13 Über die Begegnung mit der Antike (I)
Ich bin gefragt worden, wie ich den Weg zu den antiken Schriftstellern gefunden habe, obgleich ich doch kein Historiker oder Altphilologe bin.
In einer Bibliothek ist mir vor vielen Jahren ein Cicero-Band in die Hände gefallen, die „Briefe an Atticus“[1]. Ich blätterte darin herum, neugierig geworden von etlichen Passagen, die so gar nicht meinem seit der Schulzeit gebildeten Vorurteil von den ach so langweiligen Lateinern entsprach. Ich entdeckte dort einen sehr menschlichen, sehr lebendigen und interessanten Zeitgenossen mit Vornamen Marcus Tullius, der sich in diesem Buch leidenschaftlich, detailliert und universal gebildet mit seinem besten Freund über tagespolitische, weltanschauliche und private Themen austauschte.
Etwa über den Besuch des erst 18jährigen Oktavian, dem späteren Kaiser Augustus, in seiner Villa am Meer in der Nähe des heutigen Neapel. Über die politische und auch literarische Rivalität mit dem herrschenden Konsul und Machthaber Gaius Julius Caesar, der ihn wieder gleich besuchen und wohl ein Vomitiv nehmen wird. Von der Erziehung seines Sohnes, seiner Tochter, von seiner neuen Frau, die doch noch so jung ist. Ob er sich wirklich diese teure Statue für den Garten in seiner Villa kaufen solle.
Er äußert sich über seine Arbeit als Konsul des riesigen Reiches, über seine Probleme als ein in der herrschenden Klasse nicht akzeptierter Immigrant, vielleicht auch „Quereinsteiger“, wie man heute sagen würde, der sich immer noch nicht von den alteingesessenen aristokratischen Familien Roms anerkannt fühlt. Über seine priesterlichen Aufgaben als Hoher Priester und Pontifex Maximus, über den jungen Freund Brutus und dessen “Anliegen”, das es zu unterstützen gelte (das sorgfältig geplante Caesar-Attentat ) und so fort bis zu seiner Flucht und Todesangst im Bürgerkrieg nach Cäsars Tod[2].
Immer wieder berichtet er auch von seinem Dolmetschversuch und seinen literarischen Werken, die das griechische Denken (heute würde man sagen das „klassische Denken“), die griechische Philosophie und Kultur in Rom und in der neuen Hauptstadt der Welt ankommen lassen, ja populär machen wollten.
Besonders nützlich bei dieser Lektüre waren mir auch die fachkundigen Anmerkungen des Herausgebers und Übersetzers Helmut Kasten, die den Zugang zur römischen Lebenswelt 50 Jahre vor der Zeitenwende nur noch spannender machten. Das war nun wirklich keine starre und über die Zeiten erhabene Marmor-Büste, die mich da von oben herab anblickte, sondern eher ein Mensch wie du und ich. Neugierig geworden interessierte ich mich jetzt auch etwas mehr für Ciceros philosophische Positionen[3]. Wo stand er, was waren seine literarischen und philosophischen Vorbilder, was wollte er in der Politik? Sein Talent im juristischen und politischen Tagesgeschäft, vor allem als Redner, war mir bekannt. Diese Texte hatten mich bislang wenig berührt – auch wenn mich (als ein den römischen Tricks und Idealen manchmal ebenfalls verpflichteter Redner) gerade die Verführungs-Technik mit einer öffentlichen Rede zu seiner Zeit nach und nach immer mehr interessierte.
Ist eine solche Rede wirklich eher „gesungen“ worden wie in einem schauspielerischen Akt, war sie eine Art Performance sozusagen? Was sollten die sogenannten „Lobreden“? In einer Massenveranstaltung, den heutigen Popkonzerten open air vergleichbar, hatte der rednerische „Star“ dem Willen des Publikums gemäß etwa zu beweisen, dass ein Floh nützlicher als ein Pferd, die blaue Farbe dort rot und die rote gelb sein könne und so fort[4]. Dann nahm ich mir den „Laelius – Über die Freundschaft” zur Hand, auch die nachdenklichen Reflexionen „De finibus bonorum et malorum“ – “Über die Grenzen im Guten und Bösen“ und schließlich doch den „Orator“.
Von Ciceros Werken ausgehend tastete ich mich langsam in Richtung der weiteren römischen Literatur vor, zuerst zu den Lyrikern Catull und Juvenal, dann zu Horaz. Ich entdeckte in den römischen Werken Verwandtschaften im Zustand der damaligen und gegenwärtigen Gesellschaft, um nicht zu sagen auch der Gesellschaftsformen, „Dekadenzen“, wie man so schön auch heute und vor allem in den USA beklagt. Es ging insbesondere bei Juvenal und Catull weniger um Politik oder Philosophie als um Leben, Liebe und Sex, Wohlleben und Leidenschaft, Essen, Krieg und so fort.
Jedenfalls war mir die römische Antike lange nicht mehr so fremd, wie ich geglaubt hatte – im Gegenteil. Imperialismus, Machtstreben, Unterdrückung und Ausbeutung armer Völker, Multi-Kulti, Orientierungslosigkeit und “Alles geht”, Luxus, Dekadenz – ich verstand jetzt plötzlich auch den so heftig geführten US-amerikanischen Diskurs über das „Wohlleben“ in Antike und Gegenwart. Man sprach und spricht in interessierten Kreisen vom „amerikanischen Imperium“, auch vom nach-amerikanischen Zeitalter („Postamerikanismus“), das nicht nur die Muslime gegenwärtig einläuten wollen – vergeblich, wie ich meine.
Systematisch durchforstete ich nun die ganze römische Literatur, um nur einige Werke zu nennen. Von den Briefen Ciceros, Plutarchs oder Plinius‘ über die zeitgenössische Lyrik, den Roman (Petronius), die Geschichtsschreibung (Tacitus) kam ich schließlich auch, ob ich wollte oder nicht, zu den philosophischen Schulen, die eine als Lebensform und moralische Instanz überaus wichtige und heute noch weitgehend unterschätzte Rolle im zeitgenössischen Leben der Römer und Griechen spielten. Auch unsere Gegenwart ist immer noch – ebenso wie der christliche, jüdische oder islamische Glaube – weitgehend von den Auseinandersetzungen in der damaligen Zeit geprägt.
Besonders der griechischsprachige Lukian (um 120 – nach 180) hatte mich fasziniert.
In seinem satirischen Werk „Verkauf der philosophischen Schulen“ war tatsächlich die gesamte Weltanschauung des römischen Reiches versammelt. Die Gründer dieser Schulen, allen voran Sokrates, Aristoteles, Heraklit, sie sollten als Sklaven auf dem Markt verkauft werden. Sie mussten sich und ihre Philosophie in wenigen Worten dem Käufer vorstellen – mit einem ironisch witzigen Kommentar Lukians schließlich verließen sie dann, meist erfolgreich an den Mann gebracht, wieder die Bühne ihrer Selbstdarstellung.
Selbst Hinweise auf eine ganz neue und „fundamentalistische Gruppe“[5], würden wir heute sagen, sind in Lukians Werk zu finden. Es geht um die Galiläer, später nannten sie sich Christen. Auch diese trieben mittlerweile ihr Unwesen in Rom und Athen. Direkte Vorläufer und Nachahmer ihrer Gallionsfigur Jesus Christus hat es im römischen Reich immer wieder gegeben. Die philosophischen oder weltanschaulichen Meister hatten ihre Schüler („Jünger“) meist eine lange Zeit um sich geschart, zogen mit ihnen durch die Lande, lehrten öffentlich und waren in aller Munde.
Bestes Beispiel vielleicht Pythagoras (400 – 320 v.Chr.) mit seiner bizarren Jüngergruppe, dem jahrelangen Schweigen, asketischen Verzicht und den mathematisch-musikalischen Übungen, deren Zusammenleben und Zusammenlernen in Kommunen sogar Platon stark beeindruckt hatte. Lukian persifliert in seinen “Peregrinus“- und “Alexander“-Texten eben solche selbst ernannten Heilsbringer, die mit ihren Wundern und Prophezeiungen scheinbar sehr erfolgreich im römischen Reich waren.
__________________________
[1] Cicero, Atticus-Briefe, Lateinisch-deutsch von Helmut Kasten (Heimeran-Verlag München 1980)
[2] Aus Rache wurde Cicero ebenso wie sein Bruder Quintus auf der Flucht von den Caesar-Anhängern erschlagen.
[3] Ich war gerade in einer bunt gemischten Künstlergruppe aktiv (darunter gelegentlich auch die Musiker Adriana Hölszky, Bernd Konrad, Carol Morgan oder Gerhard Koch von der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung”), die sich mit dem Thema „Postmoderne“ und der Reaktivierung der Vergangenheit intensiv auseinander setzte (vgl. Reinhold Urmetzer, Ästhetik Band 2 – Kunstbuch, 2002, )
[4] vgl. immer wieder das Thema “Isosthenie”- die Gleichwertigkeit von Argumenten
[5] Ich erspare mir an dieser Stelle die Auseinandersetzung mit der Übertragung des Wortes “Sekte” oder “Schule”. Selbst Christoph Wieland übersetzt noch „Sekte“, während heute „Sekte“ doch eher eingegrenzt und beschränkt bleibt auf einen religiösen Zusammenhang, der mit weltanschaulichen oder philosophischen Fragestellungen, die – wie im Falle der stoischen Schule – bis in die formale Logik reichen konnten, wenig zu tun hat.