95 Antwort an SG (Wittgenstein III)
Über Sinn
Ich zitiere und kommentiere vier Sätze von SG aus seinem letzten Blogbeitrag.
1 Mathematiker und Mystiker sind in der Person Wittgensteins nicht verschiedene Facetten eines Ganzen, sondern beides bildet eine Einheit im strengsten denkbaren Sinne.
Dass ein Mathematiker ein Mystiker sein kann, geht in meinem Denken durchaus zusammen. Siehe Pythagoras oder Platon, dessen Verflechtung von Mathematik und Welt der Ideen nur auf einer mystischen Ebene nachvollziehbar ist.
Ob beides nun eine „Einheit“ darstellt oder nur „Facetten“ sind einer gleichen Medaille, wage ich nicht zu beurteilen.
In meinem Denken bildet sich aus der Einheit die Vielheit, die selbst heterogene oder – wie in diesem Fall – sogar antithetische Elemente beinhalten kann. Aus der Zahl 1 entfalten sich nach Nikolaus von Kues alle Zahlen, selbst die negativen. Die Einheit, die alles entstehen lässt in Form von Begriffen, ist in seinem mittelalterlichen Denken der menschliche Geist. Dieser ist gleichwohl nur ein Abbild des platonisch gesehenen Urbildes, also der überzeitlichen Idee, also von Gott.
Gottes Geist lässt den menschlichen Geist entstehen, dieser die Begriffe, diese dann Kunst, Technik, Kultur…
2 Erkenntnisse der negativen Theologie sind relativ banal, da sie für jeden Gegenstand gelten
Auch dieser Satz stimmt, nur nicht der pejorativ abwertende Unterton. Banal ist es ganz gewiss nicht, dass wir das riesige Universum in und über uns, dieses metaphysische Mehrsein (immer wieder), wie ich es im Blogbeitrag Nr. 94 bezeichnet habe, nicht in seiner Totalität erfassen können, auch niemals erfassen werden. Dazu hat Blaise Pascal, ein Mathematiker und christlicher Philosoph des 17. Jahrhunderts, in seinen Pensées viele Beispiele geliefert. Hier ein Zitat:
Ich sehe diese furchtbaren Räume des Weltalls, die mich umschließen, und ich finde mich an einen Winkel dieser unermesslichen Ausdehnung gebunden, ohne zu wissen, warum ich gerade an diesen Ort gestellt bin und nicht an einen anderen, noch warum mir die kleine Zeitspanne, die mir zum Leben gegeben ist, gerade an diesem und nicht an einem anderen Ort der ganzen Ewigkeit zugeordnet ist: Der Ewigkeit, die mir vorauf gegangenen ist, und jene, die mir folgt.
Ich sehe auf allen Seiten nur Unendlichkeiten, die mich umschließen wie ein Atom und wie einen Schatten, der nur einen Augenblick dauert und nicht wiederkehrt. Alles, was ich weiß, ist, dass ich bald sterben muss, aber was ich am allerwenigsten kenne, ist dieser Tod selbst, dem ich nicht entgegen gehen kann.
Wie ich nicht weiß, woher ich komme, so weiß ich auch nicht, wohin ich gehe.
Tatsächlich lässt mich diese Unendlichkeit im Kleinen wie im Großen, im
Mikrokosmos wie im Makrokosmos staunen und erschrecken, zumal sie ja vom Menschen immer nur bruchstückartig erfasst werden kann selbst in seiner vielleicht auch unendlichen Zukunft.
Es gibt m.E. keinen Fortschritt in der Erkenntnis. Es gibt nur immer wieder andere Worte, Theorien und Geschichten (Lyotard spricht von “Erzählungen”) als schwache Hilfsmittel für unsere mentale und emotionale Hilflosigkeit und Ungewissheit. Worte und Texte, manchmal auch mit Zahlenreihen, die eine jede Zeit für sich erfindet und wieder verwirft. Auch im menschlichen Geist regieren Chaos, Vielfalt, Heterogenität, Unklarheit („Unsinn“?) und Ungewissheit.
Wittgensteins Sehnsucht und Suche nach wahrer Erkenntnis dieses Transzendentalen und Absoluten bleibt aber gleichwohl seit Menschengedenken die gleiche und sie bleibt immer wieder auch negativ und gerade nicht banal. Für mich ist sie sogar ausschlaggebend dafür, dass ich an Gott glaube.
3 Wittgenstein ist (fast) kein Mystiker in seiner Schrift, da er hier nur die Möglichkeit der Mystik offen hält. Er war es durch sein Leben. Es gibt keine mystische Erkenntnis.
Auch diesem Satz kann ich zustimmen, dass es keine “mystische Erkenntnis” gibt. Erkennen geht nur mit dem Verstand. Ein mystisches Leben “zeigt sich”, würde Wittgenstein sagen.
Pascal schreibt über die Vielfalt der Erkenntnis sinngemäß: das Herz hat eine Sprache, die der Verstand nicht spricht.
Wenn wir jetzt die Worte „Herz“, „Seele“, „Gott“ etc. metaphorisch verstehen wollen, deren Sinn dann vieldeutig sich aufzulösen vermag in ein Nichts als bloßes Konstrukt, rational gesprochen als ein Trugbild unserer Vernunft, um einigermaßen in dieser Welt bestehen zu können, dann sind wir wieder bei der Lehre, ich sage besser L e e r e des Existenzialismus.
Dass wir mit unserem Erkenntnisvermögen, was metaphysische Fragen betrifft, Fragen auch über Gott, Seele, Denken mit dem Herzen etc., dass unsere Lebensform nur immer wieder einem Ameisenhaufen gleich kommt (ich übertreibe), der zwar mittlerweile ins All expandieren kann (es gibt auch fliegende Ameisen), der sich selbst steuernde Maschinen erfindet und sogar Menschenimitationen wird klonen können, der aber die Unendlichkeit seiner Begrenztheit niemals wird erfassen, niemals wird übersteigen können.
Pascal spricht von Dimensionen. Dass ein Punkt nichts von einer Gerade, diese nichts von der Dreidimensionalität wissen könne etc.
Dies alles ist m. E. nicht banal, sondern existenziell – es berührt und betrifft uns Tag für Tag.
4 Deshalb bin ich mit ganzem Verstand Naturwissenschaftler.
Einverstanden. Ich nicht. Ich kann nicht einmal mehr einfache Kurvendiskussionen lösen, geschweige denn Vektoren-Gleichungen oder Ergebnisse der formalen Logik verstehen. Andererseits werden Sie wohl Ihre Schwierigkeiten mit Martin Heidegger oder Paul Celan haben.
Dennoch genieße ich die Annehmlichkeiten des täglichen Lebens, welche die Technik als ein Kind der Naturwissenschaften mir bereit stellt Tag für Tag und mir sogar hilft mein Leben zu verlängern. Auch wenn es im kriegerischen Nahen Osten mit Einsatz der Technik wieder anders aussieht.
Doch die vollen Eisschränke Saint-Exupérys (“Sehen Sie, man kann einfach nicht mehr von den vollen Eisschränken leben, man kann es nicht mehr”), Leben in Lust und Genuss, die zahlreichen Ablenkungs-und Unterhaltungsangebote, die Computer und Smartphones mit ihren neuen Mauern der Entfremdung, die sie aufbauen und die uns immer mehr voneinander trennen, sie genügen mir nicht mehr.
Wozu? Zum Glücklich-Sein? Zum sinnvollen Sprechen, zum sinnvollen Leben und Lieben? Zur Beantwortung all dieser Fragen? Welcher Fragen?