94 Wittgenstein II
Tractatus logico-philosophicus (SG)
Zur Vertiefung und auch zum Kennenlernen einer besonders eigenwilligen Sprache füge ich an dieser Stelle eine Zitatensammlung von SG ein, die er mir gesandt hat. Ludwig Wittgenstein ist einer seiner Lieblingsdenker. Der Stil dieses führenden Philosophen der Naturwissenschaften (vielleicht zusammen mit Karl Popper) wird vielen Lesern meines Blogs ebenso fremdartig, unverständlich und seltsam erscheinen wie andere Texte auch an dieser Stelle.
Es geht um den frühen Wittgenstein, um seine Vorstellungen von Wahrheit, wissenschaftlichem Denken in Abgrenzung zum „Unsinn“ (den ich Euch zuweilen nahe zu bringen versuche!?), vielleicht auch von Weisheit, wie sie von der anglo-amerikanischen Philosophy of Science und dem logischen Empirismus bis auf den heutigen Tag übernommen worden sind.
Es ist der frühe Wittgenstein des Tractatus, ein Kultphilosoph der 60er und 70er Jahre für alle, die mit Naturwissenschaft und der Philosophie der Naturwissenschaften zu tun hatten. Ich schätze mehr den späten Wittgenstein der „Philosophischen Untersuchungen“. Das heißt den Wittgenstein des Relativismus, der Pluralitäten und damit auch den Wittgenstein der Einsamkeit, Andersartigkeit und Fremdheit. Gleichwohl ist der Erfinder des Tractatus einer der Lieblingsphilosophen von SG.
Wer in homosexuellen Treffpunkten incognito verkehrte wie Wittgenstein im Wien um die Jahrhundertwende, wird sich sehr schnell der Relativität der Lebensformen bewusst geworden sein. Dass Wahrheit und Weisheit eine Sache, dass Liebe und Begehren und Körper eine andere Sache sind, die ihr Recht wollen und eine ebenso große Vielfalt besitzen wie die Disziplinen der Naturbetrachtung, der Naturbeherrschung.
Ich habe im letzten Blog Nr.92 und an anderer Stelle* von Soziotopen gesprochen, von gesellschaftlichen Gruppen und Populationen, die sich so fremd, sprachlos und unfähig zum Verstehen, zur Verständigung gegenüber stünden wie in der Tierwelt die Elefanten und Löwen und Schlangen, die Ameisen, Vögel und Fische. Wir erleben dies alle Tage, besonders jetzt in den Bürger- und Religionskriegen unserer geplagten Welt.
Was ist die Schnittmenge, dass wir doch miteinander leben, miteinander sprechen können? Die Menschenwürde, antwortet das Christentum, und sie wird durch die Menschenrechte politisch definiert, legitimiert. Aber eben diese Würde wird fast tagtäglich mit Füßen getreten, mit Gewehren und Panzern bekämpft, mittlerweile sogar als eurozentrisch dikreditiert**.
Wittgenstein ist auch ein Gottessucher, ein Mystiker gewesen. Ein Philosoph, der auf dem Weg der Naturwissenschaften an eben diese Grenze auch des Nichtsagbaren und Unaussprechlichen gekommen ist. Neuere Publikationen über ihn und sein Leben bestätigen meinen Eindruck: Entgegen seinem Wunsch war er mehr ein Künstler als ein Wissenschaftler wie so viele andere Philosophen auch. Das heißt er war ein Literat, ein Schriftsteller, der sich um Wahrheit und Weisheit gekümmert hat, eben ein Philosoph im Sinne von Lyotard und anderen. Und er war, Foucault ähnlich, ein Mensch des Körpers, der vielleicht eine geistige Sinnlichkeit oder eine sinnliche Geistigkeit als Sublimation gesucht und gefunden hat.
Mittlerweile ist Wittgenstein zu einem wirklichen Kultphilosophen im angelsächsischen Raum geworden. Es gibt eine gewinnträchtige Wittgenstein-Industry, es fehlen nur noch die Devotionalien-Anhänger. Ohne Wittgenstein gäbe es nicht das Fach Linguistik samt Psycho- und Sozio-Lingistik an den Universitäten. Auch die ethnologischen und ethnografischen Sprach-Forschungen sind ohne ihn nicht zu denken. Ganz zu schweigen von dem weiten Feld der Sprachphilosophie oder Niklas Luhmanns Publikationen.
In seinem Namen wird die Fahne von Rationalismus und „sinnvollem Denken” weiterhin hochgehalten, als Dogmatik weiter ausgebaut und gefestigt (logischer Positivismus, Behaviorismus). Nur die Naturwissenschaften verkünden Wahrheit mittels sinnvollem Denken, behauptet diese Fraktion der Rechtgläubigen, nicht die Geistes-oder gar Sozialwissenschaften einschließlich Freud. Hochgehalten wird diese Fahne gegen alle Zersetzungsmanöver der postmodernen Philosophie, die schlechterdings alles relativieren will und sogar in Cambridge, Wittgensteins langjährigem Wirkungskreis, das Grab einer jeden wahren Wissenschaft in der Gestalt von Jacques Derrida mit seiner umstrittenen Ehrendoktorwürde geschaufelt hat.
Ich denke, selbst Habermas und Apel würden sich heute eher für Wittgenstein als für Derrida entscheiden. Sie halten ebenfalls noch die Fahne der Moderne, der Aufklärung hoch. Auch wenn Habermas mittlerweile von einer „Revision der Moderne“, also einer „Aufklärung über die Aufklärung“ spricht und sich sogar mit Derrida (ebenso auch Luhmann) auseinander gesetzt hat.
Die Zitatensammlung trägt die Handschrift von SG. Es ist seine Brille, wie er Wittgenstein liest, versteht, auswählt und interpretiert. Aber nicht nur stimmt der Satz, andere Menschen leben anders, sondern auch andere Menschen denken anders (John Cage). So auch SG, so auch RU. Ich sehe Wittgenstein aus einer anderen Perspektive: eher aus der des Existenzialismus, der Einsamkeit und Fremdheit, die gleichwohl auch das Denken der Naturwissenschaften und ihrer Philosophie (z.B. die Mathematik) in ihre Grenzen gewiesen hat.
Eine große Rolle bei der journalistischen Vereinnahmung von Wittgensteins Person spielt natürlich seine Biographie: Reiches Elternhaus in der Wiener Oberschicht um 1900, kulturell einflussreich und bedeutsam nicht nur durch die großzügige Unterstützung von Malerei und Architektur. Auch die Musik war omnipräsent: Im Palais Wittgenstein versammelten sich Koryphäen wie Johannes Brahms, Clara Schumann und Gustav Mahler. Maurice Ravel hat für Wittgensteins einarmigen Bruder Paul sein berühmtes „Klavier-Konzert für die linke Hand“ geschrieben. Drei seiner neun Geschwister sind durch Suizid ums Leben gekommen. Die sexuellen Eskapaden der Familie…
SG:
Lieber Reinhold Urmetzer,
Ich schicke Ihnen hier ein paar Zitate aus dem Tractatus, die deutlich machen, wie gründlich Wittgenstein vom logischen Positivismus missverstanden wurde.
Ich habe das Buch vor dreißig Jahren zerlesen und damals kannte ich in der Tat das halbe Buch auswendig. Letzteres hat aber gar nichts mit meinem besonderen Interesse am Tractatus zu tun, sondern damit, dass ich damals noch ein Gedächtnis hatte, von dessen sich auflösenden Bruchstücken ich noch in der tumbem Gegenwart meine Debatten bestreiten kann.
Gleichwohl ist der Wittgenstein des Tractatus tatsächlich ein Wahlverwandter von mir. Die Kongruenz der Erkenntnisse und Meinungen ist erstaunlich hoch. Die wichtigste: Wenn ich im Folgenden in ein paar Zitaten (aus dem Internet, nicht aus dem Gedächtnis) den strengen, mathematisch und philosophisch präzisen Denker dem Mystiker entgegenstelle, will ich damit nicht ausdrücken, dass er verschiedene Facetten hatte. Vielmehr ist entscheidend zu verstehen, dass beides eine Einheit im strengsten denkbaren Sinne ist, sonst hat man weder ihn noch mich verstanden.
Das Zweite ist, dass Erkenntnisse wie die der negativen Theologie relativ banal sind, da sie für jeden Gegenstand der Erkenntnis gelten. Beides kommt komprimiert im Vorwort des Tractatus zum Ausdruck:
Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. (…)
Dagegen scheint mir die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben. Und wenn ich mich hierin nicht irre, so besteht nun der Wert dieser Arbeit zweitens darin, dass sie zeigt, wie wenig damit getan ist, dass die Probleme gelöst sind.
Das Dritte ist: Wittgenstein ist (fast) kein Mystiker in seiner Schrift (da er hier nur die Möglichkeit der Mystik offenhält). Er war es durch sein Leben. Es gibt keine mystische Erkenntnis.
Der Satz, den ich Ihnen hingeworfen hatte, war zu finden in
6.522
Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.
Sicher, das ist für alle logischen Positivisten unverdaulich. Aber man sollte es sich nicht zu einfach machen. Was meint Wittgenstein denn hier mit zeigen und mit mystisch? Hierfür ist erhellend
4.022
Der Satz zeigt seinen Sinn. Der Satz zeigt, wie es sich verhält, wenn er wahr ist. Und er sagt, dass es sich so verhält.
4.12
Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemein haben muss, um sie darstellen zu können – die logische Form.
Um die logische Form darstellen zu können, müssten wir uns mit dem Satze außerhalb der Logik aufstellen können, das heißt außerhalb der Welt.
4.121
Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm.
Was sich in der Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen.
Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken.
Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit.
Er weist sie auf.
4.1212
Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden.
Auch das Reden von “in der Welt” und “außerhalb der Welt” bedarf der Präzisierung und Erdung, indem man sich den Gebrauch anschaut.
5.6
Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.
Diese Bemerkung gibt den Schlüssel zur Entscheidung der Frage, inwieweit der Solipsismus eine Wahrheit ist.Was der Solipsismus nämlich meint, ist ganz richtig, nur lässt es sich nicht sagen, sondern es zeigt sich.
Dass die Welt meine Welt ist, das zeigt sich darin, dass die Grenzen der Sprache (der Sprache, die allein ich verstehe) die Grenzen meiner Welt bedeuten.
5.621
Die Welt und das Leben sind Eins. (Das ist einer der wenigen echt mystischen Sätze, der insofern inkonsequent ist.)
5.63
Ich bin meine Welt. (Der Mikrokosmos.)
5.632
Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.
6.431
Wie auch beim Tod die Welt sich nicht ändert, sondern aufhört.
6.4311
Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht.
Aber der Hauptgegenstand des Buches ist natürlich zunächst die Welt, das Aussprechliche, das Sagbare. Und hier haben wir beide (Sie und ich) unsere fundamentalen Gegensätze (Das Adjektiv ist genau richtig: Ich halte Ihre Meinung nicht für anders, sondern ganz fundamentalistisch für falsch. Bin ich deswegen terrorismusverdächtig?).
Die wichtigsten Hammerschläge:
4.113
Die Philosophie begrenzt das bestreitbare Gebiet der Naturwissenschaft.
4.114
Sie soll das Denkbare abgrenzen und damit das Undenkbare.
Sie soll das Undenkbare von innen durch das Denkbare begrenzen.
4.115
Sie wird das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt.
4.116
Alles, was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles, was sich aussprechen lässt, lässt sich klar aussprechen.
6.5
Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen.
Das Rätsel gibt es nicht. Wenn sich eine Frage überhaupt stellen lässt, so kann sie auch beantwortet werden.
6.51
Skeptizismus ist nicht unwiderleglich, sondern offenbar unsinnig, wenn er bezweifeln will, wo nicht gefragt werden kann.
Denn Zweifel kann nur bestehen, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann.
(Deshalb bin ich mit ganzem Verstand Naturwissenschaftler).
4.11
Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissenschaft (oder die Gesamtheit der Naturwissenschaften).
NB: Wittgenstein gibt hier ein paar Einordnungen, die einige modische Debatten auf kategoriale Irrtümer zurückführen:
4.1121
Die Psychologie ist der Philosophie nicht verwandter als irgendeine andere Naturwissenschaft. (Heute könnte man Hirnforschung hinzufügen.)Erkenntnistheorie ist die Philosophie der Psychologie.
4.1122
Die Darwinsche Theorie hat mit der Philosophie nicht mehr zu schaffen als irgendeine andere Hypothese der Naturwissenschaft.
Übrigens bin ich durchaus nicht mit allen solchen Einordnungen einverstanden. So ist der Satz
6.2
Die Mathematik ist eine logische Methode sicher falsch. Das Programm der logischen Fundierung der Mathematik ist mathematisch gescheitert (freilich erst in den 30er Jahren. Auch von der Physik des 20. Jahrhunderts weiß Wittgenstein natürlich leider wenig).
Und jetzt kommt der argumentative Clou. Nachdem Wittgenstein aufgezeigt hat, wo die Grenze zwischen Sinn und Unsinn verläuft und einzig naturwissenschaftliche Sätze übrig blieben, zeigt er rein innerhalb von weltbezogenen, naturwissenschaftlichen Schlussfolgerungen auf, dass aus den gleichen Gründen die Selbstüberhebung der Naturwissenschaft als Weltanschauung naturwissenschaftlich falsch ist (was der logische Positivismus nicht rezipiert hat):
6.36
Wenn es ein Kausalitätsgesetz gäbe, so könnte es lauten: »Es gibt Naturgesetze«. Aber freilich kann man das nicht sagen: es zeigt sich.
6.361
In der Ausdrucksweise Hertz´ könnte man sagen: Nur gesetzmäßige Zusammenhänge sind denkbar.
6.371
Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, dass die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien.
6.372
So bleiben sie bei den Naturgesetzen als bei etwas Unantastbarem stehen, wie die Älteren bei Gott und dem Schicksal.
Und sie haben ja beide Recht, und Unrecht. Die Alten sind allerdings insofern klarer, als sie einen klaren Abschluss anerkennen, während es bei dem neuen System scheinen soll, als sei alles erklärt.
Vorsicht! Das ändert nichts daran, dass das Sagbare nur diesseits der Grenze liegt. Subjektivismus und Idealismus sind für Wittgenstein Unsinn:
5.1363
Wenn daraus, dass ein Satz uns einleuchtet, nicht folgt, dass er wahr ist, so ist das Einleuchten auch keine Rechtfertigung für unseren Glauben an seine Wahrheit.
6.373
Die Welt ist unabhängig von meinem Willen. (Aus meiner Sicht der wichtigste Satz im ganzen Buch: Quelle aller Demut und Grundlage aller Erkenntnis.)
Und nun auf der Zielgeraden kommt eine Paraphrase auf seinen Lieblingsphilosophen Augustinus:
6.41
Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles, wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert – und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muss er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. Denn alles Geschehen und So-Sein ist zufällig. Was es nichtzufällig macht, kann nicht in der Welt liegen, denn sonst wäre dies wieder zufällig. Es muss außerhalb der Welt liegen.
6.42
Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken.
6.421
Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen lässt. Die Ethik ist transzendental. (Ethik und Ästhetik sind Eins.)
6.423
Vom Willen als dem Träger des Ethischen kann nicht gesprochen werden. Und der Wille als Phänomen interessiert nur die Psychologie.
6.43
Wenn das gute oder böse Wollen die Welt ändert, so kann es nur die Grenzen der Welt ändern, nicht die Tatsachen; nicht das, was durch die Sprache ausgedrückt werden kann. Kurz, die Welt muss dann dadurch überhaupt eine andere werden. Sie muss sozusagen als Ganzes abnehmen oder zunehmen.
Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.
6.4311
…Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt. Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos ist.
6.4312
Die zeitliche Unsterblichkeit der Seele des Menschen, das heißt also ihr ewiges Fortleben auch nach dem Tode, ist nicht nur auf keine Weise verbürgt, sondern vor allem leistet diese Annahme gar nicht das, was man immer mit ihr erreichen wollte. Wird denn dadurch ein Rätsel gelöst, dass ich ewig fortlebe? Ist denn dieses ewige Leben dann nicht ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige? Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.
(Nicht Probleme der Naturwissenschaft sind ja zu lösen.)
6.432
Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt. (sondern durch die Welt!)
6.4321
Die Tatsachen gehören alle nur zur Aufgabe, nicht zur Lösung.
6.44
Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist.
Das ist selbst kein Satz der Mystik, die es ja gar nicht geben kann. Gleichwohl bewegen sich die folgenden Sätze an der Grenze des Sagbaren und es gilt für sie Wittgensteins Einschränkung aus Satz:
6.54
Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)
Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.
6.45
Die Anschauung der Welt sub specie aeterni ist ihre Anschauung als – begrenztes – Ganzes.
Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das mystische. (Das ist, wie gesagt, 1:1 spätantike und mittelalterliche creatio continua)
Und schließlich zu unserem Ausgangspunkt zurück:
6.52
Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.
6.521
Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.
(Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand?)
6.522
Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.
Wie Wittgenstein damit zum Urvater des logischen Positivismus werden konnte, ist erstaunlich und ein spannender geistesgeschichtlicher Prozess. Wenn er noch heute so subsummiert wird, liegt schlicht daran, dass er nicht gelesen wird.
Soviel als kurzer Durchgang.
Ihr
SG
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (1921)
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*Reinhold Urmetzer, “Über die Sinnfrage” (2011)
** Vgl. dazu meinen Blogbeitrag Nr. 45 (Vom Denken II – Über Eurozentrismus)

