179 Wieder gelesen: Catull
Ich veröffentliche an dieser Stelle ältere Aufsätze, die von unbekannten Lesern wieder angeklickt und mir in die Erinnerung zurück gerufen worden sind. Ich studiere diese Texte gerne noch einmal, untersuche ihre Aktualität und verbessere wenn nötig.
Nachwort zur Sexualtheorie
Mein sechster Catull-Aufsatz im Blog Nr.77 befasste sich fast ausschließlich mit der Beziehung der Männer untereinander. Es geht dort um Liebe, Freundschaft, Begehren und die Abgrenzung der Begriffe untereinander in Bezug auf das männliche Geschlecht. Wie war es in der Antike, wie ist es in der Gegenwart.
Es geht mir, dies als wichtige Vorbemerkung, nicht darum, wer mit wem Sex haben darf. Kinder miteinander, Alte mit Alten, Kinder mit Alten, Büroangestellte mit Strichern oder im Bordell, gleich- oder gegengeschlechtlich, das regeln jeweils Normen und Gesetze einer Kultur. Wobei ich mich meist aus gesundheitlichen oder psychohygienischen Gründen für eine Befreiung der Sexualität in gewissen Grenzen und gegen Unterdrückung von erotischer Energie, d.i.auch Lebensenergie, ausspreche.
Mir geht es eigentlich mehr nur um das uralte philosophische Problem der Lust. Nicht ob man Lust haben darf, sondern warum, wozu man Lust – heute nennt man es meist eher Spaß – haben soll. Ob diese Lust neben dem Nutzen für die Person auch eine Unfreiheit, einen Zwang, eine Verfallenheit, eine Sucht einschließen kann. Und dann wird die ganze Angelegenheit auch schon problematisch.
Alle Weltkulturen setzen sich mit dem Phänomen der Lust auseinander. Die einen, etwa die Buddhisten oder Taoisten, auch das antike Christentum, plädieren für Zurückhaltung bis hin zur Askese.Die anderen, etwa die antiken Hedonisten, indischen (Kamasutra-) Hinduisten oder auch manche Zeitgenossen unserer westlichen Welt sind eher für eine Befreiung der Lust. Heute, in unserem jetzt doch so brüchigen und auch fragwürdigen Zustand von Luxus und Überfluss, würde man mehr einschränkend sagen: man ist für eine Differenzierung, für eine Subtilisierung, für eine Verfeinerung der Lust. Damit ist wohl die gesamte TV-Bevölkerung einverstanden. Die Wenigsten nur sind für Askese.
Wenn die Lust dem Du, der Beziehung, der Vertiefung einer Beziehung, der Hilfe, der Treue, der Liebe auch im geistigen Sinne nützt (ich habe immer wieder darüber geschrieben), d.h. wenn Lust im sozialen und nicht nur im rein animalischen, das heißt auch positiv gesehen im egoistischen Sinne der Selbst- und Arterhaltung verwendet wird, dann ist sie unbedingt notwendig und nützlich. Biologistisch gesagt ist sie nämlich ein Belohnungsfaktor des Lebens, sie dient der Arterhaltung. Wenn Lust jedoch Egoismus, Unterdrückung, Unfreiheit und unfreiwillige Beherrschung unterstützt, dann ist sie m.E. schädlich.
In Bezug auf die Frauen oder auch der Frauen untereinander haben diese Erörterungen und Begriffe jedoch oft eine ganz andere Bedeutung, wie ich glaube.
Liebe und Lust unter Frauen gibt es, und sie bedeuten m.E. etwas ganz anderes als Liebe und Lust unter Männern. Ich denke sogar, dass Frauen über die Liebe unter Männern, würden sie sie kennenlernen oder sogar mitmachen müssen, eher befremdet wären, um mich einmal vorsichtig auszudrücken. Ebenso wie sich die Männer die subtileren und weniger animalischen Liebes-Formen der Frauen meist gar nicht vorstellen können. Oder auch nicht wollen.
Dass die Vorstellungen von körperlichem Begehren oder geistiger Zuneigung und Verbundenheit in beiden Fällen jedoch weit auseinander gehen, dürfte offensichtlich sein. Zumal sich der neue und modische Begriff des Sexismus, ein Begriff, den der Feminismus ins Spiel gebracht hat, immer wieder in den zeitgenössischen Diskurs hinein geschlichen und eine einvernehmliche Lösung der Probleme bislang verhindert hat. Auch wenn die feministische Dogmatik mittlerweile immer mehr in Frage gestellt wird, wie ich glaube, und dies gerade von den Frauen.
Kompliziert oder komplexer wird die Angelegenheit jedoch dadurch, dass ich mich als ein beschreibender Beobachter in der Welt der Künstler bewege und aus dieser Perspektive schreibe, denke, berichte. Dass also meine Ergebnisse sehr subjektiv nur auf einen bestimmten Menschenkreis beschränkt sein können wie alles in unserer Welt. Jeder strukturiert die Welt aus seinem Blick, aus seiner Perspektive, aus seinem Wissensvorrat der Begriffe, der Erfahrungen.
Ich kenne keinen einzigen Künstler in meiner persönlichen Umgebung, der nicht zur Männerliebe fähig wäre einschließlich mir. Aber ich kenne jedoch nur sehr wenige dieser Spezies Mensch, welche den latent homosexuellen Charakters dieses Aspekts zu einer Realität haben werden lassen. Die meisten – wie ich – wissen oder wussten noch nicht einmal davon. Selbst Verliebungen von Männern in mich habe ich nicht bemerkt, weil sie nicht in meinem Blickfeld der Möglichkeiten als einem verheirateten Ehemann lagen, und wenn, dann erst viel später, als alles – also die Begegnung, die eine Beziehung war, ohne dass ich es bemerkt hätte – bereits wieder vorbei war.
Alles läuft letztlich auf Beziehung, auf Mögen und Nicht-Mögen, also auf Emotion hinaus. Nur einige wenige Sekunden einer positiven wohlwollenden Neigung können schon ausschlaggebend für den weiteren Lebensweg werden. Das gilt auch und vor allem für den Bereich von Beruf und Arbeit. Wieviele solcher Lebens-Entscheidungen waren positiv für mich, weil dem Gegenüber meine blauen Augen oder wer weiß was gefallen hatte oder weil die Person sich gar in mich verliebt hatte, ohne dass ich es bemerkte hätte.
Wie ich schon an anderer Stelle geschrieben habe, sind nach Freud alle Menschen mehr oder weniger ausgeprägt alles: zoophil, homophil, Vater-und Mutter-Mörder, Kinderschänder, Selbstzerstümmler etc. Man braucht nur unsere Nacht-(Alb)-Träume anzuschauen oder in die Tiefen unseres Unterbewusstseins oder unseres Es einzutauchen. Doch nur das Wenigste wird zur Tat, zur Wirklichkeit. Erfreulicherweise, muss man wohl sagen – das ÜberIch steht dem im Wege und andere Tricks, welche uns von der Verhaltens-und Lerntheorie oder zahlreichen anderen, sich sogar widersprechenden Theorien erklärt worden sind.
Nun sind Künstler eine besondere Spezies Mensch: mutiger, neugieriger, labiler, offener als Normalsterbliche. Sie müssen es auch sein, sonst könnten sie keine Kunst machen. Denn der Gott des Lebens, also letztlich des Liebens und Zeugens, Eros, ist in den Liebenden, wie Platon schreibt, und nicht in den Geliebten. Thomas Mann hat dies in seiner Novelle “Tod in Venedig” sehr kunstvoll und philosophisch im Sinne von Platons “Phaidros” auszuführen versucht.
Seine Künstler wie Gustav von Aschenbach alias Gustav Mahler sind also Dauer-Liebende, das heißt manchmal auch Dauer-Verliebte, auch wenn Thomas Mann dies negativ als Entwürdigung und Verfallenheit sieht. Sie sind keine nüchtern distanzierten Normalos, eher das Gegenteil, welches – Entschuldigung – bis zum Wahnsinn gehen kann. Ihre Kraft, Energie und Kreativität gewinnen sie gerade aus dieser Tatsache, die sie auch besonders empfänglich für Gefühle und Sinnlichkeit macht. Deshalb sind sie vielleicht auch sexuellen Fremdartigkeiten gegenüber aufgeschlossener als andere Menschen.
Das bedeutet nicht, dass sie rein homo- oder heterosexuell wären. Auch der Begriff bisexuell scheint mir in diesem Fall fehl am Platz. Sie sind einfach alles zusammen, wofür es in unserer Kultur noch keinen Begriff gibt. Heterosexuell den Homosexuellen gegenüber, homo-den Heterosexuellen gegenüber.
In der Antike war dies scheinbar anders und doch auch wieder ähnlich. Denn die menschliche Natur bleibt sich gleich. Zu Platons Zeit musste ein junger Mann der Oberschicht und Aristokratie (wie Platon selbst) einen älteren Geliebten haben, der ihn quasi in das Erwachsenenleben einführte. Um besonders attraktive Knaben schwirrten zahlreiche Liebhaber herum. Selbst Cicero schreibt in einem Atticus-Brief, dass er um seinen Sohn Marcus mittlerweile Angst habe. Die Sklaven, welche die Jungen zur Schule oder in die Sportstätten brachten, mussten besonders aufpassen, dass kein Kontakt mit Liebhabern statt fand. Und im Athen Platons war der Besuch von Erwachsenen in Schulen oder Sportstätten bei Todesstrafe, man kann es kaum glauben, verboten.
Unter dem wachsenden Einfluss der Platonischen Spät-Philosophie war die Knabenliebe jedoch in der weiteren Antike, wenn auch vergeblich, nicht gerne gesehen. Zumal der alternde Platon in den “Gesetzen” sein Verdikt über diese Art der Sexualpraxis ausgesprochen hatte (“widernatürlich“), das trotz aller Widerstände bis in die Gegenwart gilt.
Andererseits erwartete man aber auch von eben diesen Männern – und eben solche waren auch Herrscher wie Caesar oder Augustus -, dass sie allmächtige Familienväter wurden und blieben mit Kindern (dazu gehörten immer auch Adoptivkinder) und Kindeskindern. Doch was man sich unter der Knabenliebe genau vorzustellen hat, ist reichlich unklar. Platon akzeptierte letztlich und unterstützte selbst in seinen jüngeren Jahren des “Phaidros” (siehe Blog Nr. 22) oder im “Symposion” scheinbar nur rein geistige Kontakte ohne körperliche Nähe.
Doch mittlerweile, wir betreten reichlich verunsichert und zweifelnd bereits das dritte Jahrtausend, wollen uns die jeweiligen Fraktionen für ihren Bereich und ihr Anliegen vereinnahmen. Bist du nicht homo-, dann bist du hetero, bist du beides, dann bist du bi. Und nichts von den Dreien kannst du nicht sein. Also entscheide dich, lege dich fest, vertraue deinen Ratgebern und ziehe klare dogmatische Grenzen um deinen Bereich.
Warum gehen wir in der gegenwärtigen Diskussion über den Umgang mit Homosexualität in der Schul-Pädagogik nicht davon aus, dass wir alle alles sein können und dass gleichwohl dieses Alles nicht unbedingt gefördert weil bevorzugt werden muss? Das würde die Diskussion um ein Vielfaches einfacher werden lassen. Wenn wir alles sind, dann können wir und die Kinder auch zu allem verführt werden, das Schreckgespenst der Gegenwart. Darüber müsste geredet werden.
Doch wofür plädiere ich? Ich schreibe und vergleiche immer wieder diese Welten und Gegensätze, um die Relativität der Sitten und Gebräuche zu unterstreichen und die Interessen zu hinterfragen, die diese Sitten und Gebräuche entstehen oder haben entstehen lassen. Ich enthalte mich des Urteils, entwickle jedoch gerne Isosthenien (Gleichwertigkeiten), die dogmatische Positionen auflösen können.