14 Über die Begegnung mit der Antike (II)
14 Über die Begegnung mit der Antike (II)
Der reiche Römer der Oberschicht wollte sein wie auch immer gestaltetes „Wohlleben“ genießen. Dazu gehörte wesentlich, dass er gebildet sein sollte. Seine Kinder hatten mit ihren meist aus Griechenland stammenden Privatlehrern die beste Ausbildung, die man sich vorstellen kann und die selbst in unserer Gegenwart noch gültig bleibt. Schon zu Platons Zeiten sollten in der Erziehung drei wesentliche Bereiche abgedeckt werden: Die Naturforschung einschließlich Mathematik und Astronomie, die Literatur einschließlich Sprachen, Geschichte und Philosophie sowie die Kunst. Dazu gehörte auch die praktische Beschäftigung mit Musik sowie die Körperpflege einschließlich Ernährung und Sport[6].
Gebildet sein hieß aber auch, im öffentlichen politischen und „intellektuellen“ Leben mithalten zu können. Selbst Caesar hat in seiner Auseinandersetzung mit Cicero ein Buch über Sprachlogik veröffentlicht. Dieser auch für die konkrete Politik wichtige Diskurs spielte sich weitgehend in philosophischen Bildungsanstalten ab, die man gegen eine Gebühr besuchen konnte. Die berühmteste dieser Bildungsstätten war natürlich immer noch die Akademie in Athen. Gegründet von Platon persönlich in den Jahren zwischen 387 und 367 v.Chr. hatte sie ein buntes Auf und Ab erlebt. Schließlich wurde sie durch die Einrichtung von drei festen Lehrstühlen mit fachkompetenten Lehrern im Jahre 220 v.Chr. institutionalisiert. Endgültig aufgelöst wurde sie erst im Jahre 529 nach Chr. durch den Kaiser Justinian – immerhin eine fast tausendjährige Tradition.
Auch die innere Entwicklung dieser Institution und ihrer Lehrmeinungen ist interessant: Zuerst noch weitgehend der Übermittlung und Tradierung platonischer Gedanken verpflichtet, löste sie sich gleichwohl recht schnell – schon unter Arkesilaos (268 v.Chr.) – vom platonischen Dogma und neigte eher der skeptischen Schule zu, die gleichwohl keinen Lehrstuhl inne hatte und dennoch, wenn auch als Antithese zu anderen dogmatischen Schulen, im ganzen philosophischen Denken der Zeit sehr einflussreich war und blieb. Im spätrömischen Reich schließlich war die Akademie nur noch ein Hort des Zweifels und der Infragestellung. Unter Plotin durfte sie im 5.Jahrhundert n.Chr. noch einmal aufleuchten im Sinne ihrer alten platonischen und dogmatischen Tradition.
Gerade diese weltanschaulichen Schulen, wie sie von Lukian ironisch nur akzeptiert werden konnten und die allesamt hellenistischen Ursprungs waren, auch eine lange Tradition besaßen, beeindruckten mich sehr. Fand ich doch viele Fragestellungen, die heute – wenn vielfach auch in einer anderen Sprache – noch gültig sind, bereits dort abgehandelt und bis ins Kleinste durchdacht. Doch gerade diese Schriftsteller waren vergessen, auch sie, ihr Denken, ihre Provokationen, ihre Antworten.
Schließlich und endlich landete ich immer wieder auch bei den griechischen literarischen Quellen, die zwischen der „Achsenzeit“ (den Klassikern um 450 vor Christus) und dem spätrömischen Kaiserreich sich ausbreiten konnten, quasi auch das Fundament der griechisch-römischen Philosophie bildeten und mithin auch die einflussreichen Vorbilder Ciceros gewesen sein mögen. Insbesondere das zweibändige Werk „Leben und Meinungen berühmter Philosophen“ von Diogenes Laertius aus der zweiten Hälfte des nachchristlichen dritten Jahrhunderts hatte mich gepackt.[7] Erst vor wenigen Jahrzehnten, 1967, ist eine vollständige kritische Übersetzung des Werkes von Otto Apelt in Deutsch wieder erschienen. Es ist das einzige gut und fast vollständig erhaltene philosophiegeschichtliche Dokument aus der Antike. Selbst viele Werke des Aristoteles sind nur über arabische Übersetzungen im Abendland bekannt geworden und haben dann schlagartig die Diskussion im Mittelalter befruchtet bis auf den heutigen Tag.
Die Textsammlung, die von Diogenes Laertios zusammengestellt und weniger geschrieben worden ist – die meisten Texte sind von ihm nur abgeschrieben oder zitiert worden – ist ein seltsames Durcheinander von Biografien, Klatsch-und Tratschgeschichten, Gedichten, eingeschobenen Textzitaten und philosophischen Tiefgründeleien. Sie endet mit der Schule Epikurs – es ist das Zeitalter, in welchem der Autor lebte, auch wenn Diogenes sich eher der akademischen Schule zurechnete[8].
Ich entdeckte auch in dieser Literatur des Hellenismus, wie sie genannt wird, immer öfter Ideen und Gedanken des frühen Christentums mit all ihren einflussreichen und bis in die Gegenwart weiter wirkenden Folgen. Selbst die aktuelle und “ewige” Auseinandersetzung der römisch-katholischen Kirche mit der materialistischen oder freudianischen Orthodoxie – soll Geist oder Lust unser Leben bestimmen? – lässt sich in diesem Kontext immer wieder finden und je nach Schule beantworten. Materialisten sind für Lust und Genuss, die Freudianer wollen die Lust sublimieren in kreative Leistungen auch für das Wohl der Gesellschaft, während die katholische Kirche sich eher für den Geist einsetzt und die Lust nur zur Arterhaltung akzeptiert. Die Geist-Lust-Dichotomie bleibt zusammen mit der politischen Gesetzgebungs-Problematik: wie soll ein guter und gerechter Staat aufgebaut und geleitet werden, immer noch das führende geistige Thema unserer Zeit.
Auch wir befinden uns mit meinen Ausführungen und Erläuterungen weiterhin in der imaginären Akademie Platons. Sie lebt fort, nicht mehr als eine Institution des öffentlichen Diskurses, sondern unterschwellig und nur mühsamen anamnetischen Forschungen zugänglich. Auch viele von uns haben den Schritt von der dogmatischen Glaubenswahrheit (etwa des Christentums oder des Marxismus) zur skeptischen Waage vollzogen und vielleicht auch wieder zurück.
Sind nicht die Werke und Thesen Platons faszinierend, auch wenn sie überholt scheinen? Wollen wir nicht an überzeitliche Werte wie Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit glauben, selbst wenn diese Begriffe immer wieder in ihr Gegenteil zerfallen oder von windigen Neo-Sophisten relativiert werden können? – Wer oder was ist Gott? – Ist unser Staat gerecht? – Und kann der Begriff, die „Idee“ der Gerechtigkeit, ein Ende finden im menschlichen Denken, in der menschlichen Gesellschaft, jetzt, am Ende von Sprache, Denken und Schrift?
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Orientierungslosigkeit jedoch – zur Erinnerung,wir sind in der spätrömischen Welt um 200 nach Christus! – haben sich alle diese von den Philosophen so wohl begründeten Thesen und Spekulationen über Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit oder Gott aufgelöst. Sie sind ersetzt worden durch neue, auch “wissenschaftliche” Gegenbilder und durch ebenso mehr oder weniger überzeugende Gegenmeinungen, die sich in der allgemeinen philosophischen Auseinandersetzung gebildet haben.
Alles hat sich scheinbar in die Gleichwertigkeit der Argumente, Theorien und Hypothesen aufgelöst und eine große Ratlosigkeit hinterlassen. Die Fragen des Wohin und Wozu und Warum und Woher sind immer noch offen.
Vielleicht sind sie auch gar nicht lösbar.
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[6] Das heutige Bildungsideal scheint sich hingegen weniger ganzheitlich mehr auf die Spezial-Beherrschung bestimmter Techniken, etwa der Computer, der Sprachen, der Künste, der Mathematik etc. zu beschränken.
[7] Dieses Quellenbuch der antiken Philosophiegeschichte hat noch zwei weitere überlieferte Titel, die aber umständlicher zu lesen sind: „Leben und Meinungen derer, die sich in der Philosophie einen Namen gemacht haben“, und „Sammlung der Lehrmeinungen der einzelnen Schulen in Kürze“.