protagonist auf der Suche nach dem einen Wort ist, das alle anderen Worte einzuschließen vermag, um es dann – zu vergessen!*
Als wenn man durch das Vergessen dieses einen Universalbegriffs Welt, Liebe, Menschheit vergessen und unsichtbar machen könnte.
Aber Maurice Blanchot war kein Naturwissenschaftler, geschweige denn ein Mathematiker. Er war schlicht ein Surrealist im Paris der 30er und 40er Jahre. Und Ihr wisst vielleicht mittlerweile,was die Surrealisten bis auf den heutigen Tag beabsichtigten. Entgegen manchen Vermutungen gehöre ich nicht dazu.
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* Ich habe diesen Text von Maurice Blanchot als Vorlage zu meiner “Landschaft mit Martyrium der Heiligen Katharina” genommen. Das Buch ist eines der besten, das ich je geschrieben habe. Es ist vielleicht sogar mein Lieblingsbuch. Auch wenn es nur wenige verstehen und die FAZ abgelehnt hat es zu rezensieren. Auch wenn mich Gerhard Stadelmaier, seines Zeichens Feuilleton-Redakteur der Zeitung, aus meiner Arbeit an der StZ gut gekannt hat. Es verwendet ein Denken und eine Sprache, wie sie im Deutschland des preußisch-protestantischen Rationalismus nur wenig bekannt ist.
Das Buch gibt es noch nicht als E-Book und es reicht, nur wenige Seiten daraus täglich zu lesen. Irgendwo darin zu beginnen und auch wieder aufzuhören.
Inhaltlich schildert und beschreibt es die Pilgerschaft eines jungen Paares nach Santiago de Compostela. Im Zentrum steht aber, parallel zu einer realistischen Beschreibung des Pilgerweges, das Sprechen- bzw. Nichtsprechen-Können des jungen Paares, das auch ein Nichtlieben-Können einschließt. Obgleich Begehren und sexueller Kontakt möglich sind.